Die Machtdemonstration von McLaren in den Niederlanden liegt hinter uns. Für die letzte Station der diesjährigen Europatour hat sich die Formel 1 einen besonderen Höhepunkt aufgehoben: An diesem Wochenende fährt die Königsklasse wieder im legendären "Temple of Speed". Das Autodromo Nazionale Monza trägt diesen Namen nicht ohne Grund - für die Formel-1-Piloten ist es die ultimative Highspeed-Erfahrung. Kein Kurs im Rennkalender ist schneller: Nach der langen Geraden erreichen die Boliden hier einen Topspeed von bis zu 360 km/h. Doch wer gewinnt das Hochgeschwindigkeitsduell? Max Verstappen will nach der Heimspiel-Niederlage im WM-Kampf zurückschlagen. In den vergangenen fünf Grands Prix triumphierten McLaren und Mercedes. Doch in Monza wird einem anderen Team die Favoritenrolle zugeschrieben. Die Brennpunkte vor dem Großen Preis von Italien 2024.
1. Brennpunkt Strecke: High-Speed-Klassiker mit neuem Asphalt
Seit ihrer Premierensaison gastierte die Formel 1 jedes Jahr im königlichen Park von Monza - mit einer Ausnahme: 1980 musste der Italien-GP wegen Umbaumaßnahmen, die das Autodromo sicherer machen sollten, nach Imola ausweichen. Das Layout der 5,739 km langen Strecke hat sich seit der Premiere vor mehr als 70 Jahren dementsprechend leicht gewandelt: Die ikonischen Steilkurven von einst sind verschwunden. Doch die Grundform der Strecke blieb unberührt, ihre Charakteristik unverändert: Lediglich 11 Kurven verlangen den Fahrern präzises Bremen ab. Ansonsten ist in Monza Vollgas angesagt. 260 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit auf einer Runde sind an der Tagesordnung.

Für ihren Italien-Auftritt werden die Formel-1-Teams daher wohl auch in diesem Jahr mit einer speziellen Aero-Konfiguration anreisen. Wegen der langen High-Speed-Geraden setzen sie in Monza seit jeher auf besonders wenig Abtrieb. Minimaler Luftwiderstand, maximale Endgeschwindigkeit. Ein kompletter Kontrast zum kurvenreichen Circuit Zandvoort, wo die Autos viel Abtrieb benötigten. Wem gelingt der Umbau am besten? Außerdem wird in Monza das Feintuning zur Kunst: Die Teams müssen bei der Abstimmung ihrer Autos den perfekten Kompromiss zwischen Traktion am Kurvenausgang und Höchstgeschwindigkeit auf den Geraden finden.
Für den F1-Grand-Prix 2024 erstrahlt die Traditionsrennstrecke in neuem Glanz: Erstmals seit 1922 wurde der gesamte Kurs neuasphaltiert. Diese Änderung birgt eine gewisse Unsicherheit für die Teams, da die Auswirkungen schwer vorhersehbar sind. Überdies wurden die Randsteine in einigen Kurven verändert, was Fahrer und Fahrzeug noch mehr ans Limit treibt. Die Maßnahmen sind Teil eines umfangreichen Renovierungs- und Modernisierungsprozesses, der die Zukunft des Klassikers als Formel-1-Austragungsort sichern soll.
Wie üblich ist die Oberfläche des neuen Streckenbelags glatter und dunkler. Pirelli geht davon aus, dass die Streckentemperatur deshalb noch weiter in die Höhe schnellen wird als in der Vergangenheit. Während die italienische Sonne das ganze Wochenende vom Himmel knallen wird, könnte die Streckentemperatur durchaus die 50°C-Marke überschreiten. Laut Pirelli soll die neue Oberfläche jedoch auch mehr Grip bieten, was sowohl die Reifenleistung als auch das ideale Betriebstemperaturfenster beeinflussen wird. Neben der Formel 1 sorgen in Italien auch die Nachwuchsserien Formel 2 und Formel 3 sowie der Porsche Super Cup für ein reges Treiben auf der Strecke. Dementsprechend ist im Verlauf des Wochenendes eine starke Streckenentwicklung zu erwarten.
2. Brennpunkt Williams-Rookie: Franco Colapinto tritt in Monza zur Feuertaufe an
Apropos Formel 2: Für einen Nachwuchspiloten kommt an diesem Wochenende unverhofft der Aufstieg in die Königsklasse. Williams reicht es mit den kostspieligen Unfällen und den enttäuschenden Ergebnissen von Logan Sargeant. Der verheerende Crash im 3. Freien Training in den Niederlanden, bei dem Sargeant den FW46 inklusive Aerodynamik-Update zerstörte, war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Nun wird Franco Colapinto aus dem Williams-Nachwuchskader für den Rest der Saison ins Auto befördert.
"Einen Fahrer mitten in der Saison zu ersetzen, ist keine Entscheidung, die wir leichtfertig getroffen haben, aber wir glauben, dass dies Williams die besten Chancen gibt, um in der restlichen Saison um Punkte zu kämpfen", erklärte Teamchef James Vowles die Entscheidung.
Aber wie viel kann Franco Colapinto zusammen mit Alex Albon in den verbleibenden neun Saisonrennen tatsächlich noch ausrichten? Williams liegt in der WM-Wertung derzeit auf Rang neun. Im Alleingang holte Albon lediglich vier Zähler. An Alpine vorbeizuziehen wird trotz Upgrade eine harte Nuss, alle davor liegenden Teams sind praktisch außer Reichweite. In Zandvoort brachte Williams sein erstes große Upgrade-Paket dieser Saison, das gleich überzeugte. Doch nach Albons starkem Qualifying folgte die Ernüchterung: Unterboden illegal, Williams disqualifiziert. Im Rennen ging es für beide Piloten von hinten los. Das Ergebnis war für das britische Team eines zum Vergessen.
In Monza dreht sich für Williams alles darum, mit dem Umbruch neuen Mut zu schöpfen. Die aktualisierte Unterboden-Spezifikation, die am Samstag noch als illegal eingestuft wurde, war am Sonntag in Zandvoort dennoch im Einsatz. Williams scheint es gelungen zu sein, sie so anzupassen, dass sie den Vorgaben der FIA entspricht. Jetzt bleibt abzuwarten, ob die Mannschaft aus Grove in Italien weitere Updates im Gepäck haben wird und wie sich das neueste Update-Paket auf dem High-Speed-Kurs bewährt.
Für Franco Colapinto wird es entscheidend sein, sich schnell in der Königsklasse zu akklimatisieren. Denn alles ist eine Spur anspruchsvoller als in der Formel 2: Medienaufmerksamkeit, Zusammenarbeit mit dem Ingenieurs-Team, Fahrer-Niveau. Viel Eingewöhnungszeit bleibt Colapinto bei seinem Wechsel mitten in der Saison aber nicht. Einziger Vorteil: Der Autodromo Nazionale Monza ist ihm aus den Juniorklassen bestens bekannt. Sowohl 2022 als auch 2023 konnte er in der Formel 3 hier immerhin das Sprintrennen gewinnen. Zu hoch sollten die Erwartungen an den jungen Argentinier bei seinem ersten Formel-1-Rennen dennoch nicht gehängt werden. In der Formel-2-Meisterschaft war er Sechster, bevor er für die höhere Aufgabe abgezogen wurde. Colapinto ist sich der Herausforderung bewusst: "In der Mitte der Saison in die Formel 1 einzusteigen, wird eine enorme Lernkurve bedeuten."

3. Brennpunkt Mercedes: Kimi Antonelli am Steuer und Hoffnung auf Wiedergutmachung nach Zandvoort-Debakel
Auch Mercedes setzt beim Formel-1-Wochenende in Italien auf einen Rookie - wenn auch nur in FP1. Andrea Kimi Antonelli wird in der 60-minütigen Session am Freitag das Cockpit von George Russell übernehmen. Die Formel-1-Welt sieht darin einen klaren Fingerzeig für das Fahrer-Lineup der Silberpfeile 2025. Steht die offizielle Bestätigung des Mercedes-Juwels für die kommende Saison kurz bevor? Für Antonelli ist der Trainingseinsatz vor heimischem Publikum jedenfalls eine schöne Gelegenheit. Sollte danach die Fahrerbekanntgabe erfolgen, würde es sein Wochenende perfekt machen.
Davon abgesehen liegen hinter dem Team aus Brackley und Brixworth arbeitsreiche Tage, wenn sie nach Monza kommen. Denn das Rennen in Zandvoort lief ganz und gar nicht gemäß den eigenen Erwartungen. Sechs Mal in Serie stand mindestens ein Mercedes-Pilot vor der Sommerpause auf dem Podium. Mit dem Großen Preis der Niederlande ist die Serie jetzt gerissen. Mercedes war hinterher nicht nur bestürzt, sondern auch ratlos über den Rückschritt. Fehlersuche in den Daten stand auf dem Plan.
Die Fahrer hofften auf einen streckenspezifischen Ausrutscher in Zandvoort. Jetzt wollen sie beim Großen Preis von Italien zurückschlagen. Doch der neue Asphalt könnte ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Der W15 ist besonders anfällig für Reifenüberhitzung bei heißen Bedingungen. Bei den Temperaturen, die für Monza vorhergesagt sind, könnte es schwierig für Lewis Hamilton und George Russell werden, die Reifen im optimalen Betriebsfenster zu halten. Können sich die Silberpfeile trotzdem stark zurückmelden?
4. Brennpunkt Ferrari: Wird die Scuderia mit dem Monza-Upgrade ihrer Favoritenrolle gerecht?
Der direkte WM-Konkurrent Ferrari kommt nach dem Aufwärtstrend beim Rennen in Zandvoort mit guter Laune zum Heimspiel. Um die Massen der jubelnden Tifosi glücklich zu machen, möchten sie auf der überraschend starken Performance aufbauen. Gut, dass mit Monza, Baku und Singapur drei Strecken bevorstehen, auf denen der SF-24 mutmaßlich seine Stärken ausspielen kann. Fernando Alonso hat seinem Ex-Team bereits die Favoritenrolle für die anstehenden Rennen, insbesondere Monza und Singapur, zugeschrieben. Hinzu kommt die Ankündigung eines weiteren Upgrades für das Italien-Wochenende. Die Zeit der gescheiterten Experimente soll vorbei sein. Fred Vasseur, Charles Leclerc und Carlos Sainz erhoffen sich von den neuen Teilen direkt einen weiteren Performance-Schritt nach vorne.
Der Spanier dürfte zudem mit besonders guten Erinnerungen im Gepäck nach Monza reisen. Letztes Jahr holte er sich hier die Pole-Position und triumphierte dann über seinen Teamkollegen im Schlussduell um den letzten Platz auf dem Siegerpodest. Ferrari will 2024 den italienischen Fans wieder einen Grund zum Jubeln geben. Kann Sainz noch eins draufsetzen und macht er sich am Sonntag mit einem Rennsieg selbst das größte Geburtstagsgeschenk?
5. Brennpunkt Titelkampf: Machtwechsel in der Formel 1
Die Duellanten an der Spitze der Weltmeisterschaftswertung werden wohl etwas dagegen haben. Lando Norris konnte mit dem Sieg in Zandvoort den Vorsprung von Max Verstappen auf 70 Punkte verkleinern. McLaren liegt in der Konstrukteurs-WM sogar nur noch 30 Punkte hinter Red Bull. Jetzt kündigte Zak Brown nach den großen Update-Paketen in Miami und den Niederlanden, die sofort einschlugen und Norris seine ersten beiden Grand-Prix-Siege bescherten, auch noch weitere High-Speed-Upgrades für den Italien-GP an. Christian Horner erkannte bereits: "McLaren ist die neue Messlatte."
Verstappen wartet bereits mehr als zwei Monate auf seinen 62. Sieg in der Formel 1. Die nunmehr fünf Rennen seit Barcelona wurden entweder von McLaren oder Mercedes gewonnen. Kein Wunder also, dass die Stimmung bei Red Bull immer wieder neue Tiefpunkte erreicht. Papa Verstappen übt harsche Kritik: Der RB20 werde in die falsche Richtung entwickelt und die Abgänge im Team - insbesondere Adrian Newey - hätten schon jetzt spürbare Folgen.
McLaren hingegen merzt die Schwachstellen, die sie auf dem Weg zum Sieg oft noch behinderten (siehe Silverstone), nach und nach aus. Und jetzt, für die verbleibenden neun Rennen, darf sich Norris außerdem des Status als Nummer 1 im Team gewiss sein. Sollte er im WM-Kampf Unterstützung benötigen, wurde ihm die volle Rückendeckung von Oscar Piastri und dem gesamten Team zugesichert.
Das Pendel schlägt immer mehr in Richtung McLaren aus. Wenn sich die Schwächen des Teams aus Milton Keynes verschärfen und das Team aus Woking gleichzeitig alles perfekt zusammenbringt, könnten die Papayafarbenen sogar schon an diesem Wochenende in der Konstrukteurs-WM am amtierenden Weltmeister vorbeiziehen. Wird es Red Bull in Monza gelingen, die Kontrolle zurückzuerlangen und das Pendel wieder in die eigene Richtung ausschlagen zu lassen?
Lando Norris kann dieses Jahr noch Weltmeister werden, meint Christian Danner. Im neuen 'AvD Motorsport-Magazin' beleuchten wir mit unserem Formel-1-Experten die wichtigsten Fragen nach dem Niederlande-GP:
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