Der Automobil-Weltverband FIA hat seinen Formel-1-Rennleiter an die Luft gesetzt. Und das Fahrerlager fragt sich: Warum? Mit einer Absetzung drei Rennen vor Schluss hatte eigentlich niemand gerechnet. Es ist die nächste Runde in einem Chaos rund um die F1-Rennleitung, welches seit bald sechs Jahren anhält und einer Lösung nicht nahe zu kommen scheint. Sicher, es gab in diesem Zeitraum viel Kritik an der FIA. Aber jetzt Missstände auf den Rennleiter abzuladen ist nicht einmal ansatzweise die ganze Geschichte.
Es beginnt damit, dass Missverständnisse um die genauen Aufgaben des Rennleiters in der Formel-1-Öffentlichkeit leider die Regel sind, nicht die Ausnahme. Viel davon geht auf die Sprache zurück. "Die FIA" wird als Synonym für alles gebraucht, was Regeln betrifft. Alle tun das. "Die FIA" spricht Strafen aus. "Die FIA" schickt Safety Cars raus. "Die FIA" schreibt Überhol-Regeln. Zu oft geht unter, dass es völlig unterschiedliche Einheiten sind, die unter dem Schirm der FIA etwa diese drei Aspekte behandeln. Mehr zu der Aufgabenteilung gibt es hier:
Der Rennleiter ist gerne das Bauernopfer, dem alles angelastet wird, was am Wochenende passiert. Aber mit Strafen oder Überholregeln hat er beispielsweise nichts zu tun. Er überwacht primär den reibungslosen verfahrenstechnischen Ablauf. Wenn er Verdächtiges sieht, meldet er es unabhängigen Stewards, die Ermittlungen einleiten. Er selbst sagt höchstens in Ausnahmefällen als Zeuge aus.
Was ein F1-Rennleiter wirklich tut - und warum es zu viel war
In der Theorie sorgt der F1-Rennleiter für den reibungslosen Ablauf des Wochenendes. In der Praxis hat sich das, was die Person abseits der Rennleiter-Tätigkeit tut, stark gewandelt. Schlüsselmoment war 1997 die Beförderung von Charlie Whiting in die Rolle. Für Whiting war der Job eine Lebensaufgabe. In 22 Jahren erweiterte er seinen Aufgabenbereich um das, was hinzupasste. Sicherheitsdelegierter, Streckenabnahmen, Leiter der Monoposto-Operationen.
Ein Nachfolger muss für die Übernahme so einer organisch gewachsenen Position lang vorbereitet werden. Das war der Formel 1 nicht vergönnt: Kurz vor dem Saisonstart 2019 starb Whiting unerwartet. Sein noch wenig erfahrener Stellvertreter Michael Masi wurde also nicht nur Rennleiter. Er bekam erzwungenermaßen viel aufgebürdet, was Whiting nebenbei tat. Rückblickend war das unrealistisch.
Leider eben erst rückblickend, nachdem Masi unter dem Druck einer brutalen Saison 2021 zerbrochen war. Die Formel-1-Teams kamen ihm nicht entgegen: Es war ein harter WM-Kampf, und Druck auf den Rennleiter auszuüben, um Vorteile zu erzielen, war von einem Wettbewerbs-Standpunkt gesehen viel sinnvoller als dem Rennleiter helfend entgegenzukommen.
F1-Rennleiter als Unterhaltungs-Figur: Ein großer Fehler
Masi wurde von einem perfekten Sturm weggewaschen. Ausgerechnet in dieser Saison begann die F1-Regie nämlich regelmäßig den Funk zwischen ihm und den Teams in die TV-Übertragung einzuspeisen. Eigentlich sind diese Funksprüche wichtig, um Informationen von Teammanagern zu erhalten. Etwa ob ein verunfalltes Auto weiterfahren kann. Oder um Teams über diverse offizielle Aspekte zu informieren.
Nun verschlimmerten medienversierte Teamchefs die Lage. Sie drückten statt ihren Teammanagern den Funk-Knopf. Wohl wissend, dass die F1-Regie mithörte und polemische Ansagen im TV bringen würde. Nach Abu Dhabi 2021 räumten die Teams reuig ein, dass es dumm war, es überhaupt so weit kommen zu lassen. Alle Beteiligten waren sich einig, den Rennleitungs-Funk 2022 nicht mehr ans TV zu liefern und Teamchefs davon fernzuhalten.
Mit dem Funk verschwanden auch sonntägliche Presserunden. Auch die hatten nicht geholfen: Allzu oft wurden Fragen zu Strafen gestellt, die Masi (und davor Whiting) nach bestem Gewissen beantworteten, obwohl es nicht ihre Zuständigkeit gewesen war. Der das Regelbuch in- und auswendig kennende Whiting zog sich mit seinen Antworten oftmals eloquenter aus der Affäre als Masi. Mit dem Ende dieser Presserunden schützte die FIA ihren Rennleiter. Durchaus sinnvoll.
Rennleitungs-Neustart nach Masi: Ein Personal-Karussell
Masis Ende war nicht völlig klar. Mehrere Fahrer und Teams meldete Zweifel an, ob die Ersetzung durch jemanden mit noch weniger Erfahrung eine gute Idee wäre. Dennoch war Masi politisch kaum mehr tragbar, spätestens nachdem die FIA-Untersuchung zu Abu Dhabi 2021 von "menschlichen Fehlern" sprach. Die Bemühung war danach durchaus da, das Arbeitspensum der Neuankömmlinge Niels Wittich (davor DTM-Rennleiter) und Eduardo Freitas (davor WEC) zu reduzieren.
Die Rollen der FIA-Einsitzer-Leitung oder die des Sportdirektors wurden auf zusätzliche Personen verteilt. So der Plan. Der ging nur bedingt auf. Der Sportdirektor ist ein reines Karussell. Dessen Aufgabenbereich wäre es, etwa die Ausformulierung von Regeln abzunehmen. Innerhalb von nur drei Jahren bekleideten aber Francois Sicard, Steve Nielsen und jetzt Tim Malyon den Posten. Mehr zum personellen Problem gibt es hier:
Auch das Experiment der Rennleiter-Teilung mit abwechselnden Wochenenden für Wittich und Freitas ging schief. Dass Freitas nebenher zugleich weiter die Sportwagen-WM leitete, half nicht. In den Abläufen der Wochenenden tauchten mehrere Flüchtigkeitsfehler auf. Freitas' Schicksal war durch das Regenrennen von Japan 2022 besiegelt. Start bei grenzwertigen Bedingungen, dann ein Bergefahrzeug unter Safety Car auf der Strecke. Danach machte Wittich alleine weiter.
Unbeliebt? Niels Wittich musste in der Formel 1 der Böse sein
Ein Vollzeit-Job für Wittich war im Interesse aller Teams und Fahrer. Es brachte Ruhe in die Rennleitung, Berechenbarkeit in die Entscheidungen. Aber halt: War es wirklich Ruhe? 2022 provozierte die Rennleitung mit neuen Ansagen zu Regelauslegung. Gab es früher viel Nachsichtigkeit, so kam jetzt Order, nach Abu Dhabi damit aufzuräumen und sicherzustellen, dass alles vollauf dem Reglement entsprach.
Das beinhaltete nicht nur das Ende von durchmischten Auslegungen von Track Limits - seit Wittichs Dienstantritt gilt nur die weiße Linie, und jede andere Runde wird gestrichen. Wittich fiel aber auch die Aufgabe zu, andernorts Druck zu machen. Er gab die Richtung vor, wenn es darum ging, keinen Schmuck und nur mehr spezifische Unterwäsche im Auto zu erlauben.
Machte ihn das im Fahrerlager so unpopulär, wie wiederholte Kritik vor allem durch die Fahrer implizierte? Eigentlich nicht. Die Bitten nach null Toleranz kamen auch von den Teams, um das von Abu Dhabi 2021 angeschlagene Image der Formel 1 zu richten. Wittich bemühte sich nach Kräften, aufbrandende Problemherde wie Track Limits und Qualifying-Bummelzüge mit harten Regeln auszuhebeln. Dass diese Probleme schwer zu lösen sind ist kaum allein seine Schuld. So ist die zur Unterstützung angeregte "Remote Race Control" etwa noch immer im Aufbau begriffen. Die Track-Limit-Krise wurde aber 2024 relativ zum desaströsen Österreich-Wochenende 2023 bereits deutlich verbessert.
Anderes wurde von ganz oben in der FIA angeregt. Als die Fahrer sich vor wenigen Tagen gegen die harte Linie bei Schmuck, Unterwäsche und Schimpfwörter beschwerten, nannten sie explizit in einem Statement FIA-Präsident Mohammed Ben Sulayem. Wittich kam bei dem Thema nie vor. Ben Sulayems 2023 geleistetes Versprechen, sich aus dem F1-Tagesgeschäft herauszuhalten, scheint kaum gehalten zu haben.
Formel-1-Rennleitung mit Sicherheits-Problem?
Wittich steckte dennoch auch an anderen Stellen Kritik ein. Nicht zuletzt in Baku und Brasilien, als bei Unfällen Safety Car beziehungsweise rote Flaggen sehr spät kamen. Und ja, es ist recht schwierig, den Entscheidungsprozess zu erklären, wenn ein Auto über eine Runde lang neben der Strecke steht und der Fahrer sogar schon aussteigt, ehe ein Virtuelles Safety Car ausgerufen wird.
Die einzelnen Fälle sind jedoch immer schwer zu betrachten. So wurde das Qualifying in Brasilien mehrmals abgebrochen. Warum es nur beim Unfall von Lance Stroll so lange dauerte, wird bei einem Blick auf die Onboard klar: Stroll versuchte das Auto noch einmal in Gang zu setzen. Im weiteren Kontext der Tatsache, dass Q2 fast vorbei war, bestand also die Hoffnung, möglichst vielen Fahrern noch eine Chance auf die letzte Runde zu geben.
Unter dem Strich sind solche Abbrüche immer komplexer als sie von außen scheinen. Klar, das Sicherheitsthema ist auch ein ernstes. Aber niemand schien hier ernsthaft mit Wittich anzuecken. Und mit jedem Jahr wuchs er weiter in die Rolle hinein. Obendrauf war er jemand, der unter dem Druck der F1-Teams auch zu bestehen vermochte. Jetzt muss der Nächste neu anfangen.
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