Renntage gelten dem Motorsportfan als Feiertage. Und ist die Messe in Form des Grand Prix erst einmal gelesen, folgen die Medientermine der Fahrer und liefern uns in der MotoGP in den vergangenen Jahren ein Thema so sicher wie das Amen im Gebet: Reifendruck, Reifentemperatur, Reifenstrafen. Fahrer, Fans und auch wir Journalisten sind gleichermaßen genervt von der Diskussion um die Michelin-Pneus. Diese ist aber unvermeidlich, schließlich zählen die Gummis und ihre Performance zu den bedeutendsten Faktoren im Motorradrennsport. Funktioniert das Zusammenspiel zwischen Fahrer, Bike und Reifen, sind die Erfolgschancen groß. Unangenehm wird es allerdings, wenn eine Komponente in dieser Dreiecksbeziehung versagt - und in der aktuellen MotoGP-Ära sind das eben oft die Reifen.
Einheitslieferant Michelin stand deshalb in den vergangenen Jahren immer wieder in der Kritik. Vor allem die Vorderreifen können den Belastungen der mit extremen aerodynamischen Anbauten und Ride-Height-Devices ausgestatteten modernen MotoGP-Bikes kaum standhalten. Extreme Reifentemperaturen sind die Folge, was zu erhöhtem Reifendruck und im Endeffekt beinahe unkontrollierbaren Motorrädern führt. Nicht nur mühsam für die Piloten und ihre Teams, sondern auch für die Fans an der Rennstrecke oder vor den TV-Geräten. Denn knappes Hinterherfahren und somit auch viele Überholmanöver sind durch die Reifenprobleme kaum mehr möglich. Die Fahrer sind gezwungen, Abstand zu ihren Vordermännern zu halten, um ihre Pneus ausreichend zu kühlen. Racing-Ambitionen der Aktiven werden so meist im Keim erstickt.
Michelin testet 2025er-Vorderreifen erstmals in Misano
Die Kritik an Michelin ist daher verständlich, aber nicht unbedingt gerechtfertigt. Wie Michelin-Motorsportchef Piero Taramasso nach einer regelrechten Anfeindungswelle im Vorjahr richtig feststellte, ist es in einer Klasse mit Einheitsreifenlieferant die Aufgabe der Motorradbauer, ihre Maschinen so zu konstruieren, dass sie mit den Pneus harmonieren. Das ist in der MotoGP nicht passiert. Stattdessen erhöhen die Werke die Belastung auf die Reifen ständig. Ein Trend, der auch in den kommenden beiden Jahren anhalten wird, ehe 2027 mit einem neuen Reglement entgegengesteuert wird. Ride-Height-Devices werden verboten und die Aerodynamik massiv beschnitten. Bis dahin bleibt im Motorradbau der MotoGP aber alles wie gehabt. Eine weitere Überlastung der Reifen ist die logische Folge. Bei Michelin schien man in den vergangenen Monaten allerdings genug von der Opferrolle zu haben. Die Firma aus dem französischen Clermont-Ferrand arbeitete auf Hochtouren an einer Lösung der Probleme.
Ein erstes Ergebnis dieser Anstrengungen gab es im Rahmen des Montagstests nach dem ersten Rennwochenende 2024 in Misano zu sehen. Michelin brachte neue Vorderreifen an die italienische Adriaküste, die über ein verändertes Profil im Vergleich zu den bisherigen Modellen verfügen. So wird mehr Volumen generiert, was zu weniger Druckproblemen führen soll. Ein klares Sicherheitsplus also, das auch mit besserem Racing einhergehen sollte. Die MotoGP-Piloten bekamen am Test-Montag in Misano eine erste Kostprobe dieser Michelin-Slicks. Eine halbstündige Session wurde ausschließlich für den Test der neuen Reifen reserviert und die Fahrer verpflichtet, diese auch einzusetzen. Die gefahrenen Rundenzeiten waren durchaus ansprechend: Jorge Martin war schnellster Mann auf dem ungewohnten Material und kam innerhalb der verfügbaren 30 Minuten in 1:31.226 Minuten auf sechs Zehntelsekunden an die Tagesbestzeit von Francesco Bagnaia heran.
"Die Mehrheit der Fahrer mag den neuen Reifen", stellte Michelin-Motorsportchef Piero Taramasso zufrieden fest. "Sie brauchten zwei bis drei Runden, um sich an das Gefühl zu gewöhnen, denn das Handling dieses Modells ist ganz anders. Dann konnten sie aber immer mehr pushen und haben uns schließlich mitgeteilt, dass das Grip-Niveau gut ist und der Reifen auch gutes Feedback und viel Stabilität bietet, vor allem in schnellen Kurven. Natürlich ist dieses Modell noch nicht perfekt und wir müssen noch einige Anpassungen machen, so dass der Reifen auch für alle Fahrer und Hersteller gut funktioniert, aber die Basis ist gut. Wir sind sehr zu zufrieden."

Einzig Francesco Bagnaia von neuem Michelin-Reifen begeistert
Die Charakteristik des neuen Vorderreifens beschrieben alle Piloten sehr ähnlich. Durch das veränderte Profil bietet er mehr Bodenhaftung beim Anbremsen auf den Geraden. Schwierigkeiten bereitet er den Fahrern lediglich beim Einlenken in die Kurven. "Dieser Vorderreifen ist eine große Veränderung", erklärte MotoGP-Superstar Marc Marquez nach dem Erstkontakt. "In den ersten Runden hat es sich sehr eigenartig angefühlt, aber dann habe ich mehr Vertrauen aufgebaut und da war die Stabilität super, aber ich glaube, dass Michelin noch an der Agilität arbeiten muss. Das Motorrad wird mit diesem Reifen träger und das macht Richtungswechsel schwieriger." Ganz ähnlich fiel die Analyse von vielen anderen Piloten aus, etwa Marco Bezzecchi: "Das Anbremsen auf den Geraden funktioniert sehr gut. Der Reifen hat mehr Auflagefläche, wodurch du härter bremsen kannst. Durch das flachere Profil ist es aber schwieriger, das Motorrad in Schräglage zu bringen." Besonders kritisch zeigte sich Pedro Acosta, der als einziger Rookie der Saison 2024 am wenigsten Erfahrung mit den Michelin-Gummis vorzuweisen hatte. "Ehrlich gesagt mag ich diesen Reifen überhaupt nicht", stellte er fest. "Beim Anbremsen hat es sich angefühlt, als hätte mir jemand Handschellen angelegt."
Ein Fahrer verspürte allerdings keine Anpassungsschwierigkeiten an das neue Material. Weltmeister Francesco Bagnaia trug bei seiner Analyse ein dickes Grinsen auf den Lippen: "Ich liebe diesen Reifen. Er ist genau das, was ich brauche. Er gibt mir auf der Bremse viel Grip. Ich kann ihn richtig belasten. Unsere aktuellen Reifen kollabieren unter der Last, aber mit dem neuen Modell haben wir da noch viel Spielraum. Für mich ist es der größte Sprung im Reifenbereich in den vergangenen Jahren." Angesprochen darauf, dass alle anderen Fahrer über gewisse Probleme geklagt hatten, zeigte sich Bagnaia überrascht. "Ach ja? Dann hoffe ich, dass der Reifen schnellstmöglich kommt."

Michelin muss Reifen-Einführung auf 2026 verschieben
Doch Bagnaias Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen. Michelin hatte ein Debüt der Neuentwicklung für 2025 angepeilt. "Wir müssen jetzt all die gesammelten Daten analysieren und dann sehen, was möglich ist", erklärte Motorsportchef Taramasso nach dem Misano-Test. "Wir haben nicht viel Zeit." Tatsächlich hatte Michelin zu wenig Zeit für eine Einführung in der Saison 2025. Anderthalb Wochen nach dem Misano-Test musste Motorsportchef Taramasso dem MotoGP-Paddock eine ernüchternde Botschaft überbringen: "Wir haben alle Daten sowie das Feedback der Fahrer ausgewertet und sind zu dem Entschluss gekommen, die Einführung des neuen Vorderreifens um eine Saison nach hinten zu verschieben. Es sind noch einige Anpassungen von unserer Seite nötig. Sind diese erledigt, wird das überarbeitete Modell bei den Wintertestfahrten in Valencia, Sepang und Buriram sowie den Montagstests während der Saison 2025 zum Einsatz kommen. Die Hersteller, Teams und Fahrer werden Zeit brauchen, um sich an die neuen Reifen anzupassen, denn sie unterscheiden sich massiv von den bisherigen Modellen - im Hinblick auf den Fertigungsprozess, die Karkasse, das Profil und auch das Gewicht. Der neue Reifen ist ein Kilogramm leichter, was 20 Prozent des bisherigen Gewichts entspricht."
Hat Michelin also in der Entwicklung des neuen Reifens versagt, was für die verspätete Einführung und ein weiteres Jahr mit schlechtem MotoGP-Racing sorgt? So einfach ist die Angelegenheit nicht. Der Erstkontakt der Fahrer mit dem neuen Front-Slick war eigentlich bereits für den Montagstest Anfang Juni in Mugello geplant, doch starker Regen machte eine Erprobung des neuen Reifenmaterials unmöglich. Der Misano-Test Anfang September kam schließlich zu spät, um die nötigen Änderungen für 2025 umzusetzen und gleichzeitig allen Beteiligten genug Zeit für Anpassungen an Fahrstil und Motorradsetup zu geben. Ein Problem, das Michelin allerdings bereits antizipiert hatte. Nach dem ins Wasser gefallenen Mugello-Test hatte der Einheitslieferant um einen eigenen, voll auf die Arbeit an den Reifen ausgelegten Testtag gebeten. Dieser wurde allerdings von den Teams mit der Begründung abgelehnt, dass der MotoGP-Rennkalender im Jahr 2024 bereits zu voll und ein eigener Reifentest deshalb nicht unterzubringen sei. 22 Rennwochenenden waren in dieser Saison ja geplant, nach den Absagen in Argentinien, Kasachstan sowie Indien und einem zweiten Misano-Rennwochenende als Ersatz blieben 20 übrig. Hinzu kommen die drei Montagstests in Jerez, Mugello und Misano. Die japanischen Hersteller von Yamaha und Honda spulen außerdem eine Vielzahl an Privattests ab - das steht ihnen durch die ausgebliebenen Erfolge in den vergangenen Jahren und das für 2024 überarbeitete Concessions-Reglement zu.
Teams und Dorna verhindert Reifentests
Hier zeigt sich ein Versagen der MotoGP-Machthaber auf mehreren Ebenen: Promoter Dorna blähte den Rennkalender in der jüngsten Vergangenheit kontinuierlich auf. Mehr Rennen bedeuten größere Aufmerksamkeit und somit höhere Einnahmen - so die einfache Rechnung. In dieser Gleichung fehlt allerdings eine wichtige Komponente: Die Attraktivität des gezeigten Produkts. Sorgt ein überfüllter Rennkalender dafür, dass sich dem Spektakel auf der Strecke zuträgliche Neuerungen verzögern, hat keiner der Beteiligten gewonnen.
Doch selbst mit den prallgefüllten Terminplanern der Teams hätten die MotoGP-Bosse Möglichkeiten finden können, um Michelin die Weiterentwicklung seines neuen Vorderreifens zu erleichtern. In der Formel 1 etwa ist es gang und gäbe, dass Trainingssitzungen an den Rennwochenenden zur Erprobung neuer Reifen von Lieferant Pirelli genutzt werden. Die Sessions werden dann verlängert und die Teams bekommen einen fixen Arbeitsplan vorgelegt, den es abzuarbeiten gilt. Zugegeben: Der MotoGP-Zeitplan bietet normalerweise lediglich 135 Minuten Trainingszeit an einem Rennwochenende, wovon 60 Minuten am Freitagnachmittag bereits über den direkten Einzug in das finale Qualifying-Segment Q2 entscheiden. Die Formel 1 hat es hier mit drei Stunden deutlich einfacher. Doch wo ein Wille wäre, gäbe es auch einen Weg.

Stattdessen hangelt sich die MotoGP nun eben von Testtag zu Testtag voran. "Vielleicht können wir an jedem Tag eine Stunde für die Arbeit an den Reifen reservieren", hofft Taramasso. Bei einem Tag in Barcelona, drei in Sepang, zwei in Buriram sowie je ein Montagstests im Laufe der Saison 2025 in Jerez, Aragon und Misano würde das neun Stunden Testzeit für Michelin bedeuten. Das sollte genügen, um den neuen Slick 2026 endlich im Rennbetrieb zu sehen. Dieser wird dann zur endgültigen Härteprüfung werden. Denn bei Testfahrten lässt sich lediglich Performance und Langlebigkeit der Pneus testen. Das aber sind Faktoren, die für die MotoGP nicht entscheidend sind. Die aktuellen Reifen bieten mehr als genügend Grip und pulverisieren Rennwochenende für Rennwochenende Rekorde. Extreme Topspeeds in Verbindung mit nie zuvor erreichter Bodenhaftung bringen die Fahrer jetzt schon an ihre körperlichen Grenzen. Und dieser Trend wird sich mit dem stabilen Reglement bis Ende der Saison 2026 weiter fortsetzen. Schneller muss die MotoGP also sicher nicht mehr werden.
Und auch in Sachen Haltbarkeit der Reifen hat die Klasse kein Problem. Ja, das Verwalten des schwarzen Goldes ist in fast allen Rennen nötig, doch das war in der Geschichte der MotoGP nie anders und ist schlicht Teil des Sports. Worum es geht, ist eine bessere Performance der Vorderreifen beim Fahren in einer Gruppe. Dieses lässt sich bei Testfahrten aber kaum simulieren. Denn wenn es eine Konstellation in solchen Situationen gibt, die Fahrer und Hersteller fürchten wie der Teufel das Weihwasser, dann sind es Konkurrenten, die sich an ihr Hinterrad heften. Mit einer Bitte nach orchestriertem Fahren im Pulk würde Michelin also garantiert ebenso gnadenlos abblitzen, wie mit jener nach einem eigenen Reifentesttag. Die Stunde der Wahrheit für den einstiegen Racing-Branchenprimus MotoGP schlägt also erst beim Saisonstart 2026.
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