Die Startaufstellung für das Rennen heute in Kanada könnte brisanter kaum sein. George Russell will seine erste Pole des Jahres gleich in einen Sieg ummünzen - aber ausgerechnet sein Unfallgegner von vor zwei Wochen, Max Verstappen, steht neben ihm. Und WM-Leader Oscar Piastri, auch kein Unschuldiger, wartet dahinter. In einem Rennen, bei dem womöglich alle drei siegfähiges Material haben.
Die Story, auf welche sich die ganze Formel 1 heute erst einmal fokussiert, ist die erste Reihe. Dass sich Russell und Verstappen nicht leiden können, das geht nicht erst auf Verstappens Rammstoß in Spanien zurück. Es ist eine lange, lange Vorgeschichte:
Russell spielte am Samstag nach dem Qualifying vor vollgepackten Tribünen nur zu gerne damit: "Ich habe noch Spielraum für ein paar mehr Punkte auf meiner Lizenz." Verstappen nicht. Ein Strafpunkt würde schon eine Rennsperre nach sich ziehen. Auf die Nachfragen in der Pressekonferenz reagierte Verstappen angriffig: "Das will ich nicht noch einmal hören. Das pisst mich an."
Russell, Verstappen, Piastri: Wer geht heute am Start in Kanada wie viel Risiko?
Entspannung hört sich anders an. Auch beteuern alle Beteiligten seit Donnerstag, kein Interesse an fahrerischen Änderungen zu haben. "Es ist ein Rennen, sonst könnte man ja bei der Post arbeiten", scherzt Red Bulls Motorsport-Berater Dr. Helmut Marko auf Fragen bezüglich Sorgen. Verstappen sieht keinen Grund, allein wegen der drohenden Sperre vorsichtiger zu fahren: "Ich kann nicht einfach überall zurückstecken. Ich werde einfach fahren wie immer. Ich vertraue mir selbst."
Russell glaubt es ihm aufs Wort: "Ich sitze nicht hier und erwarte, dass er mir mehr Platz gibt. Wenn überhaupt, dann wird er das Gegenteil machen, um ein Exempel zu statuieren. Ich werde also aufpassen, aber letztendlich sind wir alle hier, um zu gewinnen."
Und Piastri? Irgendwo hätte er auch noch eine Rechnung offen, nachdem er sich in Imola in der ersten Kurve von Verstappen um die Führung und wohl dadurch um den Sieg hatte bringen lassen. Er versichert aber, dass auch er nichts anders machen wird: "Eine gute Leitlinie ist: Besser im Rennen bleiben als beweisen können, dass du richtig lagst."
Natürlich würde eine Verstappen-Sperre ihm als WM-Führenden entgegenkommen, und ein Strafpunkt ist schnell auch für einen kleinen, harmlosen Zwischenfall da. Man müsste sich nur richtig platzieren und Verstappen dazu bringen, dass er einen hart abdrängt, das könnte reichen ... aber das wäre eine verrückte Idee. Piastri hat auch am meisten zu verlieren. Verstappen hechelt in der WM-Tabelle 2025 sowieso schon hinterher. Russell ist noch krasserer Außenseiter und hält fest: "Keiner von uns ist wirklich im Titelkampf. Ich habe dieses Jahr noch keinen Sieg, das würde ich gerne ausräumen."
Mercedes, Red Bull, McLaren: Wer hat das beste Kanada-Auto?
Der Weg bis zum Brennpunkt erste Kurve ist in Kanada nur knapp über 150 Meter weit. Eine Vorentscheidung muss man hier aber nicht fällen, es ist nicht Monaco. In Montreal kann man überholen. Eine lange DRS-Zone geht hin zur letzten Schikane, eine weitere hin zur ersten Kurve. Und wirklich rennentscheidend wird heute das Reifenmanagement werden.
Graining heißt das Problem in Kanada. Der Circuit Gilles-Villeneuve ist sehr rutschig, dadurch wird dieses Phänomen auf der Oberfläche erzeugt. Besonders die Hinterreifen sind gefährdet. Stets gilt bei Graining dann: Bei wem es einmal anfängt, der rutscht noch mehr, dadurch gerät man in die "Graining-Spirale" und kann innerhalb weniger Runden völlig einbrechen.
Sachte die Hinterachse im Griff halten heißt es also. Auf dem Papier waren am Freitag die drei Spitzenteams gleich schnell gewesen. Ob Mercedes das im Rennen aber bestätigen kann, ist ein Mysterium. Russell und der von P4 losfahrende Kimi Antonelli haben schon wiederholt festgehalten: Je wärmer es wird, desto weniger haben sie Vertrauen ins Auto. Weniger Vertrauen, mehr kleine Rutscher, mehr Probleme.
Das Rennen findet zwei Stunden früher statt als das Qualifying. In dem der Mercedes auch erst in Q2 aufwachte, als die Streckentemperatur den 40 Grad näherkam. "Schon eine simple Wolke könnte uns zwei Zehntel Vorteil gegenüber McLaren bringen", ahnt Russell. Im mittäglichen Sonnenschein dürften Piastri und Verstappen im Vorteil sein.
Russell & Verstappen verfeuern Medium - Piastri hier mit Renn-Vorteil?
Pirelli empfiehlt für das Rennen zwei Boxenstopps, in einer Kombination von Hard und Medium. Hier wird es noch einmal interessant. Denn weil der Medium in Kanada ein guter Qualifying-Reifen war, fuhren sowohl Russell als auch Verstappen damit schon am Samstag. Nur McLaren behielt sich einen frischen Satz.
Alle Hard- und Medium-Reifen, die die Top-5 für das Rennen noch übrighaben, plus die damit gefahrenen Runden (in Klammer) hier:
RUS | VER | PIA | ANT | HAM |
---|---|---|---|---|
H (Neu) | H (Neu) | H (Neu) | H (Neu) | H (Neu) |
H (1) | H (Neu) | H (Neu) | H (1) | H (Neu) |
M (3) | M (5) | M (Neu) | M (6) | M (Neu) |
M (3) | M (3) | M (6) |
Die Frage ist, ob ein neuer Medium ein Vorteil ist. Tatsächlich gelten angefahrene Reifen als etwas robuster. Doch beim Reifenthema ist viel schwarze Magie dabei, und die Teams sind sich oft auch untereinander uneins. "Mit dem Level an Abbau, den wir für das Rennen erwarten, könnten alte Reifen ein bisschen Performance kosten", schätzt McLaren-Teamchef Andrea Stella. Bei seinem Team ist jetzt wohl schon klar, dass auf eine robuste Medium-Hard-Hard-Strategie abgezielt wird.
Ferrari & Lando Norris in Kanada nur mehr Außenseiter
Positiv indessen für Ferrari: Lewis Hamilton startet vom fünften Platz. Negativ: Die Rennpace sah am Freitag nicht toll aus. "Wir haben einen neuen Medium", meint auch Hamilton. "Ich hoffe noch immer, dass die Rennpace gut sein wird." Sein Teamkollege Charles Leclerc patzte im Qualifying und blieb auf P8 hängen. Sein mieses Wochenende geht weiter, nachdem er am Freitag in FP1 verunfallt war und in FP2 dann nicht teilnehmen hatte können.
Daher fehlen Leclerc - üblicherweise zuletzt der schnellere Ferrari im Renn-Trimm - wichtige Erfahrungswerte. "Ich bin ein bisschen in FP3 gefahren, das war stark", meint er. "Ich will auf ein Podium abzielen, aber es hängt davon ab, wie schnell wir die Leute vor uns kriegen." Er hat schließlich viele starke Autos vor sich. Darunter Lando Norris.
Der fährt in Kanada mit McLarens neuer, adaptierter Vorderachs-Geometrie. Es war nur ein kleines Update, das darauf abzielt, die Stumpfheit des Vorderwagens zu reduzieren. Piastri entschied sich für die alte Version, Norris für die neue. Trotzdem lieferte er ein weiteres fehlerdurchzogenes Q3 ab. P7 ist ein Albtraum für den WM-Zweiten. Mehr als ein Podium wird so bei normalem Rennverlauf nicht drin sein.
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