Mit Nachdruck holte sich George Russell am Freitag in Kanada die Tagesbestzeit im 2. Training. Raus, 1:12,123, zurück an die Box und zuschauen, wie sich die Konkurrenz daran in zahlreichen Versuchen die Zähne ausbiss. Anhand der Trainings-Analyse könnte man auf den ersten Blick tatsächlich Mercedes zum Favoriten auf Pole und Sieg erklären. Die Faktoren dahinter sind jedoch nicht ganz eindeutig.

Sicher ist: Russell fuhr ein anständiges 2. Training herunter, nachdem Mercedes das Auto in Kanada mit einem Unterboden-Update ausgestattet hatte und eine nach Imola noch für Zweifel sorgende Hinterachse wieder montiert hatte. Er war Schnellster in den Qualifying-Simulationen, und er war Schnellster im Longrun. Eins mit dem Auto, wie es danach aus dem Mercedes-Lager hieß. Doch die Kanada-Strecke legt der Formel 1 allgemein Steine in den Weg. Die Umstände scheinen Mercedes da entgegenzukommen.

Was tun mit diesen F1-Reifen? Wieder verwirrt der C6-Pirelli in Kanada

Die erste Frage wirft bereits auf, dass Russell seine Bestzeit mit Medium-Reifen gefahren war. Und doch ist es nicht unerwartet. In Kanada fährt die Formel 1 zum dritten Mal mit den Pirelli-Mischungen C4, C5 und C6 als Hard, Medium und Soft. Und der C6, den Pirelli 2026 extra für Kurse mit besonders wenig Verschleiß neu entwickelt hat, scheint verhext.

Schon in Imola zeigten Russell sowie Aston Martin damals: Der Medium, also der C5, kann im Qualifying gleich schnell oder schneller sein. Es ist eine Frage der Stabilität. Weil der C6 so extrem weich ist, verformt er sich in schnelleren Kurven ausreichend, um bei den Fahrern ein Unsicherheits-Gefühl hervorzurufen. In Montreal mögen die Kurven jetzt nicht so stark belastend sein wie in Imola, doch es scheint, als koche der Effekt wieder hoch.

Das ist eine Zwickmühle. Jeder Fahrer bekommt für das ganze Wochenende insgesamt nur drei Sätze Medium-Reifen. Am Freitag überlegen die ersten schon wieder, ob sie nicht im Qualifying damit fahren wollen. Fast alle haben einen der drei Sätze bislang verheizt. Aston Martin, die als Pioniere dieser Taktik in Imola beide Autos damit überraschend in Q3 hievten, haben alle drei Sätze aufgespart.

Russell & Albon profitieren von Medium-Taktik im Training - Verstappen nicht

Aus der Topgruppe testeten alle im 2. Training den Medium. Aber größtenteils nur für Longruns. Drei Ausnahmen gibt es: Russell, Alex Albon und Max Verstappen testeten ihn für Qualifying-Simulationen. Die Lage wird verkompliziert durch die Natur der Strecke. Der Circuit Gilles-Villeneuve startete mit sehr wenig Grip in den Tag.

Die Fahrfehler waren zahlreich. "Die Reifen brauchen Zeit, um auf Temperatur zu kommen, aber wenn sie kommen, dann beginnt sofort Graining", berichtet etwa Fernando Alonso. Russell schien mit seiner Prozedur einen Volltreffer zu landen. Er fuhr schlicht raus, zog das Tempo an, und markierte die Bestzeit.

Tatsächlich gibt es nur vier andere Fahrer, die schon im ersten Versuch ihre beste Runde zusammenbrachten. Keiner davon aus der Spitzengruppe. Lando Norris holte P2 beim dritten Nachsetzen auf alten Soft. Der Medium ist auch kein Allheilmittel. Er funktionierte für Albon, der sich damit auf einen starken vierten Platz schob. Für Verstappen lief es nicht, in zwei Anläufen kam er über P9 nicht hinaus.

Kanada tut im Training alles für ein gutes Mercedes-Ergebnis

Pirelli rechnet vor, dass der Soft unter Idealbedingungen immer noch der schnellere Reifen ist, aber nur um ein Zehntel. Die äußerst großen Variationen der Fahrer in Sachen Vorbereitungs- und Abkühlrunden zeigte, wie schwer sich noch alle tun, die Reifen zu verstehen. Dass zwei Mischungen im Spiel sind, macht es noch schwieriger. Und das ist jetzt der Punkt, an dem der mysteriöse Mercedes ins Spiel kommt.

Russell ist nach dem Training ehrlich: "Wenn die Reifen kalt sind, sind wir sehr wettbewerbsfähig. Das hat sich heute bestätigt." Erst recht im 2. Training. In FP1 war Russell über drei Zehntel hinterhergefahren. Bei bis zu 44 Grad Streckentemperatur. In FP2 kühlte der Asphalt pünktlich für die Qualifying-Simulationen zum ersten Mal auf unter 40 Grad ab, und fiel bis zum Ende bis auf 36 Grad.

Das ist ein doch großer Wandel. Außerdem gesteht Russell: "Wir haben alles ausgespielt, volle Leistung, alles." Dass er nur eine schnelle Runde fuhr, ist auch immer verdächtig. Die McLaren fuhren alle ihre Qualifying-Simulationen in sieben respektive neun zusammenhängenden Runden, mussten also zwangsweise anfangs recht volle Tanks gehabt haben. Russell stellte nach zwei Runden wieder ab.

Trotz älterer Reifen kam Norris schließlich bis auf 28 Tausendstel an Russell ran. "Es war unser schlechtester Freitag des Jahres - nicht in Sachen Pace, sondern im Bezug darauf, eine Runde zusammenzubekommen", urteilt Norris. Der Zeitvergleich spiegelt das Soft-Medium-Problem wider. Norris hatte den einfacher anzuwärmenden Soft zu Beginn besser im Fenster. In den Schikanen zehrte Russell vom Stabilitätsgefühl des Medium. Und durch die letzte Schikane hatte Russell auf dem Medium noch mehr Grip.

Tolle Mercedes-Pace auch im Longrun in Kanada zu hinterfragen

Die Streckenbedingungen sind weitere Fragezeichen hinter der Mercedes-Leistung. Wenig Grip und viel Graining war die Devise am Freitag. Paart man das mit den kühlen Temperaturen während der Longruns am Sessionende, so war das perfektes Mercedes-Territorium. Das Auto ist bekannt dafür, bei Graining-dominierten Verhältnissen die Reifen ideal im Arbeitsfenster zu halten.

Doch das alles verblasst, wenn die Temperatur steigt und das Graining abgeschwächt wird, weil die Strecke über den Wochenendverlauf saubergefahren wird, und dann Gummi und Grip aufbaut. Und das Rennen findet am Sonntag zwei Stunden früher statt. Bei voraussichtlich besserem Wetter. Pirelli geht davon aus, dass der Asphalt vielleicht sogar über zehn Grad wärmer sein könnte.

McLaren & Max Verstappen bleiben in Kanada brandgefährlich

Selbst wenn die Mercedes-Pace das überstehen sollte, so ist das Trainings-Ergebnis sowieso keine völlig klare Sache. Im Longrun trennten Russell, beide McLaren und Verstappen keine zwei Zehntel. Da stellt sich die Frage, wohin Verstappen im Qualifying-Trimm verschwand, nachdem er im 1. Training noch Bestzeit gefahren war.

"Es hat von FP1 zu FP2 zwei kleine Änderungen gegeben, die sich im Fahrverhalten relativ stark negativ ausgewirkt haben", meint Red Bulls Motorsport-Berater Dr. Helmut Marko auf Sky den Grund für den Rückschritt zu kennen. "Wir gehen wieder zurück. Das zeigt, in welch engem Fenster unser Auto nur arbeitet." Die Longruns dienen als Beweis, dass es eigentlich ein guter Tag war. Verstappen bestätigt: "Der Tag war in Ordnung. Mit dem Auto bin ich happy."

Ferrari droht in Kanada wieder Williams-Ärger

So aber schummelten sich Fernando Alonso und Alex Albon vor Verstappen. Alonso hat so seine Zweifel, ob es nicht eher das Glück einer guten Runde war. Albon und Williams fühlen sich hingegen recht gut. Die Plätze zwei und drei für ihn und Carlos Sainz in FP1 waren schärferen Motormodi geschuldet, aber in FP2 hielt man noch immer wacker mit.

"Wir sind nicht bei den Führenden dabei, aber relativ zum Rest des Feldes auf jeden Fall", urteilt Sainz. Sein Longrun scheint die realistische Williams-Position zu unterstreichen. Doppel-Punkte sind auf jeden Fall das Ziel. Da schummelt sich dann wieder Ferrari mit hinein. Denn zwar dürften Mercedes, McLaren und Max Verstappen - wenn fertig aussortiert - schneller sein als die Williams. Aber Lewis Hamilton?

Auf eine Runde ging nach Setup-Änderungen nichts: "Ich dachte, das Auto sei schneller, aber dem war nicht so." Die Qualifying-Probleme des SF-25 sind inzwischen bestens bekannt. Im Longrun brachen Hamilton auch die Reifen ein. Die Vorzeichen sind so erst einmal schlecht. Dass Charles Leclerc nach einem FP1-Unfall nur neun Runden fuhr, macht es nicht besser.