Es ist immer schön, einem Formel-1-Team wie Aston Martin eine Halbzeit-Bilanz auszustellen. So viele Erfolge, wie sie Fernando Alonso eingefahren hat, konnte eigentlich niemand erwarten. Dieses Erwarten wird nun aber im Sommer 2023 zu einem Problem für das weiter aufstrebende Team. Zu gut für die eigene Erwartungshaltung? Das Motorsport-Magazin.com-Halbzeitfazit erklärt.

Ziel vs. Realität:
Sicher, mit Ex-Red-Bull-Aerodynamiker Dan Fallows an der Spitze und mit Neuzugang Fernando Alonso war der Anspruch von Aston Martin klar. Aber 2023 waren die Ziele vorsichtig gewählt und realistisch. Zurück aus dem Sumpf der letzten Jahre. Mittelfeld anführen, vielleicht ein paar Podien, das Projekt auf Kurs bringen, nächster Schritt in der Aufbauphase im Hinblick auf Siege 2025. Überhaupt zog das Team erst im Sommer ganz in die neue High-End-Fabrik ein.

Auch beim Auto wurden keine großen Hoffnungen ausgegeben. Über 90 Prozent davon waren neu, nachdem man große Teile des Konzepts nach einem enttäuschenden 2022 überdacht hatte. Das, was rausgekommen ist, geht daher weit über die Erwartungen hinaus. In fünf von zwölf Rennen war Alonso zweite Kraft, holte sechs Podien, zwei zweite Plätze, war in Monaco legitimer Pole- und Sieg-Anwärter. In der Formel-1-Tabelle 2023 liegt Aston Martin auf dem dritten Rang, Alonso in der Fahrer-WM ebenso.

Entwicklung 2023:
Das Auto war von Bahrain weg schnell, die Entwicklung lief weniger gut. Anfangs schnell, aber vor allem in langsamen Kurven, auf Stop-Start-Strecken, auf Stadtkursen. In Barcelona und Kanada wurde das erste große Update-Paket gebracht, sollte mehr Abtrieb für die folgenden traditionellen Strecken bringen und das Team im Kampf mit Mercedes und Ferrari halten. Die Ziele hatten sich verschoben.

Die Updates funktionierten nicht. Die Charakteristik des Autos veränderte sich, Alonso und Lance Stroll fanden den Setup-Sweetspot nicht mehr, rutschten zu viel, provozierten Reifenprobleme. Der Verschleiß war zu Beginn noch die Stärke gewesen. Inzwischen hat das Team eingeräumt, die Updates nicht ganz verstanden zu haben. Lange Arbeit am Setup soll sich bezahlt gemacht haben, in Spa wurde auch ein neuer Unterboden gebracht. Zumindest laut Alonso fühlte sich das Auto wieder normal an.

Höhepunkt 2023: Bahrain ist die Realität!
Der wirkliche Höhepunkt für Aston Martin war die Bestätigung von Bahrain. In den Tests sah das Auto gut aus, man mahnte zur Vorsicht. In den Trainings sah es gut aus, man mahnte wieder. Im Rennen zeigte Alonso, dass es real war. Zwar war die Qualifying-Leistung bescheiden - auch hier brauchte das Team länger, um das Auto zu verstehen -, aber Alonso fuhr ein spektakuläres Rennen, erkämpfte sich den dritten Rang und zeigte, was mit dem Auto möglich war. Und Lance Stroll war mit dabei mit P6, obwohl er sich nur zwei Wochen davor bei einem Fahrradsturz die rechte Hand gebrochen hatte.

Tiefpunkt 2023: Planloses Hinterherfahren in Ungarn
Der nach den ersten Rennen bestens gelaunte Alonso nannte Ungarn als Kandidat für eine Aston-Überraschung. Der langsame High-Downforce-Kurs schien perfekt für den AMR23, der dort aber gar nichts hergab. Alonso rettete sich nur um zwei Tausendstel in Q3 und fuhr ein enttäuschendes Rennen auf dem neunten Platz vor Stroll zu Ende. Drei Punkte, die geringste Ausbeute dieser Saison. Die Sorgen nahmen zu, weil sich das Auto eigentlich passabel anfühlte. Nur war es nicht schnell. Die Folgen von Ungarn sind noch nicht vergessen. Dass es wirklich um Setup-Verständnis ging, muss man erst beweisen.

Fernando Alonsos Podien übertünchen das Lance-Stroll-Problem

Fernando Alonso
WM: 3. Platz (149 Punkte)
Note im MSM-Ranking: 1,79 (2. Platz)
Sechs Podien, beinahe Pole in Monaco, ja, Fernando Alonso ist zurück. Oder war nie weg, nur sah man bei Alpine und McLaren nicht viel von diesem Alonso. Ja, dieser Mann kann auch mit 42 Jahren noch immer Weltmeister werden und hat nichts von seinem Biss eingebüßt. Alonsos Laune ist außerdem so gut wie seit Jahren nicht mehr. Bis auf den Qualifying-Ausritt in Spanien und den Abflug im Spa-Sprint ist er fast fehlerlos unterwegs, zweikampfstark, motiviert, steht voll hinter dem Team. Das ist Fernando Alonso in Reinkultur, einer der besten Fahrer im Feld.

Fernando Alonso war 2023 bisher oft Podiums-Kandidat, Foto: LAT Images
Fernando Alonso war 2023 bisher oft Podiums-Kandidat, Foto: LAT Images

Lance Stroll
WM: 9. Platz (47 Punkte)
Note im MSM-Ranking: 3,36 (18. Platz)
Eigentlich hatte Lance Strolls 2023 fahrerisch gut begonnen. Trotz des gebrochenen Handgelenks fuhr er im Kielwasser von Alonso zuerst gute Ergebnisse ein. Als es körperlich aufwärts gehen sollte, zog der Fahrer aber nicht mit. Konstanz fehlt, besonders im Qualifying bringt er die entscheidende Runde nicht zusammen. Nur zweimal war er schneller als Alonso, einmal weil dessen Unterboden hinüber war. Oft fällt er in Q2 aus, der durchschnittliche Rückstand beträgt 0,454 Sekunden. Je schwieriger das Auto, desto größer die Probleme.

Fazit und Ausblick:
Die Ziele haben sich verschoben. Eigentlich könnte Aston Martin ohne Probleme attestiert werden, sämtliche Ziele für die Saison 2023 mit wehenden Fahnen erfüllt und die Erwartungen übertroffen zu haben. Aber das wird eben zum Problem: Jetzt sind die Ansprüche höher. Jetzt ist es plötzlich nicht mehr akzeptabel, ein paar Rennen hinterherzufahren, weil man ein Update nicht ganz versteht, was eigentlich zur Lernerfahrung dieses jungen Teams gehören sollte.

F1 Team-Check: Aston Martin im Formtief! Was steckt dahinter? (16:22 Min.)

Aber die Chance auf eine richtig gute WM-Platzierung ist nun einmal real. Plötzlich geht es darum, zu beweisen, dass das Team auch in einem Entwicklungsrennen schon mitmischen kann. Hinter Mercedes, Ferrari und McLaren herzufahren wäre am Ende des Jahres nun doch ein Misserfolg. Und so kommt es, dass Aston Martin - wo alle ursprünglichen Ziele schon erfüllt sind - plötzlich wieder eine Enttäuschung abwenden muss.