Charles Leclerc war nach dem Großbritannien GP 2022 bedient. Schon während des Rennens lagen die Nerven beim 24-Jährigen am Funk blank. Hatte Leclerc recht mit seiner Kritik an der Ferrari-Strategie? Motorsport-Magazin.com liefert in der Silverstone-Rennanalyse Antworten.

Ferrari-Teamchef Mattia Binotto konnte nach dem Rennen die negative Stimmung in der Medienrunde nicht so ganz nachvollziehen. "Ein schwieriges Wochenende? Nein, wir standen auf Pole und haben gewonnen. Wir sollten glücklich sein", erwiderte er.

Doch die Fragen und die Kritik kommen nicht von ungefähr. Denn mit Carlos Sainz gewann - aus WM-Sicht - der falsche Ferrari-Pilot. Nach der Pechsträhne von Leclerc wären die Probleme von WM-Leader Max Verstappen die perfekte Gelegenheit gewesen, Punkte gutzumachen. Entsprechend groß war der Frust des Monegassen.

Sainz konnte die Pole beim Restart nach der Rot-Phase in eine Führung umwandeln. Lange hielt die Freude zunächst nicht. Nach einem kleinen Fehler ging Verstappen in Runde 10 vorbei. Drei Runden später lag Sainz wieder in Führung, weil Verstappen Trümmerteile aufgesammelt hatte und an die Box gekommen war Nun begann Ferraris turbulentes Rennen erst richtig.

Ferraris Silverstone-Probleme im Detail aufgeschlüsselt

Die Ausgangslage in Runde 13: Sainz führt knapp eine Sekunde vor Leclerc. Der hat zwar nach einer Startkollision kein rechtes Frontflügel-Endplate mehr, scheint das Problem aber im Griff zu haben. Lewis Hamilton ist Dritter, ihm fehlen sechs Sekunden auf Sainz.

Erstmals werden Stimmen nach einem Platztausch bei Ferrari laut. Leclerc meint, schneller fahren zu können als Sainz. Der Spanier soll die Pace deshalb anziehen, kann aber nicht so recht. Währenddessen fährt Hamilton eine schnellste Rennrunde nach der anderen, ist teilweise eine halbe Sekunde pro Runde schneller.

In Runde 20 scheint Ferrari das interne Problem anders lösen zu wollen. Carlos Sainz kommt als erster der Top-Piloten zum Etat-mäßigen Boxenstopp und wechselt von Medium auf Hard. Zu diesem Zeitpunkt liegt Hamilton nur noch vier Sekunden hinter Sainz und drei Sekunden hinter Leclerc.

Die freie Fahrt kann Leclerc nur bedingt nutzen. Er fährt etwas schneller, aber nicht ausreichend, um Hamilton zu distanzieren. Der kommt immer näher. In Runde 25, als der Formel-1-Rekordsieger nur noch anderthalb Sekunden hinter Leclerc liegt, kommt der Führende schließlich zum Boxenstopp, um einen möglichen Undercut von Hamilton abzuwehren.

Das Problem: Leclerc kommt wieder hinter Sainz zurück auf die Strecke. Der frühere Boxenstopp hat dem Spanier etwas Luft verschafft. Gut zwei Sekunden hinter Sainz kommt Leclerc zurück auf die Strecke. Nach zwei Runden ist Leclerc aber schon wieder im Getriebe seines Teamkollegen, fordert erneut den Platztausch.

Im Fernduell mit Hamilton gewinnt Ferrari langsam. Das liegt aber daran, dass der Mercedes-Pilot noch mit alten Reifen unterwegs ist. Darauf ist er trotzdem nur minimal langsamer als Sainz in der 'virtuellen' Spitze.

Ferrari ist deshalb unter Zugzwang. Das Fernduell mit Hamilton könnte später im Rennen noch einmal spannend werden, weil der Brite durch seinen deutlich späteren Stopp ein größeres Reifen-Offset erzeugt. Er könnte am Ende auf frischen Reifen zur Gefahr werden.

Die Ferrari-Box gibt Sainz nun tiefere Ziel-Rundenzeiten, mit der Ansage: Schaffst du die nicht, musst du Platz machen. Als Sainz die geforderten Rundenzeiten nicht fahren kann, kann sich der Ferrari-Kommandostand in Runde 31 schließlich zum Positionstausch durchringen. Am Teamkollegen vorbei, kann Leclerc sofort schnellere Rundenzeiten fahren.

Nun muss auch Mercedes reagieren, damit die Lücke zu Leclerc nicht zu groß wird. Hamilton kommt in Runde 33, um sich die harten Reifen abzuholen. Durch einen etwas langsameren Stopp und durch den Undercut von Ferrari ist sein Rückstand auf Leclerc von anderthalb auf über sechs Sekunden angewachsen.

Safety Car zerstört Hamiltons Reifen-Vorteil

Hamiltons C1-Pneus brauchen, bis sie auf Temperatur sind - und der Silberpfeil scheint darauf nicht ganz so gut zu funktionieren. Hamilton kann den frischeren Gummi nur bedingt nutzen. Auf Sainz holt er auf, auf Leclerc nicht.

Eigentlich hätte es an dem Punkt für die Top-Leute bei einem Boxenstopp bleiben sollen. Doch als Esteban Ocon seinen Alpine auf der Strecke abstellte, wird das Rennen auf den Kopf gestellt. Bitter für Hamilton: Sein Reifen-Vorteil wäre erst am Ende des Rennens so richtig zum Tragen gekommen, so fährt er aber nur von Runde 33 bis 39 auf den frischen harten Reifen.

Das Safety Car löst eine Boxenstopp-Orgie aus. 12 der 14 Piloten holen sich für den Schlusssprint noch einmal frische Pirellis. Nur Leclerc und Kevin Magnussen stoppten nicht. Dabei sollte auch Magnussen stoppen, der Däne widerspricht seinem Team aber.

Für Leclerc an der Spitze hat der verpasste Stopp fatale Folgen. Mit seinen gebrauchten harten Reifen ist er im Schlusssprint nur noch Opfer. Neben Teamkollege Sainz gehen auch Perez und Hamilton noch an ihm vorbei, er wird frustrierter Vierter.

Ferrari setzt falsche Prioritäten: Sainz statt Leclerc

Wie konnte Ferrari ausgerechnet bei Leclerc so daneben liegen? Einerseits hatte er das Pech, Führender zu sein. Es ist ein altbekanntes Problem: Die Führung in diesem Fall aufzugeben ist riskant. Die Verfolger können reagieren und das Gegenteil machen. Wie Verstappen gegen Hamilton beim WM-Finale 2021 in Abu Dhabi.

Doch aus Ferrari-Sicht sprach noch mehr gegen einen Leclerc-Stopp. "Bei einem Doppel-Stopp hätten wir eine Position verloren", erklärt Teamchef Mattia Binotto. Leclerc und Sainz hätten direkt hintereinander gestoppt, Sainz hätte wohl etwas auf seine Abfertigung warten müssen. Dafür hätte sein Vorsprung auf Hamilton nicht ausgereicht, er wäre hinter den Mercedes zurückgefallen.

Außerdem hatte Leclerc noch um fünf Runden frischere Reifen als Sainz. Die Chancen, dass er sich im Schlussspurt verteidigen könnte, waren größer. Weiters glaubte man bei Ferrari, dass die Soft-Reifen den Sprint von nach dem Restart bis ins Ziel nicht komplett ohne Performance-Verlust überstehen würden. Am Ende hätte Leclerc möglicherweise wieder einen Reifen-Vorteil gehabt.

Leclerc in der hoffnungslosen Defensive gegen Hamilton und Perez, Foto: LAT Images
Leclerc in der hoffnungslosen Defensive gegen Hamilton und Perez, Foto: LAT Images

Der Plan ging nicht auf. Hamilton fuhr im 52. und letzten Umlauf die absolut schnellste Rennrunde. Von einem Eingehen der Soft-Reifen war nichts zu sehen. Außerdem bekam Leclerc auch noch weniger Schützenhilfe von Sainz als erhofft.

Ferrari wollte, dass Sainz beim Restart Abstand hält. Zehn Fahrzeuglängen sind erlaubt, ohne dass eine Strafe droht. Das hätte Leclerc vorne an der Spitze etwas Luft gegeben. Sainz als Schutzschild gegen Hamilton und Perez sozusagen. Doch Sainz spielte nicht mit, fand die Herangehensweise unfair - und wollte schließlich auch noch selbst gewinnen.

Schon nach vier Kurven hatte sich Sainz mit frischen Softs gegen Leclerc auf abgefahrenen Hards durchgesetzt. Während der Spanier vorne an der Spitze recht entspannt seinem ersten GP-Sieg entgegenfuhr, musste sich Leclerc vehement verteidigen - und verlor schließlich auch noch gegen Perez und Hamilton.

Fazit: Leclerc wurde in Silverstone gleich zweimal vom Team reingelegt. Der (zu) späte Positionswechsel hatte durch das Safety Car keine Auswirkung mehr - oder doch? Leclerc hätte bei einem frühzeitigen Wechsel zu diesem Zeitpunkt einen größeren Vorsprung gehabt. Ein Doppel-Stopp wäre dann kein Problem mehr gewesen. Ferraris fehlende Mut beim Safety Car kostete ihm dann nicht nur den Sieg, sondern auch noch das Podium.

Horror-Crash und Menschen auf der Strecke! Was war los?: (22:14 Min.)