Zieht man das reine Qualifying-Ergebnis zum Großbritannien GP in Silverstone heran, so dürfte das Zeitentableau wohl kaum jemanden zum sonntäglichen Einschalten der TV-Geräte um 14 Uhr animieren: Mit einem Vorsprung von 0,547 Sekunden auf Kimi Räikkönens Ferrari erzielte Mercedes-Pilot Lewis Hamilton bei seinem Heimrennen die dominanteste Pole Position des gesamten bisherigen Saisonverlaufs.

Doch handelt es sich mit Blick auf das Rennen um eine trügerische Dominanz. Trotz Motivation bis in die Haarspitzen vor heimischem Publikum muss der Formel 1 am Sonntag kein Hamilton-Sololauf, kein Langweiler blühen. Ganz im Gegenteil: Nahezu alle Parameter sprechen für eine abermals ganz enge Kiste zwischen Scuderia und Silberpfeilen in Silverstone. Motorsport-Magazin.com mit der großen Favoriten-Analyse:

Hamilton geht siegesgewiss ins Heimrennen

Wie es sich gehört beginnen wir ganz vorne. Trotz allen Ankündigungen oben bleibt ein Lewis Hamilton auf Pole Position natürlich immer einer der Favoriten, eher sogar der klare Top-Favorit. Das sieht der Polesetter selbst ganz genauso. "Das ist definitiv die beste Startposition und die Longruns sahen großartig aus, ich muss also sicherstellen, dass ich es für die Jungs klarmache", sagt Hamilton.

Das klingt tatsächlich sehr überzeugt - und das nicht unbegründet. "Wir waren ab dem ersten Training gut dabei und haben uns seitdem weiter gesteigert. Ich glaube, dass ich momentan besser denn je fahre", erklärt Hamilton seinen Optimismus. Aber Vorsicht: Gut sahen die Longruns bei Mercedes am Freitag tatsächlich aus - das lässt sich nicht bestreiten. Doch ließ sich Ferrari bei den Rennsimulationen nicht einmal annähernd so viel Butter vom Brot nehmen wie einen Tag später im Qualifying.

Wegen Pirelli-Novum 2017: Räikkönen der wahre Longrun-König

Auf der superweichen Mischung fuhr Valtteri Bottas zwar die besten Zeiten, war im Schnitt 0,191 Sekunden schneller als Räikkönen, doch erstreckte sich der Longrun des Ferrari-Finnen auf neun Runden mehr als der des Mercedes-Nordländers. Bezieht man nun mit ein, dass Pirelli in Silverstone erstmals seit Langem wieder richtigen Reifenabbau vermeldet, wertet das den Räikkönen-Longrun nur zusätzlich auf, dürfte ihn sogar wertvoller machen als den seines Landsmanns.

Damit nicht genug: Noch dazu war auch der dritte Mann im Grid, Sebastian Vettel, mit dem Supersoft schnell unterwegs: Sein Longrun war minimal schneller als der Hamiltons. Beide lagen jedoch vier Zehntel hinter den Finnen, was jedoch einzig auf andere Spritladungen deutet. Die Stintlängen können hier nicht einen derartigen Ausschlag gegeben haben.

Longruns auf Supersoft-Reifen

FahrerDurchschnittliche RundenzeitAbstandReifenalterSession
Valtteri Bottas1:32,771 Minuten12FP2
Kimi Räikkönen1:32,963 Minuten+ 0,191 Sekunden21FP2
Sebastian Vettel1:33,388 Minuten+ 0,616 Sekunden17FP2
Lewis Hamilton1:33,396 Minuten+ 0,624 Sekunden18FP2
Max Verstappen1:33,857 Minuten+ 1,085 Sekunden15FP2
Daniel Ricciardo1:36,162 Minuten+ 1,390 Sekunden16FP2

Mit den soften Reifen sieht das Bild für Ferrari ähnlich gut aus. Hier war Vettel sogar der schnellste aller Top-Fahrer - trotz des längsten Stints. Hamilton, Bottas und Räikkönen folgten in der genannten Reihenfolgen mit Abständen von 0,19 bis 0,42 Sekunden. Red Bull unterdessen war auf beiden Mischungen weit abgeschlagen, nicht ganz so drastisch wie im Qualifying, aber noch immer genug, um nicht zum engen Favoritenkreis zu zählen. Nicht umsonst resümierte Motorsportberater Helmut Marko im Interview mit Motorsport-Magazin.com zerknirscht: "Der Abstand ist schon sehr ernüchternd." Zumindest Platz drei sei aber vielleicht drin, Marko: "Im Rennen sind wir erfahrungsgemäß besser."

Longruns auf Soft-Reifen

FahrerDurchschnittliche RundenzeitAbstandReifenalterSession
Sebastian Vettel1:32,877 Minuten19FP2
Lewis Hamilton1:33,067 Minuten+ 0,190 Sekunden18FP1
Valtteri Bottas1:33,188 Minuten+ 0,311 Sekunden16FP1
Kimi Räikkönen1:33,302 Minuten+ 0,425 Sekunden15FP2
Max Verstappen1:33,471 Minuten+ 0,594 Sekunden17FP2
Daniel Ricciardo1:33,776 Minuten+ 0,899 Sekunden19FP2

Red Bull muss für Regen beten

Ein nicht minder frustrierte Max Verstappen bestätigte: "Offensichtlich sind wir überall nicht schnell genug." Mit Startplatz fünf steht der Niederländer zumindest noch in Schlagdistanz zum rot-silbernen Block an der Spitze. Anders Teamkollege Daniel Ricciardo. Der konstanteste Podestfahrer der vergangenen Rennen muss das Feld nach Getriebe- und Motordefekten von P19 aufrollen, kann eigentlich nur noch auf britisches Wetter, sprich Regen hoffen. Denn dann ist Red Bull plötzlich Top-Favorit wie ein Kommentar Ricciardos nach seinem Defekt-Aus in Q1 perfekt vor Augen führt: "Ein Teil von mir ist froh, dass es im Q3 nicht nass war. Ich hätte sonst das Gefühl, eine tolle Chance verpasst zu haben, da wir auf Intermediates stark hätten sein können."

Völlig abwegig ist ein Regenrennen unterdessen keineswegs. Aktuell sagen die Prognosemodelle mit Beginn des Spätvormittags bis hinein in den Nachmittag Schauer in Silverstone voraus. Rund 40 Prozent beträgt aktuell die Regenwahrscheinlichkeit während des Rennen. Kein Problem damit hätte neben Red Bull überraschenderweise auch Top-Favorit Lewis Hamilton. "Generell mag ich es trocken, aber ich ich mag auch heikle Bedingungen - typisch englische Bedingungen, wo ich aufgewachsen bin. So habe ich mit dem Rennenfahren begonnen. Deshalb habe ich mich sehr wohl gefühlt", schildert der Local Hero.

Vettel & Räikkönen angriffslustig: Werden Lewis einheizen

Breit ist also die Brust des Briten - egal was passieren mag. Doch zeigt sich Ferrari angesichts der starken Longruns nicht minder schlecht aufgestellt. "Ich habe nichts zu verlieren. In jedem Grand Prix ergeben sich Möglichkeiten, ich bin bereit, sie zu ergreifen", gibt sich Kimi Räikkönen angriffslustig. "Jeder weiß, dass wir ein gutes Auto fürs Rennen haben, da wollen wir Lewis in Atem halten", ergänzt der diesmal besser platzierte Ferrari-Fahrer.

"Ich will Hamilton im Rennen unter Druck setzen und glaube schon, dass ich das kann", bestätigt Vettel. Attacke - das sei die Devise. "Aber ich glaube auch, dass die Favoritenrolle schon vergeben ist. Mercedes war gestern sehr stark, heute auch und wir erwarten, dass sie es morgen auch sind. Die eine oder andere Gelegenheit wird es aber geben", meint der WM-Leader. Gelegenheit Nummer eins: Der Start. "Ich glaube die rechte Seite hat nicht so viel Grip wie die Linke. Hoffentlich wird sich das dann bewahrheiten", sagt Vettel. Das würde ihm allerdings potentiell nur einen Vorteil gegenüber seinem Teamkollegen bringen.

Insgesamt sei zudem schon das Qualifying-Ergebnis nicht so schlecht gewesen. Immerhin besiegten beide Ferrari mit Valtteri Bottas einen der beiden Mercedes auf der Strecke - also ohne nur von dessen Gridstrafe zu profitieren. Das sei schon ein sehr gutes Ergebnis, so Vettel. "Mir ist aber noch wichtiger, dass wir es geschafft haben, die Fahrzeugbalance erheblich zu verbessern", warnt der Deutsche die Konkurrenz vor. Ist das nicht nur eine Nebelkerze, sollte sich Mercedes angesichts der ohnehin schon starken Ferrari-Longruns ernste Gedanken in vielleicht schlafloser Nacht machen.

Zumal ein im Rennen stärker auftrumpfendes Ferrari in dieser Saison bislang eine der größten Konstanten überhaupt gewesen ist. "In der ersten Saisonhälfte hat sich gezeigt, dass wir im Renntrimm stärker sind als in der Quali. Von daher haben wir natürlich Erwartungen", erinnert Vettel. "Aber Fakt ist auch, dass Mercedes hier das ganze Wochenende über einen sehr starken Eindruck gemacht hat", relativiert er allerdings gleich wieder. Einen Vorteil könnte Ferrari aber in Sachen Reifen aufweisen, so Vettel mysteriös.

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Mercedes: Reifen-Angst und Reifen-Hoffnung zugleich

Genau dieses Thema bereitet auch der Gegenseite Sorgen - trotz aller Hamilton-Siegesgewissheit. "Wir müssen schauen, was wir aus den Longruns machen. Der Verschleiß war gestern nicht perfekt", mahnt Toto Wolff. "Und wir hatten in dieser Saison schon oft Überraschungen, manchmal lagen wir über und manchmal unter unseren Erwartungen. In Silverstone waren wir optimistisch, dass das Auto wegen der Downforce gut sein würde - aber auch Topspeed. In der Vergangenheit war es aber nicht leicht für uns, Highspeed und Lowspeed in einem Setup zu vereinen", erinnert ein leicht verunsichert wirkender Motorsportchef.

Doch muss das Thema Reifen für Mercedes nicht zwangsläufig von Nachteil sein. Ganz im Gegenteil: Mit Auto Nummer zwei könnte sich den Silberpfeilen womöglich sogar eine ganz große Chance auftun. Der wegen Getriebewechsels auf P9 strafversetzte Bottas qualifizierte sich als einziger mit dem Soft für Q3, startet also wie zuletzt Hamilton in Spielberg mit der etwas härteren Mischung in den Großbritannien GP. "Der Start auf der anderen Reifenmischung wird ihm Chancen ermöglichen, um sich morgen zu verbessern", frohlockt Wolff.

Bottas: Geheimtipp mit Ass im Ärmel

Am Start selbst könnte der Finne ob des geringeren Grip-Levels dieser Mischung so zwar leicht im Nachteil sein (es sei den er bewirkt ähnliche Wunder wie in Spielberg), doch sollte sich das im Rennverlauf sehr gut durch Vorteile beim schon genannten, kritischen Reifenabbau kompensieren lassen - zumindest besser als bei Hamilton in Österreich der Fall. "Startplatz neun ist nicht gerade ideal, der Abstand nach vorne ist viel zu groß. Aber wir starten morgen auf einem anderen Reifen als die Autos vor uns. Das könnte für einige gute Möglichkeiten sorgen. Die Softs sollten ein guter Rennreifen sein und ich weiß, dass hier alles möglich ist" hofft Bottas dementsprechend.

"Ich muss aber aufpassen, nicht im Verkehr stecken zu bleiben, aber die weichen Reifen sollten mir die Gelegenheit bieten, nach vorne zu kommen, wenn die anderen an die Box gehen", ergänzt der Mann der Stunde - zuletzt holte Bottas in der WM einiges an Boden auf Vettel und Hamilton auf. Letzterer macht seinem Teamkollegen für dessen Aufholjagd Mut, will Hamilton doch unbedingt nicht nur Räikkönen, sondern im Idealfall auch noch Bottas zwischen sich und Hauptrivale Vettel sehen. "Das ist auch eine Strecke, auf der du überholen kannst, also war es kein allzu schlechter Ort, um sie in Kauf zu nehmen", kommentiert Hamilton die Gridstrafe Bottas'.

Der sieht sich selbst dazu auch völlig in der Lage - nicht nur wegen des möglichen Reifen-Vorteils. "Wir haben hier eindeutig ein schnelles Auto und wir waren das gesamte Wochenende über konkurrenzfähig. Ich habe das beste Auto und auch die Longruns waren gut", sagt Bottas. "Da muss ich nur auf der Strecke bleiben und Geduld haben. Die Möglichkeiten werden sicher kommen, ich muss nur darauf warten. Mein Ziel ist, wenigstens auf dem Podium zu stehen."

Red Bulls größte Chance in Silverstone in einem Bild, Foto: Red Bull
Red Bulls größte Chance in Silverstone in einem Bild, Foto: Red Bull

Fazit: In Silverstone ist die Messe trotz Hamilton-Gala im Qualifying noch lange nicht schon vor dem Rennen gelesen. Zu viele "Gelegenheiten", von denen alle Verfolger des Briten so gerne sprechen, bieten sich am Sonntag. Zunächst wie immer die Ungewissheit Start, dann die verdächtigen Aussagen der Ferrari-Piloten über erhebliche Verbesserungen einer ohnehin schon starken Longrun-Performance und die Sorgen Mercedes' über Selbige mit Blick auf das Verhalten der Reifen sowie die alternative Strategie von Bottas. Und dann könnte es ja auch noch regnen. Wundern würde sich in England darüber zumindest niemand. Ein ganz klarer Favorit ist aufgrund all dieser Faktoren jedoch nicht auszumachen. Kleine Details werden einen großen Unterschied machen, wie ein gewisser Kimi Räikkönen so gerne zu sagen pflegt.