In den letzten Wochen waren McLaren und Red Bull abwechselnd dabei, die Konkurrenz zu loben. Die beiden galten als klare Favoriten auf die WM-Titel in der Formel 1 2024, und hofften vor allem auf eines: Dass Ferrari und Mercedes sich zwischen sie schummelten und den jeweils anderen einbremsten. Das klang auf dem Papier gut. Doch Ferrari und Charles Leclerc haben andere Pläne. In Baku muss sich ihre Konkurrenz heute im Rennen warm anziehen.

Leclerc steht auf Pole. Zum (einschließlich Sprint) fünften Mal in Serie in Aserbaidschan. Auf dieser Strecke mutet er inzwischen schon fast unschlagbar an, daran lässt auch sein Vorsprung von 0,321 Sekunden keine Zweifel. Aber gewonnen hat er hier noch nie. Etwas, das sich heute sehr gut ändern kann. Denn heute sind die Ausgangsbedingungen anders.

Baku-Fluch statt Monaco-Fluch: Leclerc nimmt nächsten Sieg ins Visier

"2021 und 2023 war die Pole unerwartet, da hatten wir die Pace nicht, und 2022 war das Auto gut, und dann ist der Motor explodiert", fasst Leclerc nach dem Qualifying zusammen. 2024 ist die Lage anders. Der Ferrari SF-24 hat grundsätzlich schon einmal die Schwächen im Renn-Trimm längst ausgeräumt. Spätestens seit Leclercs Sieg in Monza sollte auch dem Letzten klar sein, dass dieses Auto inzwischen eines der besten, vielleicht aktuell sogar das beste in Sachen Reifenmanagement ist.

Das ist auch in Baku nicht anders. Bei schwierigen Bedingungen am Freitag fuhr Carlos Sainz den besten Longrun im 2. Training. Jedoch ist Leclerc benachteiligt: Ein Crash in FP1 und ein separater Schaden in FP2 hinderten ihn daran, selbst Longruns zu fahren: "Aber es ist eine ziemliche Stärke des Autos in diesem Jahr. Also bin ich für das Rennen unbesorgt."

Die Baku-Gleichung wird von weiteren Faktoren zugunsten von Leclerc und Ferrari gedreht. Zum einen ist da die Strecke an sich. Praktisch alle Kurven sind langsame 90-Grad-Ecken, und kein Auto ist in diesen so agil wie der SF-24. Dann ist da das Monza-Update. Ob es diesem Paket geschuldet ist, dass das Auto nun schon zum zweiten Rennen in Folge Ansprüche auf den Titel "Schnellstes Auto" erhebt, oder ob es an den Strecken liegt, lässt sich schwer sagen. Aber Schaden war es diesmal keiner.

Ferrari kehrt zurück in den WM-Kampf

So steht jetzt fest: Ja, der Ferrari hatte in Monza das Recht darauf, im Rennen als dem McLaren ebenbürtig eingeschätzt zu werden. Und in Baku hat er sich nach zwei Tagen das Recht erfahren, in Leclercs Händen als schnellstes Auto gesehen zu werden.

Auch wenn Ferrari also noch nicht weiß, wie nachhaltig dieser Erfolg mit dem Update-Paket sein wird, wenn es in zwei Rennen in den USA zurück auf eine herkömmliche Strecke geht, so ist Baku heute eine riesige Chance in der WM. Leclerc steht auf Pole, Oscar Piastri im McLaren neben ihm, Carlos Sainz dahinter bereits auf Platz drei. Red Bull? Sergio Perez auf vier, Max Verstappen auf sechs. Lando Norris? 16. nach einem durch Fehler und gelbe Flaggen bedingten Q1-Ausfall:

In der Konstrukteurs-WM fehlen Ferrari nur 39 Punkte auf Red Bull und 31 auf McLaren. Bei dieser Ausgangsposition, und mit dem ebenfalls potenziell dem Auto liegenden Singapur-GP nur eine Woche entfernt, können Leclerc und Sainz heute einen riesigen Satz machen und die die Angelegenheit in einen Dreikampf verwandeln. Nur Leclercs Fahrer-WM-Chancen werden wohl dürftig bleiben. Wobei: Sollte er gewinnen, und Norris maximal Zehnter werden, wäre Leclerc immerhin WM-Zweiter ...

McLaren in Baku mächtig unter Druck: Stallorder anderer Art für Oscar Piastri

Die Q1-Pleite von Norris versetzt McLaren unter Zugzwang. So viel also zu den Stallorder-Diskussionen vor dem Wochenende. Heute lautet die Order für Oscar Piastri: Du hilfst dem Team - und Teamkollegen - am ehesten, wenn du Leclerc schlägst und gewinnst. Eine Aufgabe, die auf dem Papier nicht unmöglich ist. Der McLaren ist in Baku nicht ganz so stark wie der Ferrari, aber stark genug, um aus eigener Kraft zu gewinnen.

Die Frage ist nur wie. Leclerc hat drei seiner bisherigen vier Baku-Poles in eine Führung in der ersten Runde umgemünzt. Was zugegebenermaßen bei nur 90 Metern bis zum ersten Bremspunkt keine große Kunst ist. Ist Piastri hinten, wird es zäh, selbst mit der mehr als passablen Rennpace des McLaren: "Wir haben gestern gesehen, dass es ziemlich hart ist, sobald du hinter jemandem bist."

Der Sprint-Start in Baku 2023, Foto: LAT Images
Der Sprint-Start in Baku 2023, Foto: LAT Images

Nur ein Stopp, Medium auf Hard ab Runde 13, wird bei herkömmlichem Rennverlauf in Baku prognostiziert. Der harte Reifen ist robust. Reifenausrüster Pirelli ist zuversichtlich, dass sich das bislang an diesem Wochenende niedrige Grip-Niveau bis zum Rennen ausreichend verbessert haben wird. Aber nicht mehr ganz so wie am Freitag.

Am Samstag blieb die Strecke dreckiger als angenommen. Das könnte mehr Rutschen, und damit mehr Graining am Heck auslösen. Ganz locker und berechenbar ist die Strategie also nicht. Und nur Mercedes fuhr am Freitag Longruns mit dem Hard. Der Rest weiß also nicht so recht, was zu erwarten ist.

Kleiner Baku-Matchball für Max Verstappen in der WM?

Fest steht, dass Lando Norris sich mit seinem 16. Starplatz keine Hoffnungen auf mehr als ein paar Punkte machen will: "Denn man kann nicht überholen. Es sind viele Autos, die ohne viel Flügel fahren und auf das Beste hoffen. Das macht es vielen Autos unmöglich, sie zu überholen." Obwohl in Baku die DRS-Zone hin zur ersten Kurve 2024 wieder um 100 Meter verlängert wurde. 2023 hatte man sie verkürzt und eine äußerst schläfrige Angelegenheit damit erzeugt.

Mit dem deprimierten Norris weit hinten ist Baku die Chance für Max Verstappen, sich in der Fahrer-WM wieder Luft zu verschaffen. Aber schon die Tatsache, dass Red Bull in diesem Favoritencheck bislang nicht vorkam, zeigt schon: Es könnte schwierig werden. Zwar half ein adaptierter Unterboden, die permanenten Balance-Schwankungen zu beruhigen, aber Durchbruch in Sachen Performance war er keiner.

Sergio Perez ist gar erster Red Bull in der Startaufstellung. Verstappen landete nur auf Platz sechs, hatte sich beim Setup verzettelt, nachdem er das ganze Wochenende ein Untersteuern in den 90-Grad-Kurven nicht losgeworden war. Kampfansagen gibt es von Red Bull keine. Trotzdem - auf dem Papier sah der RB20 hier bislang stark genug aus, um wieder den Anschluss an Ferrari und McLaren zu halten.

Wie Red Bull hat Mercedes währenddessen Probleme mit dem Unterboden. Das Zurückrüsten auf eine alte Spezifikation brachte in Baku zweifelhafte Ergebnisse. Trotzdem steht man mit George Russell auf P5 und Lewis Hamilton auf P7 in der gleichen Zone wie Red Bull. Ist man auch im Rennen in der gleichen Pace-Gruppe?

So bleibt heute ein Fazit übrig: Die acht Spitzenteams scheinen in Baku bislang näher beieinander als in Monza. Charles Leclerc zu schlagen wird trotzdem eine schwere Aufgabe. Größte Hilfe wäre eine Unterbrechung, ob durch Safety Car oder roter Flagge. Das könnte die Strategie auf den Kopf stellen. Alle aus der Spitzengruppe bis auf Mercedes haben daher einen zweiten Hard-Reifen in der Hinterhand behalten. Für den Fall, dass man gegen Runde 30 in eine Unterbrechung gerät. Dann könnte man wechseln, und die Konkurrenz mit alten Reifen potenziell abservieren.

Die Geschichte hat die Formel 1 in Sachen Chaos gelehrt: Baku hat eine breite Spanne. Es gibt nahezu ereignislose Rennen wie im Vorjahr. Oder aber Rennen wie 2021. Runde 45: Verstappen vor Perez vor Hamilton. Sechs Runden später, nach einem Crash, einer roten Flagge und einem Restart: Perez vor Sebastian Vettel und Pierre Gasly.