Die Disqualifikation von George Russell ist Pech für ihn, und auch Pech für die Geschichte dieses Formel-1-Rennens in Spa. Wegen eines untergewichtigen Mercedes verschwindet eine strategische Meisterleistung aus dem Ergebnis. Zu hinterfragen ist dieser Grand Prix trotzdem: Wie konnten die F1-Strategen so danebenliegen?
Das Grundprinzip schien vor dem Rennen allen klar. Überholen ist relativ einfach. Die Kemmel-Gerade bietet eine lange DRS-Zone. Schon in der Vergangenheit war Überholen hier kein nennenswertes Problem. Erst recht mit Reifenvorteil - sprich, mit Traktionsvorteil aus der vorangestellten La-Source-Haarnadel heraus.
Der erste fatale Irrtum war die Annahme, dass der Reifenverschleiß hoch sein würde. Das war er auch - am Freitag. Bei kühleren Temperaturen und einer zur Hälfte neu asphaltierten Strecke rutschten die mit wenig Abtrieb ausgestatteten Autos zu viel und starteten früh eine Graining-Spirale. Mehrere Teams versuchten mehr Abtrieb, um dem Problem Herr zu werden. Eine Zweistopp-Strategie mit harten Reifen galt als vorprogrammiert.
Dann wurde die Strecke am Samstag vom Regen gewaschen, am Sonntag auf 40 Grad aufgeheizt. Aber erst als alle im Mittelstint den Hard aufzogen und länger damit fuhren, stellten die Fahrer fest, dass kein Abfall kam. Kein Verschleiß bedeutete natürlich schwereres Überholen. An einem Tag, an dem Überholen sowieso schon schwerer gemacht wurde.
Wie im Vorjahr blies im Rennverlauf der Wind mit Geschwindigkeiten zwischen einem und zehn Kilometer pro Stunde. Aber 2023 war es Gegenwind auf der Kemmel-Geraden, 2024 Rückenwind. Das machte die Topspeeds 2024 deutlich höher - aber das bedeutet nicht einfacheres Überholen. Bei Gegenwind ist die Differenz zwischen geschlossenem und offenem DRS größer. Obendrauf wurde das Kemmel-DRS um 75 Meter verkürzt. Und seit Monaten klagen die Fahrer, dass Hinterherfahren 2024 schwieriger ist.
Kein Team traut dem Einstopp-Braten in Spa: Warum auch?
Diese Faktoren sind nach dem Rennen leicht zusammenzufassen. In der Hitze des Gefechts ist es schwieriger, sie mit Sicherheit festzustellen. Der Medium-Reifen, mit dem fast allen den Start fuhren, war nicht berauschend. "Die um 10 Grad höhere Streckentemperatur hat wohl dazu beigetragen, dass das Graining auf dem Hard kaum vorkam, während es auf einem langen Medium-Stint signifikant war", mutmaßt Pirellis Motorsport-Chef Mario Isola.
20 Runden nach Rennbeginn hatten die Strategen daher die Situation noch immer nicht in ihrem ganzen Umfang erfasst. Bei Mercedes prognostizierte das Strategie-Planungssystem für Russell selbst vor Runde 30 noch, dass er an diesem Punkt sowohl mit einem als auch mit zwei Stopps Fünfter werden würde. Von außen wurde das Problem verschleiert.
Der Führende Lewis Hamilton betrieb Management und richtete in freier Luft seine Pace an seinem ersten Verfolger Charles Leclerc aus. Alle anderen steckten in verschieden schwierigen Verkehrs-Lagen fest. Russell wurde erst schneller, nachdem er in Runde 21 Sergio Perez überholte. Der drittplatzierte Oscar Piastri wurde erst schneller, nachdem in den Runden 25 und 26 Hamilton und Leclerc vor ihm stoppten. Selbst dann war Piastris aggressive erste Runde in freier Luft wohl etwas zu schnell, er erlebte als Folge einen kleinen Einbruch: "Danach schien der Verschleiß etwas zuzunehmen."
Für die Strategen stand der zweite Stopp außer Frage. Hamilton hatte bis dahin in freier Luft das Rennen kontrolliert. Leclerc war hinter ihm aus dem Undercut-Fenster gefallen, sein früher zweiter Stopp in Runde 25 ein verzweifelter Versuch, noch einmal Druck aufzubauen. Da Carlos Sainz zu Rennbeginn bewiesen hatte, dass der Hard 20 Runden halten konnte, waren Stopps zu diesem Zeitpunkt völlig logisch.
Nur Zocker Russell & Alonso steigen auf das Strategie-Risiko ein
In George Russells Gehirn setzte die Information, dass Leclerc wieder stoppte, andere Dinge in Bewegung. Er war zu dem Zeitpunkt aussichtsloser Vierter, aber seit ein paar Runden in freier Luft. Sein erster Einstopp-Vorschlag stieß bei der Box auf begrenztes Interesse. Sie versuchte Russell vielmehr zu einer höheren Schlagzahl zu treiben, um sich gegen mögliche Undercuts von Sergio Perez und Lando Norris dahinter abzusichern.
Dem hielt Russell in Runde 28 eine erneute Frage entgegen, dann den Hinweis, dass die harten Reifen immer schneller würden. Anders als Piastri hatte er nach seinem Überholmanöver gegen Perez sachte die Pace angezogen, und konnte das Runde um Runde machen. Mercedes wurde aufgeschlossener, hielt aber dagegen: "Wir denken, es ist schneller, zu stoppen."
Schließlich stoppte auch Norris in Runde 29 nahe dem Undercut-Fenster, woraufhin die Mercedes-Strategen grünes Licht gaben. Ähnliches spielte sich mehrere Plätze weiter hinten bei Fernando Alonso ab, der seine Mittelfeld-"Führung" wegen aggressiver Undercuts an Daniel Ricciardo verloren hatte. Die Aston-Martin-Strategen waren offen, Alonso unsicher: "Schwierig. [Die Zweistopper] werden kommen. Eine magische Lösung gibt es denke ich nicht."
McLaren hat zu viel zu verlieren: Kein Risiko mit Oscar Piastris Podium
Was Russell und Alonso einte: Sie hatten wenig zu verlieren. Alonso hatte seine Punkte effektiv schon an Undercut-Fahrer verloren, und Russell war nur am hinteren Ende der Spitzengruppe unterwegs. Die Strategen waren williger, hier nachzugeben. McLaren evaluierte vorne auch bei Oscar Piastri die Chancen, aber war nicht überzeugt. "Wenn diese Strategie nicht funktioniert, dann tut es richtig weh", mahnt Teamchef Andrea Stella. Man hätte ein Podium weggeworfen.
Fälschlicherweise ging man zu dem Zeitpunkt noch immer davon aus, durch das längere Draußenbleiben danach mit Reifenvorteil Leclerc und Hamilton auf der Strecke überholen zu können. Ganz abschreiben will Stella das selbst nach dem Rennen nicht. Piastri hatte beim Stopp zwei Sekunden verschenkt, als er beinahe seinen Wagenheber-Mann über den Haufen fuhr: "Er wäre früher hinter Leclerc gewesen, hätte das Manöver früher erledigen können. Ein bisschen eine Kaskade."
So musste Piastri mehr Reifenperformance in der verwirbelten Luft von Leclerc verfeuern, um den Ferrari nach dem Stopp endlich zu überholen. Er kam zu spät am Ort des Mercedes-Geschehens an, hatte erst in der letzten Runde DRS. Auch bei Norris entschied McLaren gegen Risiko. Er wäre sowieso hinter Russell gesteckt. Sein primäres Ziel war allerdings Verstappen.
Verstappen rettet sich vor Norris: Macht der Fahrer den Unterschied?
"Landos Plan war robust, wir waren nur überrascht, dass du nicht überholen konntest", entgegnet Stella. "Es könnte auch zeigen, was für ein Fahrer Verstappen ist. Er hat den Medium durch den letzten Stint gebracht, das konnten nicht viele. Wir dachten, sein Reifen würde abfallen. Das tat er nicht."
Red Bull hatte am Freitag falsch getippt und nur einen der fast unzerstörbaren Hard für das Rennen mitgenommen. Den verbriet Verstappen in einem 18 Runden langen Mittelstint. "Der Medium hat bei Max toll gehalten, das war nicht das Problem", entgegnet Dr. Helmut Marko der Kritik auf ServusTV. Red Bull ist sich sicher: Der RB20 hätte gewinnen können. Ohne Motorstrafe.
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