2024 hat sich die Formel 1 zu einer echten Zweiklassengesellschaft gewandelt. Wie schwer Punkte für das Hinterfeld sind, haben wir hier erklärt. Ist dieser Schwierigkeitsgrad aber noch fair? Die Motorsport-Magazin.com-Redakteure Markus Steinrisser und Tobias Mühlbauer debattieren Pro und Contra.

Pro: Die moderne Formel 1 braucht geordnete Zustände

Ich möchte vorausschicken, dass das Punktesystem in der Formel 1 kein Sakrileg ist. Es wurde schon mehrmals geändert, und es wird auch irgendwann wieder geändert werden. Ist jetzt ein guter Zeitpunkt für, sagen wir, Punkte von P1 bis P15? Ja, denn: Die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Budget-Obergrenze, strenges Technik-Reglement, nahezu perfekte Zuverlässigkeit, Entwicklungsbeschränkungen verengen die Lücken extrem. Was aber zugleich nicht bedeutet, dass alle 10 Teams auf einem Fleck kleben. Die einen sind eben Hersteller, die anderen Semi-Privatiers.

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So ergibt sich der Umstand, dass sich eine Topgruppe und eine Hinterbänklergruppe gebildet haben. Die Hinterbänkler fechten genauso enge Kämpfe aus, aber um sie zu sortieren, priorisieren wir jene Rennen, in denen jemand aus der Spitzengruppe patzt. Man sieht es schon in der WM-Tabelle 2024. Dass das Haas-Duo Nico Hülkenberg und Kevin Magnussen im Tandem deutlich besser abschneidet als die Racing Bulls mit ihrem Einzelkämpfer Yuki Tsunoda geht unter, weil Tsunoda von drei Topteam-Ausfällen in Australien sechs Punkte geschenkt bekam. Unverdient große Vorsprünge kommen zustande, und können zu Unrecht uneinholbar werden.

So droht Beliebigkeit die WM zu entscheiden. Blöd nur, dass gerade in der Teamwertung ein einzelner Platz über 10 Millionen US-Dollar an Preisgeld ausmachen kann. An dieser Stelle bin ich bereit anzumerken: Mit dem alten System mit Punkten für die ersten sechs hätte ich weniger Probleme. Da wäre ein Punkt eine wirkliche Errungenschaft, selbst für die Spitze. Auch Mercedes hätte erst drei Punkte. Aber die nahezu perfekte Zuverlässigkeit des modernen Motorsports würde wohl dazu führen, dass die unteren fünf Teams dann gar keine Punkte mehr holen.

Folglich sind mehr Punkte eine sinnvolle Lösung. Natürlich können sich die Kräfteverhältnisse in den nächsten Jahren wieder auf den Kopf stellen - aber prinzipiell ist es auch dann kein Fehler, mehr Punkte zu vergeben. Abgesehen von der Tatsache, dass die eingangs angesprochenen Umstände wahrscheinlich inzwischen das Feld wieder ähnlich wie 2024 zusammenschieben würden. 2024 zeigt eben: Es wäre in der modernen Formel 1 schlicht zeitgemäßer.

Markus Steinrisser

Contra: Kräfteverhältnisse ändern sich, na und?

Die Einführung des aktuellen Punktesystems 2010 hatte zwei Gründe: Zum einen wurde die Zuverlässigkeit der Autos in Zeiten von eingefrorenen V8-Motoren immer besser. Zum anderen kamen gleich drei neue Teams in die Formel 1, die damit 24 Starter hatte. Blicken wir 14 Jahre später auf die Königklasse, so haben wir wieder einen hohen Grad an Zuverlässigkeit, aber nurmehr 20 Fahrzeuge in der Startaufstellung. Wieso sollte also etwas geändert werden? Wieso sollten mehr als die Hälfte des Feldes Punkte bekommen? Das hat es in der Formel 1 noch nie gegeben, und das sollte es auch nicht.

Das Argument für ein neues Punktesystem entsteht nicht aus den allgemeinen Bedingungen der Königklasse, sondern einzig aus dem aktuellen Kräfteverhältnis. 2024 gibt es fünf Topteams. Wenn Lance Stroll nichts übriglässt oder einer der anderen ausfällt, dann gibt es keine Punkte für das Mittelfeld. Das stimmt, keine Frage. Aber wo liegt das Problem? 24 Rennen bieten so viele Chancen auf Ausrutscher wie noch nie zuvor. Yuki Tsunoda hat bereits 7 Zähler auf dem Konto, das sind 5 mehr als zum gleichen Zeitpunkt in der Vorsaison. Haas hat bereits drei Punkteankünfte in vier Rennen. Es geht doch.

Für die einen mag die Lage der 'Formel 1,5' sehr trostlos aussehen, aber ich empfinde sie als höchstspannend. Punkte sind für diese Teams wieder etwas so Besonderes wie noch zu Zeiten, als nur die Top-6 Zähler erhielten. Und jedes einzelne Ergebnis kann die WM-Wertung der zweiten Liga auf den Kopf stellen. Williams, Sauber und Co. müssen immer ihr Bestes geben, um da zu sein, wenn sich doch einmal die goldene Gelegenheit ergibt. In Australien war dies bereits der Fall.

Außerdem muss die Lage nicht so verbleiben. Jahrelang haben Mercedes, Red Bull und Ferrari die Top-6 unter sich ausgemacht. Jetzt sind McLaren und Aston Martin dazugestoßen. Alpine hingegen ist abgerutscht. So erging es beispielsweise auch Ferrari 2020. Schwankungen im Feld wird es immer geben. Wenn wir Punkte für die Top-12 vergeben würden, wer sagt uns dann, dass nächstes Jahr nicht ein sechstes Team (etwa die Racing Bulls) vorne dabei ist? Und 2026 steht ein neues Reglement an. Dann könnte alles wieder anders sein, und die Ankunftsquote höchstwahrscheinlich geringer. Eine Änderung des Punktesystems wäre nichts anderes als ein unnötiger Schnellschuss.

Tobias Mühlbauer