Pirelli-Reifensaga im MSM-Schnell-Check:
- Vettel/Rosberg-Reifenplazer in Spa als Auslöser
- Harte Pirelli-Kritik von Vettel, Rosberg, Hamilton
- Analyse: Pirelli stellt 63 Schnitte fest - 54 mal mehr als normal
- FOM stellt sich hinter Pirelli
- Verschärfte Grenzwerte für Reifendruck und Sturz ab Monza
- Großer Widerspruch gegen neue Limits im Fahrerlager
- Pirelli korrigiert astronomische Werte nach unten
- Ecclestone bestellt Kritiker zum Rapport
- Fahrer und Teamchefs mit Kompromiss zufrieden
- Pirelli fordert mehr Tests und Kommunikation
Wie kam es zu der aktuellen Reifendiskussion?
Zwei Jahre herrschte verhältnismäßig Ruhe um Pirelli. Nach den Dramen Mitte der Saison 2013, als es in Silverstone zu einem regelrechten Reifenmassaker gekommen war, blieb es lange Zeit still. Dann der Große Preis von Spa 2015. Im Training platze Nico Rosberg bei 300 km/h ein Reifen - Ablfug. Im Rennen erwischte es zwei Runden vor Schluss den drittplatzierten Sebastian Vettel kurz nach der Eau Rouge - Abflug, Ausfall. Und Aufregung: Vettel wetterte nach Rennende heftig in Richtung des italienischen Reifenherstellers. Die Qualität sei miserabel, sagte der Deutsche.
In Spa kommentierte Pirelli den Schaden Rosbergs relativ zügig. Der Mercedes-Pilot sei über Trümmerteile gefahren, hieß es. Rosberg selbst konnte dies nachvollziehen, 100 Prozent zufrieden gab er sich in Belgien mit diesem Ergebis allerdings nicht. Im fehlte ein eindeutiger Beweis. Auch im übrigen Fahrerlager machte sich Sorge breit. Lewis Hamilton etwa soll sich sogar nach einem neuen Reifenhersteller erkundigt haben.
Im Fall Vettel hingehen hieß es aus dem Pirelli-Lager recht schnell, Ferrari habe schlicht eine zu aggressive Strategie verfolgt, sei zu lang auf einem Satz unterwegs gewesen. Man habe kürzere Stints empfohlen. Ferrari und Vettel widersprachen vehement. Auch das Fehlen von Obergrenzen im Reglement bemängelte der Hersteller. Schließlich startete Pirelli eine gründliche Untersuchung, einerseits um den genauen Ursachen der Reifenschäden nachzugehen. Andererseits auch, um Sticheleien Michelins abzuwehren. Die Franzosen hatten die Situation sofort genutzt und Morgenluft im Ringen um die Lieferantenlizenz ab 2017 gewittert.
Was kam bei der Analyse seitens Pirelli heraus?
Zunächst einmal dauerte es. Kurz vor dem Italien GP verschickte Pirelli eine Pressemitteilung, in der man einzig mitteilte, die Untersuchung sei zwar abgeschlossen, aber die Ergebnisse werde man erst in Monza präsentieren. Dort meldete sich zunächst allerdings nicht Pirelli, sondern die FIA mit einem Statement, nachdem der Reifenhersteller den Verband vorab unterrichtet hatte.
Das Ergebnis: Ein strukturelles Problem der Reifen schloss Pirelli kategorisch aus. Stattdessen habe man ungewöhnlich viele Schnitte in den Reifen von Spa entdeckt. Insgesamt 63 und damit 54 mal mehr als für gewöhnlich an Rennwochenenden. Als Ursache machte Pirelli die ebenso außergewöhnlich vielen Unfälle in den Rahmenserien aus. Diese hätten signifikant mehr kleine Trümmerteile auf der Strecke hinterlassen.
Im Fall Rosberg habe jedoch ein großes Teil den Schaden herbei geführt. Bei Vettel habe die lange Laufzeit den Reifen durch dessen Verschleiß schlicht anfälliger gemacht - bereits durch sehr kleine Karbonteile. Nach Vettels 27 Runden auf den Medium-Reifen hätten sich laut den Italienern nur noch 30 Prozent Gummi auf dem Reifen befunden.
Sebastian Vettel äußerte sich in Monza zufrieden über die vorbildliche und gründliche Analyse und deren konkrete Ergebnisse, forderte allerdings, auf lange Sicht müsse genau verstanden werden, woher das Problem exakt rühre. "Die Untersuchungen und Analysen die bisher gemacht wurden, erklären einiges, aber vermutlich nicht alles und sind deshalb immer noch nicht abgeschlossen", sagte Vettel nach der Bekanntgabe von Pirelli am Donnerstag in Monza.
Welche Regeln gelten jetzt in Monza?
Obwohl Pirelli ein strukturelles Problem ausgeschlossen hatte, startete man in Monza damit, neue Vorgaben für Sturz und Reifendruck aufzustellen, um die Gefahr plötzlicher Reifenplatzer zu vermeiden. Gerade dort wegen der extremen Geschwindigkeiten ein sensibles Thema. Diese Limits existieren zwar schon seit der Problem-Saison 2013, doch nun verschärfte Pirelli die Grenzwerte zunächst massiv: Von 18 auf 23 PSI (bzw. von 1,2 auf 1,6 Bar) sollte der Luftdruck angehoben werden, also um 35 Prozent. Welten in der Formel 1.
Entsprechend regte sich Widerstand bei Teams und Fahrern. Diese hatten nie zuvor mit derart hohen Reifendrücken getestet. Nico Rosberg warnte, man müsse vorsichtig sein, wenn man in Bereiche gehe, in denen man nie gewesen sei. Schließlich sei auch mit Nebeneffekten zu rechnen. Lewis Hamilton bezeichnete einen Anstieg um fünf PSI als falsch, dafür seien die Reifen nicht ausgelegt, es werde ein Desaster.
Prompt reagierte Pirelli und korrigierte die Vorgaben kurz vor dem Freitagstraining nach unten. Aktuell ist von 21 PSI auf der Vorderachse und 19,5 PSI auf hinten die Rede - also immernoch deutlich höher als ursprünglich. Durch einen stärker eingeschränkten Sturz will Pirelli derweil verhindern, dass der Reifen auf den Geraden mehr Auflagefläche hat. Die Teams präferieren stärkeren Sturz, damit der Reifen bei der Kurvenfahrt mehr Bodenkontakt hat. Welcher Reifendruck am Sonntag verwendet werden muss, ist derweil noch offen. Eine Entscheidung scheint nicht leicht zu fallen. "Natürlich ist es nicht bei jedem Team gleich. Also musst du deine Analyse auf das gesamte Feld beziehen", sagte Paul Hembery.
Was sagt Pirelli jetzt?
"Für dieses Rennen haben wir unsere Limits für Druck und Sturz gegenüber dem, was vorher gegolten, hat angepasst. Die Autos werden schneller und schneller, besonders wenn die Entwicklung in der zweiten Saisonhälfte voranschreitet. Die neuen Parameter sollten es den Fahrern erlauben, die maximale Performance und Haltbarkeit aus den Reifen heraus zu holen", sagte Pirellis Motorsportchef Paul Hembery am Freitagabend. "Basierend auf dem, was wir heute gesehen haben, gab es keine Probleme mit Blasenbildung, was eines der Bedenken ist, wenn du die Reifendrücke erhöhst. Es scheint für die überragende Mehrheit der Leute zu funktionieren", sagte Hembery.
Was sagt Bernie Ecclestone?
Bernie Ecclestone und die FOM - Inhaber der kommerziellen Rechte der F1 - machten sich für Pirelli stark. Die FOM warb in einem Statement um Verständnis für den Reifenhersteller, schließlich wäre es ihr der ausdrückliche Wunsch gewesen, dass Pirelli stark abbauende Reifen entwickelt: "Wir haben weiterhin vollstes Vertrauen in Sicherheit, Qualität und Haltbarkeit ihrer Reifen." In der Pflicht seien nun die Teams: "Die Teilnehmer sollten auf Pirellis Expertenrat hören, wenn sie ihre Rennstrategie und Taktik auslegen. Wenn sie das nicht machen, ist es ihr eigenes Risiko", hieß es.
Bernie Ecclestone trommelte kurz darauf die kritischen Fahrer, Teams und Pirelli zu einem Gipfeltreffen zusammen. Man müsse miteinander reden und sich bei Problemen an den Partner wenden, nicht an die Öffentlichkeit, kritisierte der F1-Boss. Pirelli stärkte er wie zuvor die FOM klar den Rücken. "Wir lassen sie nicht gehen, sie machen einen guten Job", sagte Ecclestone.
Wie bewerten die Fahrer die neuen Limits für Druck und Sturz?
Mit den für das Training gewählten Grenzwerten zeigten sich die Fahrer schließlich durch die Bank zufrieden. Große Unterschiede stellte kein Pilot fest. "Es ist nicht extrem anders", sagte Nico Rosberg nach dem zweiten Training. "Man rutscht ein bisschen mehr, aber wenn es für die Sicherheit wichtig ist, dann nehmen wir das gerne in Kauf."
Genauso sah es nun Teamkollege Lewis Hamilton nach seiner harten Kritik am Vortag. "Es war auf jeden Fall ein bisschen rutschiger, die Reifen können nicht die optimale Haftung aufbauen. Deshalb haben wir ein bisschen Grip verloren, aber nicht massiv", sagte der Weltmeister. "Jetzt ist es nur ein PSI oder so, da überhitzen die Reifen vielleicht ein bisschen stärker als in der Vergangenheit, aber das ist kein großes Problem."
Anderes Team, gleiches Fazit: "Ehrlich gesagt, ist es okay. Sie sind von dem, was sie ursprünglich gesagt haben, ja noch mal runtergegangen. Es ist nicht mehr so viel mehr. Es fühlt sich recht normal an. Und Monza ist ja sowieso ein einzigartiger Kurs, du fährst so wenig Flügel", sagte Daniel Ricciardo. Auch beim Juniorteam gab es keine Besonderheiten. "Es ist kein großer Unterschied. Es fühlt sich normal an. Die Topzeiten sind sehr schnell. Es gibt auch keinen Unterschied zwischen Longrun und Shortrun. Nichts außergewöhnliches", sagte Carlos Sainz. "Der Reifendruck war nur ein bisschen höher, weil sie es am Ende nochmal reduziert haben. Wir haben nicht viel bemerkt", ergänzte Verstappen.
"Es ist ein bisschen anders, aber ich glaube, man hat das auch in den Stunden bevor es losging noch ein bisschen gedrückt, damit es nicht zu extrem ist. Letzten Endes ist es für alle gleich, also wurscht", bestätigte Sebastian Vettel. Landsmann Nico Hülkenberg zeigte sich ebenfalls zufrieden mit dem Kompromiss Pirellis: "Ich merke nicht viel Unterschied. Pirelli hat es gestern noch runterreguliert. Es ist nicht so dramatisch, dass man glaubt, man hat Holzreifen drauf. Es ist transparent für uns im Auto."
"Es scheint kein Problem zu sein, man kann immer noch schnell fahren. Ich dachte, auf schnelleren Kursen würde das ein Problem werden, aber es ist alles ok. Wir hatten auch wenig Abbau, das ist schön zu sehen in Sachen Sicherheit", sagte Jenson Button.
Einzig bei Lotus spürte man einen etwas größeren Unterschied und bemängelte die zusätzliche Arbeit. "Das Heck rutscht etwas mehr als sonst, besonders auf einer Runde. Wenn du am Anfang mehr rutscht, wirst du auch später mehr rutschen. Wir müssen mehr darauf achten", sagte Pastor Maldonado. "Durch die Einschränkung im Bereich des Reifendrucks hat sich etwas die Arbeit verändert. Man kann spüren, dass es härter zu fahren ist und die Reifen zu managen. Einige Autos werden mehr als andere zu kämpfen haben. Auf eine Runde im Quali wird es sich nicht so sehr auswirken, eher im Rennen. Wir haben noch etwas Arbeit vor uns, um es richtig hinzubekommen", ergänzte Grosjean.
Was sagen die Teamchefs?
Nach dem Rapport bei Bernie äußerten sich auch die Teamchefs milde. Plötzlich Lob allerorten. "Ich bin absolut zufrieden mit dem Reifendruck. Wir haben eine sehr klare Information von Pirelli bekommen und sind damit voll und ganz zufrieden", sagte Maurizio Arrivabene. "Heute hatten wir noch ein konstruktives Meeting und wir werden uns noch öfters treffen, um die Kommunikation untereinander zu verbessern."
Red Bulls Christian Horner pflichtete dem Ferrari-Teamchef bei. "In den Longruns, die wir im Training gefahren sind, war alles 100 Prozent normal. Hoffentlich gibt es dieses Wochenende keine Probleme. Ich denke aber, dass Pirelli gut auf die Situation vom vergangenen Wochenende reagiert hat, aber Maurizio ist da wohl viel besser informiert als ich", sagte Horner. Eine kleine Spitze gegen Pirelli konnte sich der Chefbulle allerdings nicht verkneifen: "Ich bin nicht ganz sicher, wo die Reifendrücke gerade eigentlich liegen: sie scheinen hoch und runter zu gehen wie der Ellenbogen eines Geigers."
Wie geht es jetzt weiter?
Schon nach dem Qualifying in Spa hatten Pirelli und Mercedes die FIA darum gebeten, die Strecke noch einmal mit äußerster Sorgfalt zu reinigen. In Zukunft will Pirelli deshalb gemeinsam mit dem Automobilweltverband daran arbeiten, das Prozedere für die Reinigung der Strecke zu verbessern.
Die FIA signalisiert aber auch Bereitschaft, kurzfristig etwas zu ändern, um die Sicherheit zu gewährleisten. Wie diese Änderungen aussehen könnten, wird offengelassen. Möglich wäre ein Limit, wie viele Runden auf einem Reifensatz maximal zurückgelegt werden dürfen. Das fordert Pirelli bereits seit längerer Zeit. Die Limits für Sturz und Reifendruck will Pirelli künftig auf Basis von Daten der Teams und angepasst an die jeweiligen Streckenbedingungen vor jeden Rennwochenende neu definieren.
Schließlich forderte Pirelli einen weiter gesunden Austausch mit den Teams (der finde bereits statt - nur nicht in der Presse) und für die Zukunft mehr Testmöglichkeiten der Reifen, insbesondere im Hinblick auf die revolutionären Regeländerungen in der Saison 2017. "In den vergangenen Jahren waren die Reifenhersteller in der Lage, jede Saison 100.000 km zu testen, und wir können momentan nicht einmal ein Formel-1-Auto zum Testen verwenden", kritisierte Hembery in der Teamchef-PK in Monza. Ohne mehr Test könne man sich ein weiteres Engagement in der F1 nicht vorstellen, erneurte Pirelli eine bereits ältere Forderung.
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