Das Formel-1-Rennen in China bietet eine spannendere Ausgangslage als viele noch am Freitag erwartet hätten. Nach dem Training sah McLaren unantastbar aus und auch im Sprint-Qualifying scheiterte eine McLaren-Pole in erster Linie am Unvermögen von Lando Norris, in Q3 eine schnelle Runde fehlerfrei zu Ende zu bringen, als an der Konkurrenz.

Doch im Sprint blieb der erwartete McLaren-Gipfelsturm anschließend aus: Lewis Hamilton dominierte von Platz 1 aus und fuhr seinen ersten Ferrari-Sieg ein, ohne Gegenwehr von Oscar Piastri und schon gar nicht von Lando Norris, die weiter hinten beschäftigt waren. Im Qualifying erfüllte McLaren erstmals tatsächlich die Favoritenrolle und Piastri sicherte sich die Pole Position. Doch die Frage nach der Favoritenrolle im Rennen ist dennoch nicht so einfach zu beantworten.

Sechskampf um den Formel-1-Sieg in China

Red-Bull-Motorsportberater Dr. Helmut Marko rechnet mit einem Sechskampf zwischen den vier Topteams minus Andrea Kimi Antonelli und Liam Lawson. Vor allem der Sprint zeigte, dass der MCL39 bei weitem nicht so überlegen ist, wie er zu Beginn des Wochenendes schien. Die Streckenbeschaffenheit des neu asphaltierten Shanghai International Circuit tut vielleicht der starken Performance des Boliden keinen Abbruch, sie macht es aber deutlich schwieriger, ihn unter Kontrolle zu halten.

Der Asphalt in Shanghai liefert an sich viel Grip, solange man die Kurven trifft, hat aber ein sehr spitzes Fenster, das zufällt, wenn man es ein bisschen übertreibt. Ein Charakteristikum, das auch auf den McLaren zuzutreffen scheint, wie Lando Norris schon mehrmals hervorhob und durch mehrere verworfene Quali-Runden unter Beweis gestellt hatte.

Sprich: Der McLaren ist zwar schnell, aber sehr schwierig zu fahren, die Strecke betont diese Schwachstelle. Zwar konnte zwischen dem Sprint und dem Qualifying für den Grand Prix das Setup angepasst werden, allerdings erklärte Teamchef Andrea Stella bewusst vage, dass sich diese Eigenschaft des Autos nicht innerhalb eines Rennwochenendes abdrehen lässt.

McLaren vs. Ferrari: Wer kann in Shanghai besser mit den Reifen haushalten?

Der Reifenverschleiß ist ein weiterer Faktor, bei dem trotz des ersten F1-Sprints der Saison am Samstag das Kräfteverhältnis noch größtenteils unklar ist. Bei McLaren ist man sich angesichts dessen uneins: Lando Norris klagte schon nach wenigen Runden im Kurzrennen über seine Reifen, Oscar Piastri hingegen zeigte sich vorsichtig zufrieden: "Ich denke, für meinen eigenen Sprint habe ich das Gefühl, dass ich eine vernünftige Arbeit geleistet habe, es war nur schwierig, an Max vorbeizukommen."

Norris führt das auf eine persönliche Präferenz zurück: "Oscar hat eine gute Pace gezeigt - ich definitiv nicht. Vor allem in der Rennpace. Immer wenn wir mit Graining an den Vorderreifen zu tun haben, dann ist das etwas, mit dem ich persönlich viele Probleme habe." Man kann aber auch dagegenhalten: Norris steckte nach der schlechten Startphase viel tiefer im Verkehr und ruinierte sich so auf den ersten Runden seine Pneus, Piastri hatte zwar auch Verkehr vor sich, aber wesentlich weniger und auch entsprechend weniger 'Dirty Air'.

Ähnlich wie bei Piastri lässt sich auch die Stimmungslage bei Ferrari mit Blick auf den Reifenabbau einschätzen. Hamilton dominierte den Sprint und hatte als einer der wenigen Fahrer kaum Probleme mit dem allgegenwärtigen Graining. Er hatte allerdings erst recht den Vorteil, dass er das ganze Rennen freie Fahrt hatte.

Ein gewichtigeres Indiz lieferte wohl Charles Leclerc, der sich gegen Ende des Sprints an George Russell heranpirschen konnte – für eine Attacke kam er zu spät. "Mit den längeren Stints morgen können wir hoffentlich unseren Vorteil beim Reifenverschleiß nutzen", sagte der Monegasse.

Überholen schwierig: Hat das Hamilton-Team Sieg im Qualifying verspielt?

Aber Reifenvorteil ist die eine Sache. Bereits der Sprint bewies, dass auf dem frisch asphaltierten Formel-1-Kurs in Shanghai die Track Position eine ungleich entscheidendere Rolle spielt als auf vielen anderen Strecken. Mit den Startpositionen 5 und 6 befindet sich die Scuderia dahingehend klar im Hintertreffen.

McLaren hat hingegen auf 1 und 3 fast alle Trümpfe in der Hand. Dazwischen stört nur George Russell, der im Qualifying spät überraschen konnte, sich mit Blick auf das Formel-1-Rennen aber keinen Illusionen hingibt. "Ich denke McLaren ist noch immer allen einen Schritt voraus", ist er überzeugt.

Die Scuderia hat auch er auf dem Schirm, jedoch mit Abstrichen: "Ferrari war die große Überraschung im Sprint, aber morgen ist ein anderes Spiel." Er spielt damit vor allem auf eine Unbekannte an, an deren Entschlüsselung sich noch überhaupt niemand gewagt hat: "Es gibt noch den harten Reifen – niemand ist mit dem bisher gefahren. Deshalb erwarte ich ein bisschen ein anderes Resulat."

Dass der harte C2-Reifen bislang noch vernachlässigt wurde, hat nämlich den ganz einfachen Grund, dass ihn alle als Rennreifen auf der Rechnung haben, gerne auch in doppelter Ausführung. Pirelli geht aufgrund des durch die oberflächige Reifenkörnung verursachten massiven Performance-Verlustes davon aus, dass an einer 2-Stopp-Strategie kein Weg vorbeiführt und dabei Medium und Hard (also C3 und C2) das Mittel der Wahl sein werden.

Eine 2-Stopp spielt vor allem jenen Teams in die Hände, die von weiter hinten losfahren. Also in erster Linie Ferrari. Die Startposition sei also entgegen weit verbreiteter anderer Meinungen kein so gewichtiger Faktor, glaubt Teamchef Fred Vasseur: "Ich denke es wird morgen vielmehr auf die Konstanz im Rennen ankommen, als auf die Startposition."

Max Verstappen pessimistisch: Podium ist zu viel verlangt

Für den von Marko prognostizierten Sechskampf haben wir aber bislang einen Kandidaten außen vorgelassen: Max Verstappen. Der amtierende Formel-1-Weltmeister geht von Platz 4 ins Rennen, also noch vor den Ferraris. "Generell sollte unser Setup deutlich besser sein", baute Marko auf die Red-Bull-Rennpace und zählt den vierfachen Champion deshalb zu den Sieganwärtern.

Das Stimmungsbarometer von Verstappen selbst schlägt aber weit weniger in Richtung Optimismus aus, als jenes von Marko. Der Niederländer sieht seinen Kampf nicht mit den Top-3, sondern vielmehr mit dem Ferrari-Duo hinter sich. "Wir haben ein paar Veränderungen vorgenommen, ich hoffe, dass es ein bisschen besser läuft, aber ich erwarte nicht, dass es ein Unterschied wie Tag und Nacht ist, wenn es darum geht, mit den Autos vor uns mitzuhalten", so der 27-Jährige.

Verstappen stellt sich also auf einen schwierigen Grand Prix ein. Ein Podium wäre "zu viel verlangt" ist sich der Vorjahres-Sieger des Formel-1-Rennens in Shanghai sicher. Er geht davon aus, dass der Red Bull nur die vierte Kraft im Feld ist. "Der Abstand nach vorne sieht ziemlich gering aus, aber ich denke nicht, dass es ein realitätsgetreuer Abstand ist", sagt er.

Lewis Hamilton watscht Kritiker mit Sprint-Sieg ab! Und jetzt? (09:30 Min.)

Max Verstappen ist in China fast schon selbstverständlich ein Einzelkämpfer. Denn Liam Lawson spielte im Qualifying keine Rolle. Schlimmer noch: Er qualifizierte sich nur auf der letzten Position.