Ross Brawn ist der große Denker der Formel 1. Seit 1978 war er in verschiedenen Funktionen in der Formel 1 tätig: Als Ingenieur, Stratege und Teamchef gewann er zahlreiche Titel mit drei verschiedenen Teams. 2009 trugen die Titelträger sogar seinen Namen: Brawn GP. Nach seinem Rückzug als Mercedes-Teamchef Ende 2012 wurde ihm seit 2017 eine neue Rolle als Motorsportdirektor der Formel 1 zu Teil. Nach 2022 ist damit Schluss: Brawn geht in die F1-Rente. Zum Abschied blickt der Brite in seiner Kolumne auf formula1.com noch einmal zurück und das so, wie man ihn kennt: Mit einer Analyse.

Der Startschuss von Brawns neuer Rolle fiel mit dem Verkauf der Formel 1 an Liberty Media zusammen. Die Amerikaner kannten sich mit Sportvermarktung, aber nicht mit der Königsklasse im speziellen, aus. Brawn sah seine Chance und nutze sie: "Liberty wandte sich an mich als jemanden mit F1-Erfahrung, etwas, das sie anfangs brauchten. Ich war interessiert, aber nur, wenn wir die Entwicklung des Sports aus einer anderen Perspektive angehen konnten - wie können wir das Racing verbessern? Ich denke, das ist uns gelungen. Wir haben ein großartiges Team aufgebaut, und ich bin sehr zufrieden mit dem, was wir erreicht haben."

Brawn: Änderungen in der F1 jetzt leichter möglich

Die Formel 1 hatte vor 2017 einige Baustellen, die angegangen werden mussten. Veränderungen wurden aber durch den Einfluss der Top-Teams und Hersteller zumeist blockiert. Dies hat sich mit der Ankunft Libertys geändert: "Wir haben jetzt viel mehr Flexibilität und brauchen nicht mehr die Zustimmung aller Teams, um Änderungen vorzunehmen und den Sport voranzubringen. Solange uns acht Teams zustimmen, können wir kurzfristig etwas erreichen. Mit fünf Teams und der FIA und der F1 können wir langfristig etwas erreichen. Wir haben nicht mehr die Zwänge des alten Governance-Systems, und es gibt jetzt viele Dinge, die wir in die richtige Richtung bewegt haben, so dass dieser Sport viel besser funktioniert als zuvor."

Zwei dieser Dinge führt Brawn als zentral an. Da wäre zum einen der finanzielle Aspekt. Die Kluft zwischen Arm und Reich bei den Teams war zu groß: "Man muss jedem Team die gleichen Chancen einräumen. Ein Teil davon sind die finanziellen Mittel. Viele Jahre lang gab es drei oder vier Teams in der Startaufstellung, die deutlich mehr finanzielle Mittel zur Verfügung hatten als der Rest. Das führt nicht zu einer Situation, in der man enge Abstände erzielen kann."

Liberty Media wollte einen Experten und bekam ihn: Ross Brawn, Foto: LAT Images
Liberty Media wollte einen Experten und bekam ihn: Ross Brawn, Foto: LAT Images

Dennoch durfte das größte Alleinstellungsmerkmal der Königsklasse nicht angetastet werden: "Die Wettbewerber müssen ihre eigenen Autos bauen - das ist die DNA der Formel 1. Aber das ist eine große Herausforderung, und in der Vergangenheit galt: Je mehr Geld man hatte, desto besser konnte man ein Auto bauen. Es wäre ein einfacher Weg gewesen, Einheitsautos, gleiche Motoren und Spezialteile zu verwenden - dann hätte man zwar ein enges Wettbewerbsfeld, aber der Zauber der Formel 1 wäre verloren gegangen. Ich denke, dass die Kostenobergrenze ein sehr wichtiger Schritt für die Formel 1 ist."

Revolution: F1-Regeln erstmals im Sinne des Racings entwickelt

Und dann ist da noch das andere Reformprojekt. Erstmals wurden neue Regeln im Sinne der Rennaction erstellt. In der alten Konstellation war das noch unmöglich: "Die Priorität der FIA lag auf der Sicherheit, um sicherzustellen, dass die Geschwindigkeit der Autos immer in einem vernünftigen Bereich lag. Die FIA hatte nie die Ressourcen, um sich mit der Konstruktion eines Rennwagens zu befassen - diese Arbeit wurde den Teams überlassen. Auch mit besten Absichten werden die Teams die Rennsporttauglichkeit der Autos nicht als Priorität ansehen."

Doch mit Liberty am Steuer durften Brawn und sein Team Hand anlegen am Überholproblem der Formel 1: "Wir haben eine Arbeitsgruppe gebildet, deren Priorität es war, einen besseren Rennwagen zu bauen, der mit anderen Autos in unmittelbarer Nähe mithalten kann, der sich gleichmäßig fahren lässt und bei dem bei Berührungen keine Teile abfallen. Die Denkweise kam aus einer anderen Richtung: Renntauglichkeit, und das wird in Zukunft die Priorität sein - das ist eine der Veränderungen in der Denkweise der F1, über die ich mich wirklich freue."

Diese Szenen erfreuen Ross Brawn, Foto: LAT Images
Diese Szenen erfreuen Ross Brawn, Foto: LAT Images

Brawn genießt verbessertes Racing ab 2023 vom heimischen Sofa aus

Die Früchte dieser Arbeit durfte der Ex-Ferrari-Stratege in seinem letzten Jahr im Paddock bereits genießen: "Es war für mich ein großer Nervenkitzel, als ich die 2022er Autos zum ersten Mal fahren sah und wir zwei oder drei Autos nebeneinander fahren sahen - das hatten wir vorher nicht oft gesehen. Jetzt kann man ohne Probleme mehrere Runden lang hinter einem anderen Auto fahren." Aufgrund dieses Erfolges hat Brawn auch nur noch eine letzte Sache auf der Wunschliste stehen: "Ich hoffe, dass wir in den nächsten Jahren einige der anderen Teams sehen werden, die die Top Drei herausfordern. Das wäre das Tüpfelchen auf dem i und würde die Formel 1 noch spannender machen."

Ross Brawns Erfolge sind legendär, Foto: Sutton
Ross Brawns Erfolge sind legendär, Foto: Sutton

Zum Ende seiner Ausführungen fand der Brite bei aller Analyse dann doch noch Raum für ein paar persönliche Abschiedsworte: "Ich habe fast jede Minute meiner 46-jährigen Karriere geliebt und hatte das Glück, mit vielen großartigen Teams, großartigen Fahrern und großartigen Menschen zusammenarbeiten zu dürfen. Ich würde nichts daran ändern wollen. Sicher ist, dass ich es ohne die Unterstützung meiner Frau und meiner Familie nicht geschafft hätte und es auch nicht gewollt hätte. Ich werde die Formel 1 jetzt von meinem Sofa aus verfolgen, als F1-Fan jubeln und fluchen und mich freuen, dass der Sport in einem fantastischen Zustand ist und eine so fantastische Zukunft hat. Auf großartige Rennen!"