Mit Blick auf das reine Ergebnis des Qualifyings der Formel 1 in Baku steht Mercedes besser da als so mancher Experte im Vorfeld für die Silberpfeile befürchtet hatte. Mit den Rängen fünf für George Russell und sieben für Lewis Hamilton reichte es sogar zum Best of the Rest hinter Ferrari und Red Bull, einzig Pierre Gasly mogelte sich im starken AlphaTauri zwischen das Briten-Duo. Der Rückstand auf die Spitze lässt Mercedes allerdings desillusioniert zurück. 1,3 Sekunden fehlten Russell auf die Pole Position von Charles Leclerc, Hamilton sogar eineinhalb.

Damit nicht genug des Ärgers. Noch dazu machte den Mercedes-Fahrern erneut starkes Bottoming - dieser Fachbegriff bezeichnet das Aufsetzen eines tief liegenden Autos auf dem Boden - zu schaffen, wenngleich minimal besser als noch am Freitag. Noch dazu stand plötzlich auch noch Hamilton am Pranger. Die Stewards ermittelten wegen unnötig langsamen Fahrens im Q2 gegen den Rekordweltmeister, sahen letztlich allerdings von einer Strafe ab. Alle News zur Formel 1 heute in Baku gibt es im Liveticker.

Formel 1 Baku: Hamilton entgeht Strafe im Qualifying

Hamilton hatte damit ohnehin nicht gerechnet. "Ich mache mir keine Sorgen", sagte der Brite schon im ersten TV-Interview nach der Session. "Vor allem einmal war ich vollständig neben der Rennlinie, um die anderen Autos durchzulassen. Aber das wollten sie gar nicht. Ich wollte einfach einen Windschatten bekommen, weil wir auf der Geraden so langsam waren", schilderte Hamilton. Doch genau das hatte auch die Konkurrenz, in diesem Fall Lando Norris und Daniel Ricciardo im Sinn. "Und dann ist die Regel, dass du in deinem Delta sein muss und ich war innerhalb meiner Delta-Zeit. Und innerhalb dieser sollte ich ja wohl mit dem Speed fahren können, mit dem ich fahren will. Aufgehalten habe ich auch niemanden", beteuerte der Brite. Genau diese beiden Punkte erkannten letztendlich auch die Stewards an.

"Das ist gerade sowieso nicht unser größtes Problem", ergänzte Teamchef Toto Wolff schon vor dem Urteilsspruch. "Unser Problem ist, dass wir wirklich unsere Performance hinbekommen müssen. Die Lücke ist groß. Es ist zwar auch eine lange Rundenzeit, aber uns hat es so ziemlich überall gefehlt. Ich wünschte, ich müsste mir diese Art von Performance-Vergleichen mit den Jungs an der Spitze in Zukunft nicht mehr ansehen."

Mercedes-Frust in Baku: 1,3 Sekunden hinter Ferrari!

Nach all den Jahren der Dominanz könne man da allmählich durchaus von Frust sprechen, so der Österreicher. Die Fahrer schließen sich an. "Wir fahren ja noch nicht einmal wirklich gegen die Jungs an der Spitze, die sind in einer ganz anderen Liga", sagte Hamilton. "Es scheint, dass sie Meilen voraus sind, und dann kommt die Gruppe, in der wir stecken. Ich denke nicht, dass das Schadenbegrenzung war: Du kannst eher sage, dass George auf Pole ist, ich Dritter bin und das das echte Rennen [für uns] ist."

Ähnlich bitter fiel die Analyse des leitenden Strecken-Ingenieurs aus. "Wir hatten gehofft, dass das Auto hier leichter zu handhaben sein würde als in Monaco, aber das ist nicht der Fall. Wenn wir es realistisch betrachten, haben die Fahrer einen sehr guten Job gemacht, um sich auf den Plätzen 5 und 7 zu qualifizieren. Wir haben über Nacht eine Menge verändert und konnten einige Performance-Bereiche verbessern - unser Topspeed auf den Geraden sah heute auf jeden Fall ein wenig besser aus. Aber die Abstände zu Ferrari und Red Bull sind riesig", stöhnte Andrew Shovlin.

Bottoming extrem: Russell erwartet früher oder später bösen Unfall

Gut performt habe er tatsächlich, bestätigte Russell mit einer ordentlichen Portion Eigenlob. "Die Runde fühlte sich stark an. Das Auto fühlte sich gut an", sagte der Brite. "Ich war ziemlich überrascht, dass ich dann mit 1,3 Sekunden Rückstand über die Linie gekommen bin." Gut habe sich das Auto letztlich auch nur in Sachen Pace angefühlt. Denn: "Das Bottoming ist extrem", sagt Russell. "Das Porpoising-Problem haben wir jetzt endlich gelöst, jetzt sind wir aber so nah am Boden, um aerodynamisch maximal zu profitieren, dass es das da draußen einfach nur brutal macht. Ich werde einfach in Teile gerüttelt!"

Schon am Freitag hatte Russell in der Pressekonferenz gefordert, Formel 1 und FIA müssten etwas tun. Noch weitere vier Jahre bis zum nächsten neuen Reglement könnten die Fahrer mit dieser Philosophie nicht weiterfahren. Trotz zumindest minimaler Besserung im Qualifying sieht sich Russell nach dem Samstag weiter bestätigt. "Ich kann ja kaum sehen, wo ich am Ende der Gerade bremsen muss, weil wir so sehr herumspringen. Und ich denke nicht, dass wir da das einzige Auto sind. Der halbe Grid sitzt im selben Boot. Leider auch Ferrari, die es trotzdem [in Sachen Pace] irgendwie hinbekommen", sagte der Direktor der Fahrergewerkschaft.

Das Phänomen sei sogar gefährlich, so Russell. "Ja, definitiv. Es ist einfach unnötig mit der heutigen Technologie. Das ist ein Desaster! [...] Du skatest regelrecht auf der Strecke. Wenn du den Boden triffst, sind die Räder nicht mehr sehr fest in Kontakt mit dem Boden. Es ist einfach eine Frage der Zeit bis wir da mal einen größeren Vorfall sehen", wetterte der Mercedes-Fahrer.

Hamilton-Physio scheitert an Bottoming-Folgen: Schmerzen noch da

Hamilton erging es sogar noch schlimmer. "Lewis hat ein paar experimentelle Teile am Auto versucht und war auf einer anderen Lösung für den Unterboden, der nicht funktioniert hat. Das Auto hat mehr gebounct und auf eine Weise aufgesetzt, die gefährlich wurde. So konnte er die Performance nicht herausholen", bestätigt Wolff die neuerliche teaminterne Niederlage seines Modellathleten. "Es war eine andere Spezifikation."

Bereits nach dem Training fühlte Hamilton sich angeschlagen. "Gestern habe ich am Ende der Gerade so stark aufgesetzt, dass ich nicht einmal meinen Longrun fertig fahren konnte. Ich habe dann mit Angela [Cullen, Physiotherapeutin] gearbeitet, die mir jeden Arbeit Physio und Akkupunktur gibt, aber es hat heute Morgen trotzdem noch ziemlich wehgetan", berichtete Hamilton. Dabei sei es am Samstag nicht einmal mehr auf den Geraden besonders schlimm gewesen. "Für mich ging es mehr darum, mich mit Highspeed auf den Kerbs von den Mauern fernzuhalten."

Hamilton verzweifelt: Mehr kann ich nicht mehr tun

Auch aus Hamilton spricht der Frust, ja fast die Verzweiflung. "Nichts, was wir tun, und wir haben so viele Dinge geändert, scheint etwas zu bringen. Es ist verrückt, in Barcelona hatten wir nichts, aber überall anders schon. Das ist ein Phänomen, dass wir einfach nicht verstanden bekommen", klagte der Routinier. "Und ich war auch gestern wieder bis 1:30 Uhr hier. Ich tue alles, was ich kann. Ich war auch wieder bei den Jungs in der Fabrik und im Simulator. Viel mehr kann ich nicht mehr machen. Heute habe ich allein wegen Bottoming mehr als eine Zehntel auf der Gerade gegen George verloren."

Für Hamilton ist das Thema ebenfalls längst eine Sicherheitsfrage. "Denn heute gab es Kurven, in denen ich mit 180 Meilen die Stunde heftig aufsetzte. Und wir können nicht viel dagegen tun. Das kann nicht vier Jahre lang so weiter gehen. Sie müssen daran arbeiten", so Hamilton in Richtung FIA. "Ich denke, alle Fahrer haben schon darüber gesprochen."

Rebellieren die Fahrer gegen neuen Formel-1-Autos?

Toto Wolff erwartet bereits in Kürze eine klare Ansage aus dem Fahrerkreis: "Es muss diskutiert werden und ich glaube, dass die Fahrer sich zusammentun müssen. Was ich höre, haben sie es schon gemacht, um zu sagen: Das ein Problem für uns, dass wir die nächsten Jahre mit einem Reglement umgehen müssen, das uns körperlich belastet. Und wenn das so ist, dann werden die Fahrer glaube ich hiermit mit einer klaren Aussage kommen und ich glaube, das ist der nächste Schritt."

In Sachen Performance liege bei Mercedes allerdings längst nicht alles an den großen Baustellen Porpoising und Bottoming allein. "Es ist recht leicht zu erklären, denn wir haben jetzt zwei Monate lang nur versucht, das Porpoising zu lösen und waren nicht in der Lage grundlegende Performance zu ergänzen - und das beißt uns", erinnerte Wolff an die völlig über den Haufen geworfene Entwicklungsarbeit. Dennoch ruiniere das Aufsetzen durchaus die Aerodynamik. "Und unseren Speed auf den Geraden betrifft es sogar sehr", sagte Wolff. "Und in der Konsequenz ist das Fahrverhalten auch nicht gut. Das kann mehrere Zehntel kosten. Gestern haben wir auf den Geraden eine Sekunde auf Ferrari und Red Bull verloren!"

Mercedes überzeugt: Motor sicherlich nicht das Problem

Im Qualifying waren plötzlich eher die Kurven das Problem. "Wir verlieren die meiste Zeit in den Kurven. Wir haben definitiv Probleme mit dem "Bouncing" auf den Geraden, aber auch ohne das würde uns immer noch Performance fehlen, also müssen wir ganz klar an mehreren Fronten arbeiten", erklärte Ingenieur Shovlin. Keine dieser Fronten soll der Motor sein. "Unsere Motorenleute haben einen guten Job gemacht, wie wir die Software und das Deployment der Power Unit seit Jahresbeginn jetzt optimieren können. Unser Problem ist also nicht der Motor", betont Wolff. "Wir haben einfach ein Auto mit zu viel Luftwiderstand, sodass die Fahrer schon gesagt haben, dass es sich anfühlt als hätten wir einen Fallschirm hinter dem Auto!" Eine fatale Mischung in Kombination mit dem Aufsetzen.