37 Runden dauerte es, bis es in Saudi-Arabien krachte. Max Verstappen, Lewis Hamilton, Mercedes und Red Bull haben den Kampf um die Formel-1-WM 2021 nun an die Spitze getrieben, und die beiden Protagonisten gehen nach der Eskalation in Jeddah punktgleich zum Saisonfinale in Abu Dhabi.
Die dritte Kollision war anders als Silverstone und Monza allerdings kein klassischer Unfall, sondern ein viel komplexerer Zwischenfall. Man kollidierte nicht im Zweikampf, sondern beim Verlangsamen, um Positionen zu tauschen, und fuhr dann zwei weitere Male aneinander vorbei. Wie konnte es sich zu diesem bizarren Zwischenfall in Runde 37 hochschaukeln? Die Analyse.
Verstappen vom Start weg im Nachteil
Die Grundlage für Runde 37 bildete schon der Start. Nach seinem Unfall im Qualifying befand sich Max Verstappen mit Platz drei ohnehin schon auf einer nicht sehr aussichtsreichen Position, und der erste von drei Starts des Tages ging vollkommen sauber vonstatten. Hamilton übernahm die Führung vor Valtteri Bottas, Verstappen reihte sich dahinter ein.
Zwar konnte Verstappen dem Duo folgen, doch das Bild war trügerisch. Mercedes, im Qualifying noch langsamer, war im Rennen das schnellere Auto. Hamilton fuhr nicht weg, weil er nicht wegfahren musste. Ein Funkspruch an Bottas belegt das - er solle sich einfach melden, wenn Hamiltons Pace zu langsam sei. Als Bottas das tat, öffnete Hamilton gleich eine Lücke, und danach kontrollierten die beiden die Pace erneut.
"Wir wussten, wir hatten ein gutes Rennauto, wir haben viel Arbeit in die Longruns gesteckt", meint Toto Wolff. "Ich glaube nicht, dass die anderen vernünftige Longruns fuhren. Das hat ein Auto bedeutet, das sehr gut auf dem Medium und dem Hard war." Mit Pace-Nachteil, auf dem dritten Platz, und ohne Sergio Perez als Helfer waren Verstappens Strategie-Optionen in einem klaren Einstopp-Rennen verschwindend gering. Jeder Stopp wäre zwangsweise von einem Mercedes abgedeckt worden.
Der Zufall kam ihm zur Hilfe, als Mercedes unter dem ersten Safety Car stoppte. Red Bull blieb draußen, und wurde mit einer roten Flagge belohnt. Doch die Pole beim Restart nutzte Verstappen nichts, denn auf dem Hard-Reifen und in der ersten Phase der Startrunde war der Red Bull dem Mercedes unterlegen. Hamilton ließ es sich auch nicht nehmen, in der Runde zurück zum Grid langsam zu machen, um sich vorzubereiten.
Red-Bull-Beschwerden, man dürfe hinter dem Safety Car nicht so viel Abstand halten, verliefen ins Leere. Verstappens verzweifelte erste Defensive in der ersten Kurve resultierte im ersten Abkürzen, als Hamilton sich innen daneben setzte und Verstappen sich außen weigerte, nachzugeben, und abkürzte.
Das resultierte außerdem im ersten Eingreifen der Rennleitung, die Verstappen für den zweiten Restart unter der folgenden roten Flagge hinter Esteban Ocon und Hamilton auf den dritten Rang zurückreihte. Pace-Nachteil, Start-Nachteil, und jetzt auch nur P3 - Verstappens letzte Option war, trotz über 30 verbleibender Runden auf den Medium-Reifen zu setzen.
Verstappen muss auf Risiko-Strategie gehen
"Weil wir wussten, dass Mercedes in den ersten zwei Runden mit dem Batterie-Management besser ist und mehr Power abrufen kann", bestätigt Dr. Helmut Marko. Das Medium-Risiko machte sich erst einmal bezahlt, Verstappen drückte sich beim zweiten Neustart innen wieder vorbei in Führung.
Nun aber hatte Hamilton das schnellere Auto, und obendrauf den besseren Reifen. "Seine beste Runde, und da fing er erst an, war noch immer eine halbe Sekunde schneller als die von Max im ersten Stint", sagt Mercedes-Chefingenieur Andrew Shovlin. "Das hat uns gezeigt, dass wir auf der Strecke gewinnen können."
Nachdem Hamilton rundenlang an der Ein-Sekunden-Marke knabberte, legte er sich Verstappen in Runde 36 zurecht, und als beide in Runde 37 in die erste Kurve einbogen, taten sie das nebeneinander. Verstappen, innen, bremste viel zu spät und rutschte am Lenkrad rudernd in die Auslaufzone. Hamilton musste zurückstecken. Eine Wiederholung des Brasilien-Szenarios. "Der Typ ist verdammt verrückt, Mann!", funkte Hamilton.
Die Szene war auch bei der Rennleitung angekommen, die sie sofort zur Kenntnis nahm. Und dann Red Bull informierte, dass Verstappen den Platz nur durch das Abkürzen behalten hatte und ihn dementsprechend an Hamilton abgeben müsse.
Der Zwischenfall aus Red-Bull-Sicht
Red Bull dürfte diese Information im Mittelsektor erhalten haben, reagierte vor Kurve 22, und ließ Verstappens Renningenieur Gianpiero Lambiase schlechte Neuigkeiten verkünden:
Lambiase: "So, jetzt lass uns die Position an Hamilton zurückgeben. Mach das natürlich strategisch. Gib die Position zurück."
Verstappen verstand die Anweisung - gib die Position so zurück, dass du in der DRS-Zone kontern kannst und Hamilton wieder überholen kannst. In Kurve 26, dem Linksbogen vor der letzten Kurve, ging er vom Gas. Hamilton dahinter ging ebenfalls vom Gas, überholte nicht. Verstappen verlangsamte weiter, stieg schließlich unerwartet heftig mit 69 bar auf die Bremse und schaltete an einer eigentlichen Vollgas-Stelle bis in den dritten Gang, was in 2,4 g Verzögerung resultierte und Hamilton so überraschte, dass er dem Red Bull ins Heck fuhr. Verstappen zog das Tempo wieder an und fuhr in Runde 38 weg.
Vor T1 - Lambiase: "Ich weiß nicht, was da los war, Max, du hast versucht ihn vorbeizulassen, er fährt nicht vorbei."
Verstappen: "Ja, checkt meine Reifen."
Lambiase: "Sind dran, Reifen sehen gut aus. Keine Ahnung, was da los ist."
Vor T26 - Lambiase: "Fahr weiter, Max, fahr jetzt weiter."
Verstappen: "Was sagst du?"
Lambiase: "Pushe einfach weiter. Noch 12 Runden."
Der Zwischenfall aus Mercedes-Sicht
Auf der anderen Seite blieb der Funk im Mittelsektor und auch zu Beginn des letzten Sektors stumm. Erst zu Beginn des letzten langen Linksbogens kam Lewis Hamiltons Renningenieur Peter Bonnington wieder am Funk:
Bonnington: "Sie bitten Max, die Plätze zu tauschen."
Dann steckte Hamilton schon fast im Red-Bull-Getriebe. Aufgrund einer leichten Audio-Verzögerung ist das genaue Timing des Funkspruches in den Onboard-Wiederholungen schwer festzustellen, aber ein anhand des Radio-Lichtes grob geschätztes Delay von fünf Sekunden würde bedeuten, dass das kritische Element des Funkspruches - der Platztausch - just in dem Moment kam, als Verstappen auf die Bremse trat.
Hamilton: "Er hat einen Bremstest mit mir gemacht!"
Bonnington: "Er wurde gebeten ... er soll dir die Position ..."
Hamilton: "Ich habe ihn gerammt, Mann, mein Flügel ist kaputt!"
R38 - vor T1 - Bonnington: "Nein, sieht okay aus, ihm wurde gesagt, er soll dir die Position geben."
Hamilton: "Er hat einen Bremstest gemacht, ich weiß nicht, was los war. Das war gefährliches Fahren, Mann."
Bei Mercedes ging es in Runde 39 jetzt rund. Hamiltons Frontflügel war definitiv beschädigt, aber Bonnington beruhigte ihn - es sei nur die Endplatte, nicht schlimm. Hamilton meldete prompt Performanceverlust, konnte nicht mithalten. Währenddessen funkte ein erhitzter Mercedes-Teammanager Ron Meadows an FIA-Rennleiter Michael Masi.
Meadows: "Dürfen wir an ihm vorbei?"
Masi: "Ja, ihr dürft an ihm vorbei."
Meadows: "Gut, dann muss er rausnahmen und uns lassen! Wir hatten keinen Plan, dass er das machen würde!"
Masi: "Entschuldige, Ron, ich kam [am Funk] und sagte es dir - wenn du andere Kanäle laufen hast ..."
Meadows: "Nein, nein, du hast es mir gesagt - als es passiert ist! Ich habe es, ich habe es an dem Punkt dem Ingenieur gesagt!"
Masi: "Ron, ich kann nur so viele Knöpfe gleichzeitig drücken!"
Die Folgen von Runde 37
Nebenher instruierte Bonnington Hamilton erneut, dass Verstappen die Anweisung erhalten habe, den Platz zurückzugeben. Es dauerte aber bis Runde 42, bis sich die Situation erneut zuspitzen sollte, als Verstappen, der bis dahin basierend auf der letzten Anweisung von der Box Tempo gemacht hatte, neue Instruktionen bekam.
Vor T22 - Lambiase: "Könntest du Hamilton ausgangs 23 durchlassen? So bald als möglich."
Nach T23 - Bonnington: "Er lässt dich jetzt vielleicht durch."
Verstappen tat es tatsächlich, diesmal ohne Bremsmanöver. Das "taktische Durchlassen" behielt er aber im Hinterkopf, und drückte sich in der letzten Kurve sofort an einem scheinbar von der Situation erneut verunsicherten Hamilton wieder vorbei. Inzwischen war das Durchlassen aber längst hinfällig - denn die Situation war schon von der Rennleitung zu den Stewards gelangt, die eine Fünf-Sekunden-Strafe aussprachen.
Hamilton wurde noch im ersten Sektor von Runde 43 darüber informiert. Verstappen erst, als er wieder in Kurve 25 ankam. In dem Moment ging er erneut vom Gas. Hamilton setzte sich daneben, und drückte Verstappen am Eingang der letzten Kurve diesmal bewusst raus, um den Konter zu vermeiden. Das erregte ein letztes Mal die Aufmerksamkeit der Rennleitung, die am Mercedes-Kommandostand vorstellig wurde.
Masi: "Dieses Manöver in Kurve 27, Ron, ist hart an der Grenze zu einer schwarzweißen Flagge für Unsportlichkeit."
Meadows: "Habe ich nicht genau gesehen, bitte?"
Masi: "Als er Max innen überholt hat, und ihn in Richtung Wand gedrückt hat. Das war grenzwertig."
Meadows: "Ich werde es ihm sagen."
Fazit zur Saudi-Arabien-Eskalation
Unter dem Strich war die Situation in Sachen Kommunikation ein schwieriges Unterfangen. Lange Kommunikationswege - zwei Mal Rennleiter zu Teammanager, zu Renningenieur, zu Fahrer - verzögerten die erste Platztausch-Anweisung für Mercedes bis zu dem Moment, in dem der Platztausch vonstattenging. Danach herrschte noch mehr Konfusion vor. Bis sich alle nach fünf Runden auf einen erneuten Platztausch zu einigen schienen, waren die Stewards schon aktiv geworden und hatten eine Untersuchung eingeleitet. Der Platztausch von Runde 42 war also letztlich irrelevant.
Verstappen wird den Großteil der Verantwortung auf sich nehmen müssen. Onboards sind natürlich immer schwer zu beurteilen, aber die Entschuldigung, Hamilton habe bei der ursprünglichen Attacke in Kurve eins selbst die Kurve nicht bekommen, muss relativiert werden: Hamilton bekam die Kurve nicht, weil ein querstehender Red Bull in seine Fahrbahn rutschte.
Beim "Bremstest" scheiden sich die Geister. Verstappen machte es nicht leicht, indem er zum einen teils nach links driftete, die Situation war undurchsichtig. Hätte Hamilton davor ausscheren können, anstatt dahinter zu bleiben, um DRS zu bekommen? Unabhängig davon war Verstappens plötzliches Abbremsen, welches die Stewards in der zweiten Untersuchung nach dem Rennen bestätigten, der finale Auslöser einer Kollision.
Dass sich die beiden nichts mehr schenken, ist klar. Verstappen, erneut mit schlechterem Auto, gerät vor dem Finale zunehmend unter Druck. Die Tür zu Titel Nummer acht ist offen für Hamilton, der sich auch in Saudi-Arabien als der souveränere Fahrer präsentierte.
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