Zu einem ausgewachsenen PR-Debakel für Formel 1 und FIA entwickelte sich der trotz Coronavirus zunächst regulär geplante Saisonstart in Australien. In den vergangenen 24 Stunden bis zur schlussendlichen Absage steckten die Serienchefs jede Menge Kritik ein. Insbesondere die Zeit von dem McLaren-Rückzug bis zur Entscheidung - geschlagene 12 Stunden - stifteten von Donnerstag auf Freitag eine fatale Mixtur aus Unsicherheit und Ärger.

Nun mühen sich die Formel-1-Bosse nach Kräften, sich zu erklären. Vor allem um zwei Themen geht es dabei. Erstens die Frage, warum man überhaupt erst nach Australien reiste. Zweitens, warum die Absage nach dem bei McLaren bekannt gewordenen Corona-Fall derart lang dauerte.

Formel 1 Australien: Warum 12 Stunden bis zur Absage?

"Ich denke wir haben die richtige Entscheidung getroffen“, verteidigte Liberty-Media-CEO Chase Carey während einer Pressekonferenz in Melbourne die Formel 1 zunächst für die letztlich doch ausgesprochene Absage des Rennens. „Wir haben gut mit unseren Partnern zusammengearbeitet, aber wir können die Entwicklung einiger Geschehnisse nicht beeinflussen."

Doch wieso dauerte der Prozess derart lang? "Wir haben den letzten Abend damit verbracht, uns die Meinungen aller Beteiligten einzuholen. Es war eine gemeinsame Entscheidung. Es gab unterschiedliche Ansichten und Meinungen“, erklärte Carey.

Auf der offiziellen Homepage der Formel 1 erläutert Sportchef Ross Brawn die Details der langwierigen Entscheidungsfindung. „Wir mussten die Teams, die medizinischen Behörden, die FIA und die Promoter hier konsultieren“, sagt Brawn. „Niemand hat in der vergangenen Nacht geschlafen. Wir haben alle nur kurz geduscht und zurück an die Strecke“, versichert der Brite. „Wir haben sofort daran gearbeitet als wir den Anruf erhalten haben, dass es einen positiven Fall gibt.“

Formel 1 2020, Melbourne: Warum fiel die Entscheidung so spät? (11:39 Min.)

Das habe gegen 21 Uhr Ortszeit am Donnerstagabend begonnen. „Erst hat es ein paar Probleme gegeben, alle Teams zusammenzubekommen, um die Meetings abzuhalten. So etwas braucht eben seine Zeit. Du kannst nicht einfach eine Entscheidung treffen, sondern musst da viele Faktoren berücksichtigen. Es sind so viele Parteien und Stakeholder beteiligt“, schildert Brawn.

Noch dazu seien die Umstände alles andere als ideal gewesen. Stichwort Zeitverschiebung nach Europa - dort sitzt in Paris die FIA. „Und Chase war noch auf einem Flug von Vietnam“, erinnert Brawn. „Es war stressig. Deshalb denke ich, dass 12 Stunden angesichts von etwas derart Wichtigem noch gut waren.“

Coronavirus: Warum reiste die Formel 1 trotzdem nach Australien?

Bleibt der zweite Teil: Warum wagte die Formel 1trotz internationaler Coronavirus-Krise überhaupt die Reise Down Under? Weil das Geld regiert, wie Lewis Hamilton wetterte? Nein, sonst hätte man auch jetzt nicht abgesagt, konterte Chase Carey. Vielmehr stecke eine vor nicht allzu langer Zeit noch völlig andere Ausgangslage dahinter.

"Wir haben die Entscheidung, hierher zu kommen basierend auf dem Wissensstand der vergangenen Woche getroffen. Die Situation in Europa vor einer Woche unterscheidet sich sehr von der momentanen Situation“, sagt Carey. „Wenn man sich nur anschaut: Vor 24 Stunden konnten noch Menschen zwischen Europa und der USA reisen, jetzt ist das nicht mehr möglich. Zu dem Zeitpunkt als die Teams nach Australien reisten, dachten wir es war die richtige Entscheidung."

Brawn ergänzt, man müsse sogar noch weiter zurückblicken. „Die Seefracht ist ja schon zwei, drei Wochen vorher unterwegs gewesen“, erinnert der Brite - und gesteht: „Wir waren sehr darauf aus, das Rennen zu haben.“ Weil die Show eben doch weitergehen muss? Tatsächlich. „Wir haben hier einen großen Einfluss auf die Wirtschaft - und es hat einen großen Einfluss auf unsere Wirtschaft - die Formel 1 muss funktionieren“, sagt Brawn.

Allerdings sei es auch um etwas anderes gegangen. „Es ist hier immer ein sehr positiver Event. Ein toller Saisonstart und wir wollten die F1-Saison unbedingt kickstarten. Denn es ist ein großartiges Rennen für die Fans, ein tolles Wochenende, hier herrscht viel Euphorie. [...] Wir waren wie auf einem Schiff, das losgesegelt ist und waren optimistisch, dass wir die Formel 1 gestartet bekommen, wir ein tolles Rennen haben und in diesen schwierigen Zeiten [der Welt] etwas Erleichterung bescheren.“

Rannte die Formel 1 letztlich also durch eine Mischung aus Geschäftszwängen und Idealismus blauäugig in einen erwartbaren Sturm? Nein, sagt Brawn. Auch der Brite betont, wie schnell sich die Lage in Sachen Coronavirus gewandelt hat. „Wir müssen die Gesamtsituation betrachten. Als wir entscheiden, es zu versuchen, sag es noch ganz anders aus als jetzt. Wie schnell sich dieses Problem ausgeweitet hat, hat vielleicht jeden überrascht. Wie die Fälle nach oben geschossen sind. Das ist ja senkrecht nach oben gegangen. Niemand hätte das erwarten oder vorhersagen können“, meint Brawn.

Sobald sich die Situation verschärfte, habe die Formel 1 sofort reagiert. „Als wir hier den positiven Fall hatten und ein Team nicht fahren konnte, wussten wir, dass wir ein Problem haben, das wir angehen müssen“, so Brawn. Für diesen Ernstfall habe sich die Formel 1 ohnehin in Zusammenarbeit gut mit den Gesundheitsbehörden vorbereitet.

Brawn: „Das haben wir alles geplant: Was passiert, wenn es einen, fünf oder zehn Fälle gibt?“ Die Prozesse seien alle bereit gewesen - und hätten auch funktioniert. „Wir haben den Fall ja gefunden“, sagt Brawn. „Und das ist den Behörden zu verdanken. Die Prozesse haben funktioniert.“

Dass der Infektionsfall letztlich in der Absage gemündet ist, hätte auch anders kommen können, so Brawn. „Wenn du einen Fall hast und nicht gleich 14 Leute [wie bei McLaren nun der Fall] in die Isolation müssen, dann macht es das einem Team nicht gleich unmöglich, zu arbeiten“, sagt Brawn. „Wenn dieser eine Fall also ein anderes Profil gehabt hätte, eine andere Verantwortlichkeit, dann hätte es das Team vielleicht gar nicht so sehr getroffen.“

Formel 1 sammelt sich: Wie geht es jetzt weiter?

Wie es nun weitergeht, steht aktuell noch völlig in den Sternen. Die Entscheidung bezüglich des schon nächste Woche anstehenden Grand Prix in Bahrain steht noch aus. Carey: "Das sind nicht die Themen, mit denen wir uns heute auseinandersetzen müssen. Wir werden uns die kommenden Rennen in Bahrain und Vietnam in den kommenden Tagen anschauen und es werden weitere Ankündigungen und Entscheidungen folgen."

Brawn unterdessen klingt nach den Ereignissen von Melbourne wenig zuversichtlich für einen schnellen Startschuss der F1-Saison 2020: „Wir wollen die Saison neu aufbauen, aber wir müssen realistisch sein, wann es wieder starten kann. Daran arbeiten wir gerade.“ Ziel sei in jedem Fall, so viele der verlorenen Rennen wie möglich nachzuholen. Stand jetzt trifft das formal nur auf Australien und China zu. Weitere Absagen werden jedoch erwartet. Vor allem in Vietnam, auch die ersten Europarennen in Zandvoort und Barcelona stehen nun allerdings zunehmend auf der Kippe.