Wochen der Wahrheit in der Formel 1. Kurz vor der Sommerpause wird der WM-Kampf zwischen Mercedes und Ferrari, Lewis Hamilton und Sebastian Vettel immer intensiver. Rammstoß in Aserbaidschan, Getriebe-Drama in Österreich und jetzt auch noch Ferraris Reifen-Schock in Großbritannien - auch die Störfaktoren auf das WM-Duell der Giganten nehmen zu. Und das nicht nur an Menge, sondern spätestens seit Silverstone auch an Härte: In England verlor WM-Leader Vettel so viele Punkte auf Top-Rivale Hamilton wie noch nie zuvor in dieser Saison.

Während Hamilton mit seinem vierten Saisonsieg die vollen 25 Punkte einsackte, musste sich Vettel nach seinem Reifenschaden in der vorletzten Rennrunde mit mageren sechs Punkten für Rang sieben abspeisen lassen. Selbst ohne das Reifen-Drama bei Ferrari hätte es für Vettel schlecht ausgesehen, steuerte der Deutsche einem klaren vierten Platz entgegen. Schon damit hätte Vettels Vorsprung in der WM um 13 Punkte nachgegeben. Durch das Reifen-Debakel jedoch schmolz der Abstand zu Hamilton fast vollständig zusammen: Einen einzigen Zähler rettete Vettel von seinem schönen 20-Punkte-Vorsprung noch zum letzten Rennen vor der Sommerpause, das in 14 Tagen auf dem Hungaroring in Ungarn steigt.

"Das ist bitter, denn heute war mehr drin und mit einem idealen Rennen wären wir Zweiter geworden", bilanzierte ein angefressener Vettel. "So haben wir nur Glück gehabt, dass wir überhaupt noch ins Ziel gekommen sind. Das ist manchmal so, aber das Jahr ist lang und es trifft einen halt manchmal. Natürlich ist das jetzt enttäuschend. Heute ist nicht viel Trost zu spenden. Wir haben zu viele kleine Fehler gehabt." Zunächst schon am Start, als die Bremsen überhitzten und Vettel kaum aus der Box kam, einen Platz an Max Verstappen verlor, sich in der Folge vergeblich die Zähne am sich mit allen Mitteln verteidigenden Red-Bull-Piloten ausbiss.

Erst durch einen Undercut Ferraris spülte es Vettel vorbei am Niederländer. Doch da waren gleich zwei andere Messen schon gelesen: Hamilton und Kimi Räikkönen waren auf und davon, noch dazu tat sich mit Valtteri Bottas ein übermächtiger Gegner auf. Der Finne war nach Strafversetzung wegen Getriebewechsels mit dem härteren Reifen gestartet, machte in seinem Schlussstint auf Supersoft kurzen Prozess mit Vettel - das Podium war Geschichte.

Nicht nur Hamilton: Auch Bottas jetzt in WM-Schlagdistanz

Damit nicht genug: Durch die Reifenschäden an beiden Ferrari verlor nicht nur Vettel drei weitere Positionen, auch Räikkönen fiel so noch hinter Bottas, sodass neben Hamilton auch dessen Teamkollege einen großen Batzen seines WM-Rückstandes auf Vettel wegbiss: Nur 23 Punkte liegt Bottas noch hinter Vettel, sodass der sich nun final gleich zwei Silberpfeilen erwehren muss.

Kaum besser sieht es in der Teamwertung aus: 55 Punkte liegt Mercedes jetzt vor Ferrari, geht somit fix als Spitzenreiter in die Sommerpause - egal, was in Ungarn passiert. "Die harten Tatsachen sind, dass wir hier eine Menge Punkte in beiden Meisterschaften verloren haben - Fahrer- und Konstrukteurs-WM", haderte Teamchef Maurizio Arrivabene. Genau gegensätzlich die Gemütslage seines Mercedes-Pendants. "Wir gehen mit einer Führung in die Sommerpause, das ist schön", sagt Toto Wolff, warnt aber zugleich: "Es gab mal einen sehr berühmten österreichischen Skifahrer, der bei Olympischen Spielen immer die beste Sektorzeit hatte. Er war immer Sektorenmeister, hat aber nie gewonnen. Ich nehme den Vorsprung gern in die Ferien hinein. Für die WM bedeutet das aber gar nichts."

Trendwende? Mercedes schlägt Ferrari vier Mal in Serie

Doch ist das wirklich so? Seit Kanada hat Mercedes jetzt durchgängig besser gepunktet als Ferrari, seit Kanada erscheint der Silberpfeil der roten Göttin den Favoriten-Nimbus entrissen zu haben. Eklatanter als in Silverstone sah der Unterschied allerdings noch nicht aus, allenfalls an Teilen des Baku-Wochenendes. Die Trendwende also im Mercedes-Wohnzimmer? "Ich halte es immer für schwierig, von einem Wendepunkt zu sprechen", widerspricht Hamilton.

"Natürlich ist das Pendel dieses Wochenende etwas umgeschwungen und das ist auch gut so für die Formel 1, es ist nur gut für die Fans, es ist für sie womöglich super spannend, einen so engen Kampf zu sehen, wie wir ihn jetzt weiter haben werden", frohlockt der jetzt fast punktgleiche WM-Zweite. Noch nach dem Österreich GP hatte Hamilton ganz anders geklungen, schon gefürchtet, dass Vettel ihm enteilen könne. "In Sachen Punkten ist es schön, nur einen Punkt dahinter zu sein", sagt Hamilton nach seinem Big Point in Silverstone jetzt entsprechend erleichtert. "In Sachen Strategie sind wir jetzt in einer viel besseren Position, weil wir nicht mehr diesen Rückstand haben."

Von einer einfachen Aufgabe geht der Brite jedoch nicht aus. "In Zukunft kann noch viel passieren", warnt Hamilton. "Aber es steckt viel Energie im Team, ich liebe es gerade zu fahren, fühle mich auf meinem Höhepunkt und denke, dass ich besser fahre denn je. Hoffentlich können wir das ins nächste Rennen mitnehmen." Das hofft naturgemäß auch Bottas, warnt jedoch ebenfalls vor verfrühter Euphorie. "Es wird immer auch streckenspezifisch sein", erklärt Bottas. "Also dürfen wir nicht zu zufrieden sein und sagen, dass wir vorne sind."

Die ungeliebte Favoritenrolle

Dennoch habe Mercedes nach den Problemen zu Saisonbeginn einen großartigen Job gemacht und sich mit Vollgas zurückgekämpft. "Das Auto fühlt sich jetzt besser und besser an - jedes Wochenende", sagt Bottas. Dass er durch sein Überholmanöver gegen Vettel selbst - also auch ohne den Reifenschaden des Deutschen - den Rückstand auf die WM-Spitze etwas verkürzen konnte, erfüllt Bottas mit Genugtuung. "Angesichts des engen Kampfes um den Titel war das gut - für das Team als auch mich persönlich", sagt Bottas. Der Finne sieht sich voll im WM-Kampf. Jetzt erst recht und angesichts von nur 23 Punkten Rückstand auch durchaus berechtigt.

Kampfansagen und Favoritenerklärungen sucht man in Silverstone allerdings vergeblich. Bei Ferrari nach einem schwierigen Wochenende wenig überraschend nicht, doch auch Mercedes hält sich auffallend zurück. "Wir sollten nicht zu sehr auf Favoriten schauen. Wir haben jetzt Halbzeit, es gibt noch 250 Punkte zu holen. Du musst versuchen, jedes Inch an Performance aus dem Auto und den Fahrern herauszuholen, die Fehler minimieren und dann wird es ein Rennen bis zum Ende. Über einen Favoriten denke ich nicht nach", sagt Toto Wolff.

Vielmehr denken alle schlicht an die nächste Aufgabe: Ungarn. Schon fünf Mal - wie jetzt auch in England - gewann dort Lewis Hamilton. "Er fährt da toll", frohlockt Wolff. "Aber du brauchst da auch ein Auto, mit dem du gewinnen kannst. Erinnert euch an Sochi, wo es für ihn nicht funktioniert hat. Ihm fehlte insgesamt Grip, während es bei Valtteri gut lief. Oder auch in Monaco. Mit den neuen Regeln ist nicht in Stein gemeißelt, dass es so läuft wie in der Vergangenheit", betont der Mercedes-Motorsportchef.

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Räikkönen sicher: Ferrari-Konter schon in Ungarn

"Ich denke Ungarn sollte unserem Auto besser liegen", sagt indessen Kimi Räikkönen. Dem Finnen blieb nur durch seinen Reifenschaden in Silverstone der Eintritt in den 100-Punkte-Klub verwehrt, Räikkönen hält aktuell bei 98 WM-Zählern. Immerhin auf den WM-Leader machte Räikkönen aber endlich Punkte gut - neun Zähler mehr als Vettel. Trotzdem ist der Iceman sichtlich bedient. "Unglücklicherweise scheinen mich die unglücklichen Situationen zu verfolgen. Es ist enttäuschend, denn der zweite Platz war sicher und wir haben ein besseres Ergebnis verdient."

Gegen Mercedes sei in Silverstone aber kein Kraut gewachsen gewesen - obwohl er sich im Auto besser gefühlt habe als zuletzt. "Wir haben ein paar Änderungen am Auto vorgenommen und das scheint das Gefühl verbessert zu haben. Ich hoffe, es wird in den kommenden Rennen auch so sein. Trotzdem hat es verglichen mit unseren Gegnern ein bisschen an Pace gefehlt. Aber das war definitiv nicht unsere stärkste Art von Kurs. Da ist noch Arbeit zu erledigen, um Mercedes auch an solchen Orten einzuholen", mahnt Räikkönen nach seiner vielleicht stärksten persönlichen Renn-Performance des Jahres.

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Vettel: Mercedes ist stärker geworden, aber ...

Das muss auch Vettel anerkennen. "Mercedes hatte insgesamt ein besseres Wochenende, sie waren sehr schnell. Aber wir waren schon nah dran. Ich denke, unser Rennen lief heute einfach nicht so sauber wie ihres. Es war nicht das Ergebnis, das wir wollten oder verdient haben", ergänzt Vettel optimistisch. "Aber damit kommen wir klar, es geht weiter. In zwei Wochen ist ein neues Rennen."

Wie Hamilton hält auch Vettel nichts vom Gerede einer Trendwende. Für Vettel gibt es sogar nur Momentaufnahmen, der Ferrari-Pilot hält wenig von Schwarz-Weiß-Denken. "Du wirst immer nach deinem jüngsten Tag bewertet. Aber so läuft es. Wenn die Dinge anderes laufen, gewinnen wir und stehen oben, alles sieht toll aus. Wenn nicht wie heute, dann sprichst du von großer Enttäuschung und Desaster. Du gewinnst und verlierst. Ich verliere nicht gerne, deshalb sind wir nicht hier. Ich hasse es", sagt Vettel.

Die Augen vor der jüngsten Entwicklung hat jedoch auch Vettel nicht verschlossen. "Natürlich waren die letzten Rennen nicht ganz so gut", sagt Vettel. Ursache sei allerdings nicht eine krasse Verschiebung des Kräfteverhältnisses in Richtung Mercedes, versichert Vettel. "Das Glück war einfach nicht mehr ganz so auf unserer Seite", sagt Vettel. "Aber das ist okay, das kann man sich erarbeiten. Wir müssen weiter hart an uns arbeiten, nach vorne schauen, Gas geben und angreifen."

Noch dazu gebe es im Rennen auch überhaupt keinen Grund zur Sorge, so Vettel. "Es stimmt vielleicht, dass Mercedes in den vergangenen Rennen etwas stärker war", gesteht der Ferrari-Pilot zwar. "Aber der wirkliche Game Changer ist das Qualifying. Sie sind in der Lage, da den Motor richtig aufzudrehen, gewinnen da auf den Geraden drei bis sechs Zehntel gegenüber uns. In Baku waren es sogar sieben, in Österreich eine halbe Sekunde. Wir müssen damit leben. Wir können da nichts dran ändern. Wir arbeiten daran, aber das passiert nicht über Nacht."

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Der Quali-Vorteil bringe Mercedes dann eben schlicht in eine viel bessere Position zu Beginn der Rennen. "Wenn du in der ersten Runde, der ersten Ecke da vorne bist mit deinen Autos, dann läuft das Rennen ganz anders. Das kannst du ja in den Statistiken sehen. Wir wissen, dass wir das angehen müssen", sagt Vettel. Im Rennen selbst hält Vettel seinen Ferrari aber noch immer für eine Waffe. "Das Auto ist toll, es war im Rennen heute fantastisch. Nicht schnell genug, aber schneller als das Resultat zeigt, das wir bekommen haben", sagt Vettel in Silverstone. "Es gibt also keinen Grund, in Panik auszubrechen."

Vettel: Noch zählt nicht der WM-Stand, sondern der Moment

Der Verlust fast seines gesamten Vorsprung kümmert Vettel indessen nicht, gibt er vor. "Ich kümmere mich nicht wirklich um die Punkte. Du versuchst immer in dem Moment, in dem du bist, das beste Rennen zu fahren. Das versuchen wir jetzt seit zehn Rennen. Und das ist auch die Art wie du möglichst lange im WM-Kampf bleibst und sie am besten am Ende auch gewinnst. Es macht zu diesem Zeitpunkt des Jahres keinen Sinn, da etwas zu managen. Jetzt ist Vollgas angesagt. Du musst dein Bestes geben. Aber heute lief es einfach nicht in unsere Richtung", meint Vettel.