Nach dem Brasilien-GP sorgten Aussagen von Lando Norris für Wirbel. "Es ist kein Talent, nur Glück", sagte er. Doch worüber genau? Etwa über Max Verstappens Sieg? Nicht ganz: Der McLaren-Pilot bezog sich dabei auf die Tatsache, dass die Rennleitung erst das Safety Car auf die Strecke schickte und nach dem Unfall von Franco Colapinto schließlich das Rennen unterbrach. Das bescherte Verstappen einen Reifenwechsel ohne Zeitverlust.
Anschließend gab es auch unter den Fans zahlreiche Diskussionen: Hat die Rennleitung Max Verstappen den Sieg geschenkt? Einerseits kam er so vor George Russell, Lando Norris, Charles Leclerc und Yuki Tsunoda. Die vier Piloten lagen zuvor noch vor Verstappen und fielen durch ihre Boxenstopps zurück.
Andererseits sahen viele Yuki Tsunoda um den verdienten Lohn gebracht. Der Racing Bulle hatte nämlich nicht wie Russell, Norris und Leclerc auf frische Intermediates gewechselt, sondern entschied sich für Full Wets. Viele - inklusive Tsunoda selbst - sahen ihn auf dem Weg an die Spitze, ehe das Safety Car kam.
Verstappen bei Safety-Car-Restart chancenlos?
Tatsächlich half Verstappen der Rennverlauf enorm. Und McLaren-Teamchef Andrea Stella stellt klar, dass sein Team strategisch nicht falsch lag: "Bei einem Restart hätten die Piloten auf abgefahrenen Intermediates Probleme bekommen und dann hätte die Sache anders ausgesehen." Red-Bull-Teamchef Christian Horner hält dagegen: "[Unsere] Intermediates waren noch in gutem Zustand."
Verstappen fuhr in der Tat konkurrenzfähige Rundenzeiten. Leclerc, der in Runde 24 als erster Fahrer frische Intermediates abgeholt hatte, fuhr auf den frischen Pneus nicht schneller - zunächst. Als Leclerc freie Fahrt hatte und sich der Regen intensivierte, legte der Ferrari-Pilot nach.
Das hing aber auch damit zusammen, dass Verstappen viel Tempo rausnahm, sobald der Regen extrem wurde. In Runde 29 fuhr er über 4 Sekunden langsamer als Esteban Ocon direkt vor ihm, der ebenfalls noch auf dem ersten Satz Intermediates unterwegs war. WM-Leader Verstappen wollte einfach nur im Rennen bleiben.
Tatsächlich hätte Tsunoda der große Gewinner der Regenlotterie sein können. Nicht nur, dass er im Gegensatz zu Norris und Russell Full Wets aufzog. Der Japaner absolvierte seinen Stopp auch während der VSC-Phase. Die beiden Briten hatten den perfekten Zeitpunkt genau verpasst.
Allerdings ist die Datenlage dünn. Nach Nico Hülkenbergs Abflug stand die Strecke unter VSC. Nach einer kurzen Grün-Phase schickte die Rennleitung das Safety Car raus. Einige Piloten fuhren keine komplette Runde unter Grün.
Tsunoda nimmt Verstappen 8,5 Sekunden in 2 Sektoren ab
Die Sektorzeiten zeigen, wie groß der Vorteil der Full Wets war. In zwei Sektoren fuhr Tsunoda 8,5 Sekunden schneller als Verstappen. Der Weltmeister fuhr natürlich im Überlebens-Modus. Selbst Ocon verlor jedoch in den zwei Sektoren 6 Sekunden. Und die zumindest frisch bereiften Russell und Norris? Die fuhren praktisch die gleichen Zeiten wie Ocon. Deshalb lag Tsunoda zum Zeitpunkt des Safety Cars in Runde 30 schon direkt hinter Russell.
Dass Leclerc beim Starkregen deutlich schneller fuhr als das britische Duo, das zuvor an der Spitze lag, hängt einerseits damit zusammen, dass seine Reifen schon auf Temperaturen waren. Andererseits aber auch mit der Tatsache, dass in dieser Phase vor allem das Risiko das Tempo bestimmte.
Das konnte man auch wunderbar an Russell und Norris sehen, die auf identischem Material unterwegs waren. Während sich der McLaren-Pilot noch den gesamten ersten Stint die Zähne am Mercedes-Piloten ausgebissen hatte, konnte er in Runde 30 direkt vor dem Safety Car plötzlich an ihm vorbeigehen. Bei den extremen Bedingungen nahm Russell schließlich deutlich mehr Risiko und Tempo raus als Norris.
Rennunterbrechung für Verstappen gut, aber kein Glück
Hatte Verstappen also zumindest mit den Entscheidungen der Rennleitung nur Glück? Nein. "Wir hatten schon zuvor mit einer Unterbrechung gerechnet", erklärt Horner. Und die Gedanken des Briten sind durchaus nachvollziehbar. Es ist kein Geheimnis, dass die Bedingungen in der Formel 1 praktisch als unfahrbar gelten, sobald der Full Wet Performance-technisch Sinn macht.
Das Problem ist dabei nicht in erster Linie der Reifen. Pirellis Vollregenreifen verdrängt genügend Wasser, um fahren zu können. Zwei Faktoren sorgen dafür, dass bei derartigen Bedingungen nicht mehr gefahren werden kann: Die Sicht und die Autos.
Sobald so viel Wasser auf der Strecke steht, wird die Gischt zu groß. Die Unterböden werfen derart viel Spray in die Luft, dass die Piloten nichts mehr sehen können. Dass die Gischt nicht vom Reifen kommt, merkte man spätestens bei Versuchen mit den sogenannten Spray Guards, sozusagen Kotflügel für Formel-1-Autos, die die FIA in diesem Jahr erfolglos testete. Dazu kommt, dass die Autos so tief abgestimmt sind, dass sie mit der Bodenplatte aufschwimmen können.
Pirellis Regenreifen besser als sein Ruf, aber sinnlos
Bei der aktuellen Auslegung der Regenreifen macht es praktisch kaum Sinn, den Full Wet aufzuziehen. Sobald er bei der Performance dem Intermediate überlegen ist, sind die Bedingungen zu schlecht, um überhaupt fahren zu können.
Nur in ganz seltenen Fällen kommt der blau markierte Reifen des freiwillig zum Einsatz. Freiwillig, weil bei einem Start hinter dem Safety Car der Vollregenreifen verpflichtend ist. Der Haas-Poker dieses Jahr in Montreal mit dem Full Wet ging auf, doch damals startete man zwar im Nassen, aber der Regen hatte aufgehört und die Bedingungen wurden besser. Mit einem Abbruch musste man dort deshalb nicht rechnen.
Anders in Brasilien. Ein Abbruch lag sprichwörtlich in der Luft. Noch bevor Rennleiter Niels Wittich aufgrund der schlechten Bedingungen Bernd Mayländer losschickte, forderten zahlreiche Piloten einen Abbruch - selbst Fahrer, die auf den Full Wets unterwegs waren. "Es ist zu gefährlich, ich habe wie verrückt Aquaplaning", funkte Yuki Tsunoda.
Fahrer sahen Rennunterbrechung vorher, Russell sogar Colapinto-Crash
Im Nachhinein ist man immer schlauer, heißt es so schön. Viele waren es schon zuvor. Bevor Sergio Perez zum Stopp geholt wurde, sagte er: "Lasst uns draußen bleiben. Es wird bald eine Rote Flagge geben." Genau aus diesem Grund wollte eigentlich auch George Russell nicht zum Stopp kommen: "Ich bleibe draußen, es sollte gleich Rot kommen."
Der Brite funkte außerdem: "In Kurve 13 ist eine große Pfütze, es wird dort einen großen Crash geben." Der Funkspruch kam kurz vor dem Safety Car. Wiederum kurz darauf flog Franco Colapinto mit VSC-Speed, weil er das Feld noch nicht eingeholt hatte, tatsächlich in ebenjener Kurve 13 ab. Aus dem Safety Car wurde Rot. Colapinto hatte übrigens schon frische Intermediates montiert.
"Ja, da war Glück dabei, gar keine Frage", gibt Formel-1-Experte Christian Danner Lando Norris recht. Aber nur teilweise: "Dass dann die rote Flagge kam, war eigentlich ganz normal und die Regeln, die bei der roten Flagge zu beachten sind, die wussten alle. Und das, was Verstappen das gefahren ist, das muss man erst einmal zusammenbringen: Das war Masterclass. Denn da war kein Verbremser, kein Rutscher und kein Fehler dabei."
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