Die Konzeptfrage ist derzeit das dominierende Thema in der Formel 1. Vermeintliche Kopie des Red-Bull-Konzeptes hier, Null-Seitenkästen-Konzept da. Dazwischen fallen auch immer wieder Worte wie Downwash oder Seitenkästen-Undercut. Fakt ist, Red Bull hat das beste Auto, Aston Martin verrichtete über den Winter die beste Entwicklungsarbeit und der Silberpfeil des einstigen Dauersiegers liegt weit hinter den eigenen Erwartungen zurück. Die Formel-1-Welt ist sich sicher: Mercedes hat am falschen Konzept festgehalten.

"Wir haben ein bisschen Zeit damit verbracht, aber das ist so aggressiv, so kompromisslos", verrät Alfa-Saubers Technikchef Jan Monchaux in der aktuellen Ausgabe des Motorsport-Magazins. "Sie haben den Kürzeren gezogen, sie waren für Jahre Klassenprimus und haben einen Schritt in die falsche Richtung gemacht und für uns war klar, dass wir diesen Weg gar nicht einschlagen wollen, auch wenn es extrem war."

Konzept-Fehler: Darum wäre das Mercedes früher nicht passiert

Für den einstigen Serienweltmeister Mercedes ist 2023 der zweite Fehlstart in eine Saison hintereinander. In der Vergangenheit wäre ein Top-Team wie die Silberpfeile wahrscheinlich gar nicht erst in eine solche Situation gekommen. Denn vor der Einführung der Budgetobergrenze in der Formel 1 stand den Spitzenrennställen quasi ein unbegrenztes Budget zur Entwicklung zur Verfügung. So wurden im Laufe der Vorsaison und über den Winter gleich mehrere Konzepte parallel entwickelt und auf ihre Tauglichkeit überprüft.

Hätte sich in einem solchen Fall das gewählte Designkonzept für das neue Auto als Fehler erwiesen, wie beim W13 in der Saison 2022 und nun auch beim W14, hätte die Designabteilung bereits mehrere Alternative Wege in der Schublade gehabt - die schon in CFD und Windkanal ausgeklügelt wurden und nun sofort umgesetzt und weiterentwickelt werden könnten. In Zeiten des begrenzten Budgets sieht das anders aus. Mercedes konnte erst nach der Entscheidung zum Konzeptwechsel seine limitierten Ressourcen voll in eine andere Entwicklungsrichtung konzentrieren - und muss jetzt mit einem zeitlichen Verzug der Konkurrenz hinterhereilen, die teilweise bis zu einem Jahr mehr Erfahrung mit diesem Konzept aufweist.

"Was Aston Martin geschafft hat, beweist, dass wir sechs oder sieben Monate benötigen", gesteht Mercedes-Teamchef Toto Wolff die Situation, die sein Team nach so vielen Jahren der Dominanz und quasi nie versiegender Geldquellen gar nicht mehr kennt. Der Österreicher schätzt den Zeitverzug, bis Mercedes den Wissensvorsprung von Red Bull eingeholt hat, auf sechs bis zwölf Monate ein. "So viel Zeit ist uns verloren gegangen, bis wir verstanden haben, was mit dem Auto passiert. Das bedeutet: Wir müssen doppelt so schnell und gut entwickeln wie sie."

Russell sah sich schon nach dem ersten Rennen in Bahrain bereit, die Saison zu opfern, Foto: LAT Images
Russell sah sich schon nach dem ersten Rennen in Bahrain bereit, die Saison zu opfern, Foto: LAT Images

Falsches Konzept: Darum kann Mercedes kein B-Auto bauen

Seit der Bahrain-Pleite im Qualifying und Rennen beim Saisonstart 2023 wird in Brackley der Neustart eingeleitet. Einst hatten die Top-Teams nicht nur die besten Karten auf der Hand, sondern vor allem die meisten. Zu Spitzenzeiten gaben Red Bull, Mercedes und Ferrari an die 400 Millionen US-Dollar und mehr aus. Auch vor der Turbo-Hybrid-Ära kam es durchaus vor, dass Teams ihre Autos einem radikalen Wandel unterzogen. So beispielsweise der McLaren MP4-19 (17 Punkte) aus dem zur Saisonmitte 2004 der MP4-19B (52 Punkte, 1 Sieg, 3 Podestplätze) wurde.

Nun aber stehen den Top-Teams 250 Millionen Dollar weniger zur Verfügung und das brachte viele Veränderungen mit sich, die einer Rundumerneuerung eines Autos im Wege stehen. Einerseits mussten viele der Top-Teams ihr Personal, das für das Formel-1-Team arbeitet, reduzieren. Die Teams versuchten deshalb, möglichst viele Mitarbeiter anderen Projekten ihres Motorsport-Engagements zuzuteilen. Zum Beispiel in anderen Rennserien oder Kundenprojekten. Bei Mercedes waren dies zum Beispiel das werksseitige Engagement in der Formel E (ein Großteil des Teams ging nach dem FE-Ausstieg zu McLaren, die den Rennstall übernahmen) oder Applied Science Projekte wie für INEOS Britannia im America's Cup. Der verbliebene Teil der "nicht mehr"-Formel-1-Belegschaft heuerte bei einem kleineren Team an oder zog sich aus der Formel 1 zurück.

Weniger Ingenieure bedeuten natürlich auch weniger Ideen. James Allison schätzte einst, von 20 Ideen, die ein Ingenieur habe, komme am Ende vielleicht eine auf der Rennstrecke ans Auto. Diese Schätzung stammt aber aus einer Zeit, in der Windkanalzeiten gar nicht beschränkt waren. Seit 2020 gibt es ein Handicap-System, das zur neuen Generation zusätzlich verschärft wurde. Und auch die CFD-Simulationen, die heutzutage bereits die Windkanalarbeit in vielen Bereichen ergänzen, sind im Handicap implementiert. Eine komplizierte Berechnung sogenannter "Mega Allocation Unit hours", kurz MAUh, reglementiert, wie detail- und umfangreich die CFD-Simulationen sein dürfen. Kurzum: Weniger Budget, weniger Personal, weniger Ideen und weniger Zeit, um die wertvollen Werkzeuge wie CFD und Windkanal zu nutzen.

Toto Wolff und Mercedes liegen weit hinter den eigenen Ansprüchen zurück, Foto: LAT Images
Toto Wolff und Mercedes liegen weit hinter den eigenen Ansprüchen zurück, Foto: LAT Images

Das bedeutet: Mercedes kann nicht einfach alle Ressourcen auf die Entwicklung eines W14B werfen, gleichzeitig neue Wege für den W15 für 2024 suchen und bei all dem innerhalb des Budget-Caps bleiben. Alfa-Sauber arbeitete zum Beispiel nur wenige Tage an einem ähnlichen Zero-Sidepod-Konzept wie es Mercedes 2022 einführte - da die Erfolge damit ausblieben, wurde die Arbeit daran rasch eingestellt. Ein Top-Team hätte früher Monate daran gefeilt und versucht, es mit einem eigenen Ingenieurs-Team zum Funktionieren zu bringen.

Selbiges gilt nun für Mercedes selbst - zwei Dinge gleichzeitig entwickeln geht nicht. "Heißt: Sie versuchen es, schauen sich ein paar Sachen an, machen zwei, drei Iterationen und wenn es dann nicht Wupps macht, lassen sie es bleiben", erklärt Monchaux. "Wären sie allen anderen eine Sekunde um die Ohren geflogen, dann sicherlich nicht. Aber sie müssen auch manchmal einfach Entscheidungen treffen und realistisch sein."

Vor der Zeit der Kostenobergrenze konnte sich Mercedes den Luxus leisten, gleich mehrere Autos oder zumindest Designwege zu entwickeln. Das ist jetzt nicht mehr möglich, was im Umkehrschluss aber auch bedeutet: das Budget-Cap funktioniert. Das Feld rückt näher zusammen, die Top-Teams können Fehler nicht einfach mit einem dicken Bankkonto ausgleichen. Umso mehr schmerzt sie jeder Fehler.