Sebastian Vettel wird diesen Artikel wohl nicht lesen. Warum? Nicht nur, weil er dieses Magazin nicht abonniert hat. Er selbst sagt in seinem Rücktrittsvideo: »Die Spuren, die ich auf der Strecke hinterlassen habe, werden bleiben, bis Zeit und Regen sie wegspülen. Neue Spuren werden folgen.« Auch in seiner Rücktrittspressekonferenz ist von Eitelkeit keine Spur: »Wir alle haben ein Limit. Wenn man mehr erreicht, geht man mehr an die Grenzen, aber es ist gut, dass es neue Jungs gibt, die sich sehr gut schlagen. Heute und morgen gehört ihnen. So ist das im Leben. Jeder hat seine Zeit und es ist am wichtigsten, dass wir das Beste daraus machen. Es genießen und dann für die Nachkommenden Platz machen.« So etwas könnte ein Rennfahrer sagen, der mitgefahren ist. Sebastian Vettel aber ist mehr als ‚nur' mitgefahren. Wenn er in Abu Dhabi zum letzten Mal in sein Formel-1-Cockpit klettert, wird er Grand Prix Nummer 300 in Angriff nehmen. Eine eindrucksvolle Zahl, aber doch spiegelt sie ‚nur' das Mitfahren wider. Es gibt interessantere Statistiken, um einen Rennfahrer einzuschätzen. WM-Titel zum Beispiel. Vier Stück davon stehen bei Vettel auf der Haben-Seite. Oder Siege: 53 lässt der Heppenheimer bis dato - und wohl auch bis Karriereende - notieren. Pole Positions: Satte 57. Podien: 122-mal durfte er auf dem Siegertreppchen Champagner oder ähnlich edle Getränke verspritzen.

In einer Liga: Sebastian Vettel gehört statistisch zusammen mit Michael Schumacher und wenigen anderen zur absoluten Elite der Formel 1, Foto: Mercedes-Benz
In einer Liga: Sebastian Vettel gehört statistisch zusammen mit Michael Schumacher und wenigen anderen zur absoluten Elite der Formel 1, Foto: Mercedes-Benz

Bloße Zahlen wollen eingeordnet werden. Wir können es an dieser Stelle kurz machen: In allen relevanten Statistiken rangiert Vettel in den Top-5. Er teilt sich die ersten Plätze in den jeweiligen Listen mit Namen wie Michael Schumacher, Lewis Hamilton, Alain Prost, Ayrton Senna, Sir Jackie Stewart, Jim Clark, Juan Manuel Fangio und Co. Statistiken wiederum wollen wie Zahlen ebenfalls eingeordnet werden. Und genau da scheiden sich bei Vettel die Geister. Ex-Formel-1-Pilot Eddie Irvine bezeichnete Vettel einst als ‚One-Trick-Pony', meinte, der Heppenheimer hätte seine vier Titel nicht verdient. »Wann immer er in einem Zweikampf ist, wird er Zweiter«, sagte der Ire damals. Als Vettel seinen Rücktritt verkündete, gab es Lobhudeleien von allen Seiten. Mit frisch zurückgetretenen Sportlern ist es wie mit Toten: Man spricht nicht schlecht über sie. Bei Vettel überschlugen sich die Komplimente geradezu. Man erinnerte sich wieder an die Zeiten, als Vettel die Formel 1 komplett auf den Kopf stellte, sich anschickte, ein Dominator wie sein großes Vorbild Michael Schumacher zu werden. Den Grundstein dafür legte er aber weit vor seinen erfolgreichen Red-Bull-Jahren.

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»Ich bin besessen von Perfektion«, sagt Vettel über sich selbst. 2004, mit 17 Jahren, dominierte er die Nachwuchsserie Formel BMW. 18 von 20 Rennen gewann er, für jeden Sieg klebte er einen Smiley auf sein Auto. Allerdings waren es am Ende der Saison für den Geschmack des jungen Vettel zwei Smiley zu wenig. »Er hat 18 von 20 Rennen gewonnen und war unzufrieden«, erinnert sich Dr. Helmut Marko zurück. Schon damals gehörte Vettel zum Förderkader des österreichischen Brauseherstellers. Doch Vettel war nicht wie die anderen Junioren, wie Marko weiß: »Die anderen haben zwar auch Meisterschaften gewonnen, waren mit sich und der Welt aber mehr als zufrieden und haben sich ein gutes Leben gegönnt. Vettel hat immer weiter an Details gearbeitet, hat sich darum gesorgt, wer seine Mechaniker am Auto sind, wer der Ingenieur ist, wie das Konzept ist. Er hat sich sehr intensiv eingebunden und das ist auch notwendig.«

18 Rennsiege in 20 Rennen 2004, zufrieden? Keine Spur! Sebastian Vettel strebte seit eh und je nach Perfektion, Foto: Sutton
18 Rennsiege in 20 Rennen 2004, zufrieden? Keine Spur! Sebastian Vettel strebte seit eh und je nach Perfektion, Foto: Sutton

Die Detailverliebtheit zeichnet den Heppenheimer seine ganze Karriere über aus. Den ein oder anderen Teamkollegen trieb er mit ewig dauernden Debriefings in den Wahnsinn. »So wie Lauda das Testen eingeführt hat, hat der Vettel den komplexen Fahrer eingeführt«, meint Marko. »Er sitzt nach dem Training und nach dem Qualifying da und geht die Daten durch und immer wieder durch und immer wieder durch. Und dabei findet er eine Hundertstel dort und eine Tausendstel da. Er ist ein sehr komplexer, sehr fleißiger und technisch versierter Fahrer.«

Mit dem Wissen um Vettels Einstellung erscheint sein legendärer Spruch aus der Saison 2013 in einem anderen Licht. »Wenn andere am Freitag die Eier in den Pool hängen lassen, arbeiten wir immer noch hart.« So erklärte er damals seine drückende Überlegenheit. Vettel gewann damals nicht nur die Weltmeisterschaft und 13 Grands Prix binnen eines Jahres. Er gewann nach der Sommerpause jedes einzelne Rennen. Neun am Stück. Ein Rekord, der wohl noch eine Weile Bestand haben dürfte. Doch Grundlage allen sportlichen Erfolgs ist das Talent.

Es ist keine Geschichte des väterlichen Drills wie bei Jos und Max Verstappen. Vettel wurde nie an einer Autobahnraststätte ausgesetzt, zumindest wäre diese Geschichte nicht bekannt. Aber Papa Norbert Vettel versierte die Karriere des Sohnemanns. Als sich der junge Sebastian das Kart schnappte, das eigentlich für die älteren Schwestern gedacht war, freute sich der Herr Papa. Die Mittel der Vettels waren begrenzt, als Zimmermann konnte Norbert Vettel seinen Sohn nicht unterstützen wie ein Ex-Formel-1-Fahrer. Dafür gab es alternative Lehrmethoden. Mit dem Gartenschlauch wurde der Hof unter Wasser gesetzt, damit der Sohn stärker gefordert wurde. Talent und eine außerordentliche Arbeitseinstellung machten Vettel schnell zum Überflieger.

Erster Formel-1-Einsatz: Sebastian Vettel darf als dritter Fahrer in der Türkei 2006 für BMW Sauber an freien Trainings teilnehmen, Ergebnis: Bestzeit im zweiten freien Training, Foto: Sutton
Erster Formel-1-Einsatz: Sebastian Vettel darf als dritter Fahrer in der Türkei 2006 für BMW Sauber an freien Trainings teilnehmen, Ergebnis: Bestzeit im zweiten freien Training, Foto: Sutton

2006, mit 19 Jahren saß er zum ersten Mal an einem GP-Wochenende in einem Formel-1-Auto. BMW setzte damals auf Vettel und ließ ihn Freitagstrainings fahren. Gleich beim ersten Einsatz in der Türkei holte er sich im 2. Training die Bestzeit - vor Felipe Massa im Ferrari. 2007 ersetzte er in Indianapolis Robert Kubica und kam so zu seinem ersten GP-Einsatz, den er als bis dato jüngster Fahrer mit Formel-1-Punkten beendete. Sein Sieg in Monza eine Saison später im Toro Rosso ist bis heute unvergessen. Erst Max Verstappen löste ihn fast ein Jahrzehnt später als jüngster GP-Sieger ab. Jüngster Pole-Setter ist Vettel bis heute, jüngster Weltmeister ebenfalls. Die Karriere des Heppenheimers, sie nahm besorgniserregend schnell Fahrt auf. Allein zwischen 2010 und 2013 siegte er 34-mal. »Meine Lieblingsfarbe ist blau«, sagt er in seinem Rücktrittsvideo. Was Michael Schumacher in Rot war, war Sebastian Vettel in Blau: Mit Red Bull prägte er eine Ära der Formel 1, drückte dem Sport seinen Stempel auf. Eine ganze Generation an neuen deutschen Formel-1-Fans jubelte plötzlich mit dem Vettel-Finger.

All das nur, weil Red Bulls Stardesigner Adrian Newey das perfekte Gefährt für den Fahrstil des Heppenheimers hinstellte? »Das ist unfair«, meint Experte Christian Danner. »Jeder Rennfahrer hat, wenn er Weltmeister wird, das Auto genau so, wie es ihm schmeckt. Sebastian hatte in der Zeit der relativ leichten Autos mit angeblasenem Diffusor einen Vorteil, weil es seinen Vorlieben entsprochen hat. Aber das war immer so: Auch ein Michael Schumacher hatte ein Auto, das für ihn so 100 Prozent gepasst hat. Er hat es so bekommen, wie er es haben wollte. Natürlich muss das passen, natürlich haben die verschiedenen Saugmotor-Red-Bulls zu 100 Prozent zu seinem Fahrstil gepasst. Aber so muss es nun mal sein: Niemand ist auf einem Auto Weltmeister geworden, das er nicht richtig fahren konnte.« Wie es so oft in geschichtlichen Nachbetrachtungen passiert, wird die Vergangenheit glorifiziert. Auch Vettels WM-Jahre hatten ihre Kontroversen. Selbst als dreimaliger Weltmeister und Alleinherrscher im Team wollte Vettel Teamkollege Mark Webber beim Malaysia GP 2013 nicht ziehen lassen. Er zeigte Webber, aus welchem Holz Champions geschnitzt sind. Stallorder gibt es nur, wenn sie davon profitieren. Mensch und Rennfahrer Sebastian Vettel haben sich aber weiterentwickelt. Die große Regel-Revolution 2014 schmeckte ihm überhaupt nicht. 13 Siege 2013, null 2014. Stattdessen vom jungen Teamkollegen Daniel Ricciardo gebügelt.

»Batterien gehören ins Handy.« Ein Satz, den Vettel heute so sicher nicht mehr sagen würde. Damals war die Hybridisierung für Vettel nicht nur der Verlust eines Kulturguts, des hochdrehenden Saugmotors mit infernaler Klangkulisse. Damals bedeutete die neuartige Antriebseinheit den sportlichen Abstieg für ihn und Red Bull. Der Umweltgedanke war damals noch kaum bis gar nicht ausgeprägt. Wie sehr ihm die Botschaft heute am Herzen liegt, zeigt, wie sehr sich der Mensch Sebastian Vettel verändert und entwickelt hat. Heute ist die schlechte Vereinbarkeit von Umweltschutz und Motorsport mitverantwortlich für seinen Rücktritt. Auch seine Ansichten zu Grid Boys dürften sich gravierend verändert haben. »Ich bin tolerant und denke, wir alle haben das gleiche Recht zu leben. Egal wo wir herkommen, wie wir aussehen und wen wir lieben«, sagt er heute. Einst beschwerte er sich lauthals darüber, vor dem Rennen auf »den Hintern von George und Dave« blicken zu müssen: »Wenn ich auf Männer stehen würde, wäre es etwas anderes.« Heute demonstriert er im Regenbogen-T-Shirt gegen den ungarischen Präsidenten Viktor Orban und wirbt stets für mehr Toleranz.

Menschlich haben Vettel die Ferrari-Jahre womöglich mehr geprägt als sportlich. Nach der Seuchen-Saison 2014 erfüllte er sich mit dem Wechsel zur Mythosmarke einen Traum. Nun war er endgültig auf den Spuren seines Idols. Zunächst wirkte alles wie ein Traum: Schon im zweiten Rennen gelang der erste Sieg für die Scuderia. Es war nicht irgendein Sieg. Es war das erste Rennen der Turbo-Hybrid-Ära, in dem Mercedes ehrlich auf der Strecke geschlagen wurde. Obwohl Vettel und Ferrari 2015 noch weit weg vom Titel waren, mit dem Deutschen kam wieder ein Messias nach Maranello. Nach der schwierigen Alonso-Beziehung hatten die Tifosi wieder einen Liebling, der in wenigen Monaten nahezu perfekt Italienisch sprach.

Der Vettel-Finger war zurück: In Malaysia 2015 holten Vettel und Ferrari den ersten Sieg eines Teams aus eigener Kraft in der Hybrid-Ära, das nicht Mercedes war, Foto: Sutton
Der Vettel-Finger war zurück: In Malaysia 2015 holten Vettel und Ferrari den ersten Sieg eines Teams aus eigener Kraft in der Hybrid-Ära, das nicht Mercedes war, Foto: Sutton

Das Ende des Ferrari-Kapitels aber ist bekannt: Den WM-Titel holte er nicht zurück nach Maranello. Stattdessen wurde er nach zahlreichen Fehlern und einer schwierigen Saison neben Charles Leclerc vom Hof gejagt. 2017 noch kämpfte Vettel gegen Hamilton im Duell der Giganten um WM-Titel Nummer fünf. Wenige Jahre später ist der eine siebenfache Weltmeister, der beste Pilot der Geschichte und der andere gescheitert? »Überhaupt nicht«, meint Christian Danner. Mit 14 Siegen für Ferrari ist Vettel der dritterfolgreichste Wagenlenker in der Geschichte der Scuderia. »Ein Vettel ist für mich durchaus jemand, der mit ein bisschen mehr Glück auch im Ferrari Weltmeister hätte werden können«, so Danner. »Er ist nicht so limitiert auf ein Auto.« Von Hero to Zero in wenigen Jahren. Der Fahrer Vettel scheiterte nicht mit Ferrari, der Mensch Vettel scheiterte an Ferrari. Einst nicht ausreichend unterstützt vom damaligen Teamchef Maurizio Arrivabene, schließlich neben Charles Leclerc untergangen und von Mattia Binotto abserviert. Es ist die Grausamkeit des Spitzensports, die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit.

Ein Neuanfang: 2021 wechselte Vettel zu Aston Martin und wollte es nochmal wissen, Foto: LAT Images
Ein Neuanfang: 2021 wechselte Vettel zu Aston Martin und wollte es nochmal wissen, Foto: LAT Images

Für viele war es das mit dem Wunderkind. Für Vettel selbst nicht. Er suchte 2021 mit Aston Martin eine neue Herausforderung. Eine Herausforderung, die viele nicht nachvollziehen konnten. Eine Herausforderung in einem bestenfalls Mittelfeldteam an der Seite eines Milliardärssohnes. Kritiker sehen sich kurz vor dem Ende des sportlich grünen Kapitels bestätigt. Vettel auch - aber anders: »Ich habe seitdem zwar keine Rennen gewonnen, aber ich denke nicht, dass ich das musste. Es ging mehr darum, es selbst zu lösen. Ich weiß, was ich kann. Ich weiß, dass ich zu den Besten gehören kann und was es dafür braucht.«

Nach seiner bittersten sportlichen Niederlage gegen Leclerc musste er es sich noch einmal selbst beweisen. Das Material für die ganz großen Resultate hatte er dabei nicht mehr. Immerhin einmal durfte er auch für Aston Martin noch aufs Podium klettern. Sich selbst hat er es bewiesen, seinen Kritikern vielleicht nicht. Aber das dürfte ihm auch egal sein. Vor einigen Jahren sagte Vettel in Ausgabe 67 dieses Magazins: »Am Ende befinden wir uns hier in einer Blase. Kann man mit dem, was wir machen, im großen Ganzen ein Vermächtnis hinterlassen? Wahrscheinlich nicht. Aber es bedeutet viel für mich und ich will ein Vermächtnis für mich selbst schaffen.« Das Interview beendete er damals übrigens lachend mit den Worten: »Ich gehe jetzt zurück an den Pool!«