Es wird 2022 zur Gewohnheit: Alle lachen Ferraris Strategie-Abteilung nach einem Formel-1-Rennen aus, und verkünden dann, was sie besser gemacht hätten. In Frankreich war das nicht anders. Carlos Sainz wurde mitten im Kampf gegen Sergio Perez angefunkt, an die Box zu kommen. Sainz sorgte daraufhin mit einem gestressten "Nicht jetzt! Nicht jetzt!" für das zweite legendäre Strategie-Soundbyte der Saison (nach "Stop inventing!" in Silverstone).

Er nahm Perez Platz drei ab, wurde trotzdem zum Stopp geholt, und statt auf P3 landete er einsam auf P5. Weil die verbleibenden elf Runden natürlich nicht reichten, um Perez und George Russell wieder einzufangen. Hätte man Sainz früher reinholen oder einfach draußen lassen müssen? Ist die Lösung so einfach? Teamchef Mattia Binotto reagierte auf Sky etwas frustriert auf die Nachfrage: "Wir 'glauben' nicht, dass es die richtige Entscheidung war. Wir sind uns ziemlich sicher." Motorsport-Magazin.com analysiert die beiden Optionen.

Hätte Ferrari Sainz durchfahren lassen sollen?

Die erste Option war durchzufahren, nachdem Sainz den dritten Rang von Perez übernommen hatte. Sainz selbst beklagte sich diesbezüglich sogar mehrmals am Funk, einschließlich auf der Cooldown-Runde. Nur gibt es ein Problem: Sainz war auf Hard gestartet, und hatte dann beim frühen Safety Car auf Medium gewechselt. Durchfahren hätte 35 Runden auf Medium in starker Hitze bedeutet.

Ein einziger Fahrer wagte den 35-Runden-Schlussstint auf Medium, nämlich Pierre Gasly. Er beendete seinen Stint, ohne dass die Zeiten einbrachen, und fuhr in der letzten auch seine schnellste Runde. Ein Beweis für einen Ferrari-Fehler ist das aber nicht unbedingt. Das Problem war Blasenbildung auf dem rechten Vorderreifen. Die war bei Sainz deutlich extremer, weil er in jeder Runde eineinhalb bis zwei Sekunden schneller fuhr als Gasly und sich außerdem mit Perez und Russell duellierte.

"Ihm gingen die Reifen aus", rechtfertigt Mattia Binotto. "Es wäre sehr riskant gewesen, damit durchzufahren." Außerdem hing eine Fünf-Sekunden-Strafe über Sainz, die er für einen Unsafe Release bekommen hatte, als er beim ersten Boxenstopp trotz roter Ferrari-Ampel losgefahren war. Die wäre ihm im Ziel angerechnet worden. Was heißt, dass er fünf Sekunden auf Perez und Russell hätte herausfahren müssen. "Wir glauben nicht, dass er die Pace dafür noch hatte", sagt Binotto.

Es wäre ungerecht, Ferrari also aufgrund einer vagen Schätzung zu unterstellen, dass Sainz' Reifen gehalten hätten. Sainz selbst räumte nach dem Rennen ein, dass seine Forderungen, nicht zu stoppen, wohl durch die Hitze des Gefechts mit Perez beeinflusst wurden: "Ich sah das Podium." Vor dem Perez-Manöver plante Sainz klar mit einem zweiten Stopp, da er nicht glaubte, den Red Bull überholen zu können, so viel geht aus dem Funk hervor. Was zur zweiten Option überleitet.

Hätte Ferrari Sainz früher zum Stopp holen sollen?

Ferrari stoppte Sainz in Runde 42. Wenn man ohnehin einen Stopp plante, hätte es dann nicht mehr Sinn gemacht, den früher zu setzen? Nach seinem Boxenstopp war Sainz abzüglich der VSC-Runden im Schnitt 1,8 Sekunden pro Runde schneller als Perez und Russell. Aber um die 34 verlorenen Sekunden in 11 Runden aufzuholen, dafür war es natürlich zu spät.

Unter der Annahme, dass Sainz diese Pace halten könnte, hätte er zusätzlich sechs bis sieben Runden gebraucht, um Perez wieder einzuholen. Acht oder neun, wenn die Pace etwas gefallen wäre. Es erscheint nur logisch, Sainz daher früher zu stoppen und ihm zumindest die Chance zu geben, die Lücke zuzufahren. Statt in Runde 42 also spätestens in Runde 35. Dass die Medium-Reifen am Ferrari 18 Runden hielten, war verbrieft: Leclerc hatte am Rennstart trotz voller Tanks 17 Runden lang konstante Zeiten fahren können.

Nur gibt es wieder ein Problem: Diesmal der Verkehr. In Frankreich kostet ein Boxenstopp viel Zeit, denn die Boxengasse ist sehr lang und mit 60 km/h beschränkt. Man verliert ungefähr 28 Sekunden. Dazu addiert werden muss, dass Stopps in Hitzerennen oft langsamer sind. Und, dass Sainz eine Fünf-Sekunden-Strafe absitzen musste. Sein realistisches Boxenstopp-Delta lag also bei über 34 Sekunden.

Dann wird schnell klar, warum Ferrari zögerte. Zum "besseren" Boxenstopp-Zeitpunkt waren noch viele Mittelfeld-Autos im Boxenstopp-Fenster. Wäre Sainz in Runde 33 gekommen, wäre er bis hinter Nicholas Latifi zurückgefallen. In Runde 35 wäre er noch immer hinter Pierre Gasly gelandet und hätte sich durch zehn Autos kämpfen müssen, um überhaupt zurück auf den fünften Platz zu kommen.

RundeAutos im Boxenstoppfenster
3312 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO, STR, ALB, VET, BOT, MAG, GAS, LAT)
3412 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO, STR, ALB, VET, BOT, MAG, GAS, LAT)
3511 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO, STR, ALB, VET, BOT, MAG, GAS)
368 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO, STR, ALB, VET)
378 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO, STR, ALB, VET)
386 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO, STR)
396 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO, STR)
406 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO, STR)
415 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO)
42 (Stopp)5 (RUS, ALO, NOR, RIC, OCO)

Natürlich hatte der Ferrari einen massiven Pace-Vorteil - aber das Mittelfeld hatte an dem Punkt noch halbwegs passable Reifen, und kleine DRS-Züge begannen sich da erst aufzulösen. Durch den Stopp in Runde 42 fiel er nur hinter vier Mittelfeld-Autos zurück, und der Reifen-Vorteil war größer. Ferrari funkte auch in Runde 41, man wolle lieber noch zwei Runden fahren, um in ein besseres Verkehrsfenster zu kommen.

Sainz musste mehrmals durch das F1-Mittelfeld, Foto: LAT Images
Sainz musste mehrmals durch das F1-Mittelfeld, Foto: LAT Images

Dass er hätte früher stoppen sollen ist also schön gedacht, sah aber auf der Strecke deutlich weniger schön aus. Mit einer Anmerkung: Was war der Sinn, bis Runde 42 durchzufahren? Hätte Sainz ein paar Runden früher gestoppt, so wäre er höchstwahrscheinlich auf den fünften Platz zurückgekommen, hätte jedoch zumindest eine Chance auf mehr gehabt - denn das Mittelfeld wollte lieber ungestört Reifenmanagement betreiben und leistete kaum Gegenwehr. Der Vorteil des späten Stopps: Sainz war in einer Position, in der der fünfte Platz und die schnellste Runde praktisch sicher waren.

Fazit: Viele Wege führten für Carlos Sainz auf den fünften Platz. Keiner war eine offensichtliche Garantie für mehr. Sowohl das Durchfahren als auch ein früher zweiter Stopp waren riskante Optionen. Wenn, dann hätte man Sainz etwas früher stoppen sollen, um ihm zumindest eine kleine Chance zu geben. Hätte Sainz beim ersten Stopp nicht die rote Ampel überfahren, hätte es übrigens anders ausgesehen. So hat er rückblickend fünf kritische Sekunden Rennzeit weggeworfen.