Kämpft Ferrari nach zwei Jahren im Mittelfeld in der Formel-1-Saison 2022 wieder an die Spitze? Oder mausert sich die Scuderia sogar zu absoluten Nummer eins? Angesichts durchweg starker Aufritte bei den Wintertestfahrten in Barcelona und Bahrain - ohne ersichtliche Probleme und mit augenscheinlich zügiger Pace aus dem Stand und unter allen Bedingungen, egal ob Short- oder Longrun - rechnet die Konkurrenz jedenfalls wieder fest mit Ferrari. Lewis Hamilton sprach sogar schon von einem roten Doppelsieg beim Saisonstart. Mattia Binotto, Charles Leclerc und Carlos Sainz wollen davon jedoch nichts wissen.
Mit insgesamt 788 Runden an sechs Tagen Wintertest drehte kein anderes Team mehr als die Scuderia. In der Zeitentabelle beim Abschlusstest in Bahrain sah Ferrari lange Zeit ebenfalls wie der sichere Branchenprimus aus - zumindest auf dem Papier. Erst ein ganz später Run Max Verstappens auf den C5-Pneus unter für die ultraweichen Reifen kühleren, weitaus besseren Bedingungen, entthronte Charles Leclerc (C4) letztendlich sogar deutlich - um sieben Zehntelsekunden.
Ferrari-Teamchef betont: Nicht im Ansatz Favorit
Dennoch: So aussortiert wie Ferrari kam sowohl in Barcelona als auch in Bahrain niemand daher, auch Ferrari und Mercedes nicht. Grund für Euphorie kommt im roten Lager deshalb dennoch längst nicht auf. "Nein, nicht im Ansatz. Wir sind nicht die Favoriten", winkt Teamchef Binotto ab. "Ich denke, die Favoriten sind die Teams, die letztes Jahr die besten waren, denn sie sind starke Teams und haben bewiesen, dass sie sehr schnell sein können. Sie haben fantastische Teams."
Daran hat sich auch mit dem völlig neuen Technischen Reglement nichts geändert. Doch eliminieren die neuen Regeln zumindest den in den Vorjahren erarbeiteten Vorteil der Konkurrenz. Für Binotto steht jedoch fest: Mercedes und Red Bull haben erneut extrem schnelle Pakete geschnürt. "Auf der Strecke zeigen sie, dass sie sehr, sehr schnell sind. Also denke ich, dass sie es sind [die Favoriten], und wir die Außenseiter", meint der Italiener trotz großen Sorgen insbesondere bei den Mercedes-Fahrern Lewis Hamilton und George Russell.
Carlos Sainz gelangweilt von Ferrari-Lob: Verstehe die Leute nicht
Für Carlos Sainz handelt es sich dabei nur um Tiefstapeln. "Das ist Mercedes, das ist Lewis, das ist nichts Neues für mich", winkt der Spanier nicht zum ersten Mal gelangweilt ab und erinnert an diverse Vorjahre. Vorschusslorbeeren für Ferrari? Habe es schon oft gegeben. "2018, 2019 und 2017 waren auch alle beeindruckt", erinnert Sainz. Stets folgten WM-Titel für Mercedes, teilweise überlegen. "Aber wir wissen, dass Testfahrten nichts bedeuten. Ich weiß nicht, warum die Leute da jedes Jahr in die gleiche Falle tappen müssen, zu viel in die Tests hineinzuinterpretieren."
Ein Geheimnis habe Ferrari dementsprechend auch nicht, so der Spanier auf Nachfrage. "Wir wissen ja noch nicht einmal, ob wir stärker oder schwächer als die anderen sind Also weiß ich das nicht. Aber die Zuverlässigkeit war sehr gut soweit", sagt Sainz.
Charles Leclerc: So glatt liefen die Testfahrten noch nie
Insbesondere das stimmt Maranello zumindest sehr zuversichtlich. Nicht, Favorit zu sein, aber zumindest eine starke Saison hinlegen zu können. "Wir haben es wirklich hinbekommen, alle sechs Tage der Testfahrten fahren zu können, ohne eine rote Flagge auszulösen oder ein einziges Problem auf der Strecke zu haben. Das ist sehr solide, es ist nicht so leicht mit einem ganz neuen Auto so solide zu sein", sagt Sainz. Deshalb fühle er sich zumindest so gut vorbereitet wie nur möglich. Auch das Bouncing habe Ferrari in der zweiten Testwoche sehr viel besser in den Griff bekommen. In Barcelona hüpfte der F1-75 noch mehr als alle anderen.
Teamkollege Charles Leclerc stimmt zu. "Es war definitiv eine der saubersten Vorbereitungen, die ich je vor einer Saison hatte", bekräftigt der Monegasse. "Keine größeren Probleme. Dabei erwartest du bei einem so neuen Projekt eigentlich immer irgendwelche Hindernisse." Abseits des zumindest unter manchen Bedingungen noch problematischen Bouncings sei jedoch alles glatt gelaufen und Ferrari habe sich Stück für Stück einfach immer weiter verbessern können.
Ferrari mahnt: Müssen Siegfähigkeit beweisen, Mercedes & Red Bull nicht
Wo Ferrari im Vergleich zur Konkurrenz stehe, sei fast unmöglich zu sagen, meint auch Leclerc. "Es ist sehr, sehr schwierig und deshalb müssen wir auch wirklich vorsichtig bleiben", erklärt der Monegasse die Zurückhaltung Ferraris. Hinzu komme, dass sowohl Mercedes und Red Bull in der zweiten Testwoche große Upgrade-Pakte gezündet hätten. "Mercedes hatte sogar ein komplett neues Auto und hat nicht sein Potential gezeigt", meint Leclerc.
Deshalb müsse Ferrari seine vermeintliche Stärke erst einmal unter Rennbedingungen beweisen, so Mattia Binotto. "Es stimmt schon, dass wir einen guten Testauftakt und einen guten Start in die Saison hatten. Aber um Favoriten zu werden, müssen wir erst einmal auch gute Rennen haben und müssen beweisen, dass wir gewinnen können", mahnt der Italiener. Von Red Bull und Mercedes wissen man das, so Binotto. "Deshalb denke ich, dass sie die Favoriten sind."
Kommt noch ein großes Ferrari-Upgrade in Bahrain?
Zumal Binotto fest davon ausgeht, dass von der Konkurrenz in der einen Woche bis Saisonbeginn noch jede Menge kommen wird. "Selbst am letzten Tag hat Red Bull hier noch Updates an sein Auto gebracht, sich so verbessert und damit gezeigt, wie gut sie sind, weiterzuentwickeln", sagt Binotto. "Und ich bin ziemlich sicher, dass von jetzt bis zum ersten Rennen sich vielleicht auch Mercedes verbessern wird. Sie sind sehr stark und sehr schnell. Ich erwarte, dass sie die ersten Rennen vorne sind. Ich hoffe, dass wir Außenseiter sein können. Ich hoffe, dass wir irgendwie versuchen können, sie herauszufordern. Das wäre für uns klasse."
Zaubert Ferrari dafür auch ein größeres Upgrade aus dem Köcher? Planmäßig verzichtete die Scuderia beim zweiten Test immerhin auf größere Neuerungen. "Wir brauchen immer noch einen weiteren Schritt", weicht Binotto nur aus. "In der F1 musst du immer entwickeln."
Grundlegend traut der Italiener seinem Team früher oder später das Comeback an die Spitze zu - so ist es dann auch wieder nicht. Immerhin dauere die Krise nicht allzu lang an und sei künstlich verlängert worden. "2017 war eine gute Saison für uns. 2018 war auch eine gute Saison. 2020 aber war eine sehr schwierige für uns und 2021 war das Auto zum Großteil eingefroren", erinnert Binotto. "Ich bin überzeugt, dass dieses Team ein großartiges ist. Es kann stark auftreten und in diesem Jahr einmal mehr zeigen, dass wir zurückschlagen können. Darauf konzentrieren wir uns."
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