"Ich sollte nicht dort fahren. Und ich werde dort nicht fahren." Mit diesem kompromisslosen Statement zu einem zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgesagten Russland-GP sorgte Sebastian Vettel im Rahmen der Formel-1-Testfahrten 2022 in Barcelona in der vergangenen Woche für Schlagzeilen.

Derart klare Kante, das ist im Milliarden-Business Formel 1 längst zum Dinosaurier geworden. Ausgestorben. Doch diese Boykottdrohung angesichts der russischen Invasion der Ukraine erreichte selbst für die Verhältnisse des viermaligen Formel-1-Weltmeisters - schon 2021 machte sich Vettel für große Themen abseits des Rennsports wie Menschenrechte und Umweltschutz stark - ein neues Niveau.

Sebastian Vettel: Habe gesagt, was ich als Mensch denke

Immerhin hätte sich Vettel damit erstmals selbst in seiner eigenen Berufsausübung eingeschränkt, hätte die Formel 1 den Russland-GP letztlich nicht tatsächlich abgesagt. Diesen Schritt ging kein anderer Fahrer, wenngleich auch der Großteil des Grids ein mögliches Rennen in Russland mindestens indirekt als falsch bezeichnete. Nur vergaloppiert hat sich Vettel mit dieser Aussage in einer offiziellen Pressekonferenz am Donnerstagmittag vor einer Woche nicht. "Meine Entscheidung ist aber schon getroffen", bekräftigte Vettel sofort.

Nach seinem Einsatz im Auto am Nachmittag führte Vettel seine Position näher aus. Im TV-Pen zeigte sich Vettel erneut nachdenklich und betrübt, aber in der Sache sehr klar. "Als ich heute Morgen gehört habe, was der aktuelle Stand ist, war der Schock riesig. Als ich dann gefragt wurde, habe ich genau das gesagt, was ich denke. Als Sportler sekundär, primär als Mensch", sagte Vettel.

Vettel: Blase Formel 1 jetzt sekundär

Doch auch als Sportler gebe es keinen Grund, sich nicht zu Wort zu melden. "Auch wenn man als Sportler immer hört, man soll sich nicht einmischen, sondern raushalten: In der Hinsicht gibt es einfach wichtigere Themen. Und ich habe kein Problem damit, meine Position zu teilen", erklärte Vettel und betonte nochmals: "Wir haben ein Rennen in Russland im Kalender. Unter den jetzigen Bedingungen werde ich da mit Sicherheit nicht hingehen."

Die Nachrichten von Russlands Krieg gegen die Ukraine schockten Sebastian Vettel, Foto: LAT Images
Die Nachrichten von Russlands Krieg gegen die Ukraine schockten Sebastian Vettel, Foto: LAT Images

Einfach weiter in der Blase Formel 1 leben - the show must go on? Für Vettel unmöglich. "Manchmal bewegen wir uns in unserer Blase und scheren uns nur um Grip und Reifen. Wir dürfen aber nicht vergessen: Wir alle sind Erdenbürger", sagte Vettel. "Ob einer schnell fährt oder langsam, ob das Auto gut ist oder nicht, das ist alles sekundär."

Moral & Ethik wichtiger als Milliarden-Business Formel 1

Vettel weiter: "Man kann sich diesen Themen nicht entziehen. Ich glaube, man muss ganz einfach anfangen, bei sich selbst. Was ist wichtiger?" Und das sei im Kriegsfall sicher nicht das Geschäft. "In der Hinsicht sollten die Werte und die Moral über allem anderen stehen. Das Business ist in dieser Sache überhaupt nicht wichtig", sagte Vettel.

Da schloss sich in den folgenden Tagen auch die Formel 1 an. Am Freitag sagte die F1, lediglich noch etwas mehrdeutig, den Russland-GP ab, am Dienstag folgte die finale Bestätigung durch den Weltrat für Motorsport. Nochmal zwei Tage später kündigte die Formel 1 den gesamten Vertrag mit dem Russland-GP. Auch in Zukunft werden keine Rennen mehr auf russischen Boden stattfinden.

Vettel geschockt nach Leben ohne Krieg in Europa

"Unverständlich" wäre alles andere auch gewesen, so Vettel schon im Vorfeld der Maßnahmen von Formel 1 und FIA. "Ich würde nicht verstehen, wenn man das nicht in dem Sinne teilen kann", meinte Vettel. "Für mich ist die Konsequenz klar. Unter diesen Umständen kann ich nicht verstehen, wie man ein Rennen in Russland haben kann und wie man da zögern kann."

Der Krieg in Europa stellte das Weltbild Vettels regelrecht auf den Kopf. Riesig sei der Schock gewesen als er in den Nachrichten vom russischen Angriff erfahren habe. Mit 34 Jahren zählt Vettel zu jener Generation ohne Erinnerungen an etwas anderes als Frieden in Europa. "Wir alle hatten ein Leben, in dem wir ohne Konfrontationen aufgewachsen sind, ohne Kriege", erinnerte Vettel. "Ende der 1990er-Jahre gab es eine Phase [Kosovo], aber da war ich ehrlich gesagt noch ein kleines Kind und habe wenig davon mitbekommen oder viel verstanden. Das jetzt zu erleben und zu hören, dass Leute an die Front geschickt werden und sich in Lebensgefahr begeben, und einige schon gestorben sind, das ist furchtbar", sagte Vettel.

Vettel: Zu gewissen Themen kann man nicht schweigen

Dass Menschen in den Krieg ziehen und sterben würden, das könne er sich nicht einmal vorstellen. Deshalb sei es umso wichtiger, die Geschichte als abschreckendes Beispiel im Kopf zu behalten. Vettel: "Ich saß wie alle anderen viel im Geschichtsunterricht da, habe gelernt und viel zugehört. Ich fand das alles sehr interessant, was passiert ist. Ich finde es nach wie vor extrem wichtig, dass man sich dieser Sachen weiter bewusst ist und sie weiter vor Augen geführt bekommt. Sowas darf man nicht vergessen. Und so was wird einem jetzt umso mehr bewusst."

Auch deshalb habe er sich so deutlich geäußert, ja äußern müssen. "Ich glaube, jeder hat eine Haltung. Die Frage ist, ob sich jeder immer traut, die Haltung zu teilen. Ich habe da keine Scheu, ganz im Gegenteil. Ich glaube, es gibt gewisse Themen, zu denen kann man nicht schweigen", sagte Vettel. Sicher sei er sich allerdings, dass alle anderen Fahrer seine Meinung teilen würden. Vettel: "Alles andere würde mich überraschen."

Vettel: Manche Leute scheinen vom Wahnsinn besessen

Auch, wenn Vettel davon ausging, dass auch andere sich noch klarer positionieren würden, sei das ohnehin nur sekundär. "Es ist nicht das Wichtigste, ob wir uns dazu äußern oder nicht. Wichtig ist, dass sich die Situation vielleicht entspannen wird und ein Ende finden wird. Ich denke nicht, dass irgendjemand möchte, dass es weiter eskaliert und noch weiter außer Kontrolle gerät. Aber das scheint gerade sehr schwierig", sagte Vettel.

Der Grund dafür sitzt für Vettel im Kreml, auch wenn er den Namen Wladimir Putins nicht direkt in den Mund nimmt. "Ich wünsche mir, dass es sich einpendelt, aber manche Leute scheinen vom Wahnsinn besessen zu sein. Sie haben, glaube ich, ihre eigene Wahrheit und eigene Realität", klagte Vettel. "Dass dann andere dafür leiden müssen und mit ihrem Leben bestraft werden, das ergibt keinen Sinn."

Deshalb wünsche er sich, dass auch der Sport Stellung beziehe. Dem kamen FIA und Formel 1 binnen weniger Tage, auch rechtlicher Klärung, nach.