Der Artikel wurde in der 81. Ausgabe des Printmagazins von Motorsport-Magazin.com am 28. Oktober 2021 veröffentlicht.

"Ich will an der Spitze des Feldes fahren." Das kündigte Sebastian Vettel beim Wechsel zu Aston Martin an. Ein Jahr später ist er noch weit davon entfernt. Das Team kann als eine der Enttäuschungen der Saison gelten: Dank der Übernahme durch ein vom kanadischen Milliardär Lawrence Stroll angeführten Konsortium und der Eingliederung in den von Stroll ebenfalls erworbenen Aston-Martin-Konzern sind zwar endlich die Mittel da, trotzdem fährt man im hinteren Mittelfeld. Schlagzeilen machten eher Polit-Wortgefechte und eine überraschend lange Wartezeit auf die Bestätigung Vettels für 2022. Der Weg zum Gipfel der Formel 1 hat sich als steiniger Marathon erwiesen. Dessen ist sich Lawrence Stroll aber durchaus bewusst. Er hat Millionen investiert, um Fabrik und Personal zu erneuern. Sebastian Vettel läuft für ein letztes Erklimmen des Gipfels trotzdem die Zeit davon, denn für 2022 ist bei Aston Martin noch nichts so, wie es werden soll.

Die Fabrik

Wer die Formel 1 ernst nimmt, der muss erst einmal so autark wie möglich sein, vom Design bis zur Herstellung. Das Kopieren von Mercedes, mit dem sich Aston Martin in seiner vorherigen Existenz als Racing Point an die Spitze des Mittelfeldes schob, hat keine Zukunft. Für das Designen und Bauen eines WM-Kandidaten ist in der Fabrik in Silverstone aber kein Platz mehr. Das erkannte Stroll schnell, als er 2019 das Team erwarb. Es wurde noch immer in einer drei Jahrzehnte alten Anlage herumgewerkelt, welche nach Bedarf behelfsmäßig erweitert wurde. Die sofort in Auftrag gegebene Rundumerneuerung befindet sich jedoch in Rückstand. "Das Projekt stand still, während wir uns durch Covid durcharbeiteten", so Stroll beim verzögerten Spatenstich im September. Eigentlich hätte die Basis schon stehen sollen. "In der Zwischenzeit realisierten wir, dass wir für meine Ambitionen auf eine Weltmeisterschaft in ein paar Jahren auch unseren eigenen Windtunnel haben sollten." Zuletzt nutzte man den Mercedes-Windkanal.

Zugleich kam ein Wellness-Center, eine Cafeteria, ein Simulator, Platz für historische Autos und ein Auditorium für Veranstaltungen hinzu. Aus 18.000 Quadratmetern Fabrik wurden 37.000 Quadratmeter Campus für Aston Martin Performance Technologies, Kostenpunkt zirka 230 Millionen Euro. "Die erste Phase soll in 18 Monaten fertig sein, die letzte Phase in 36 Monaten", sagt Stroll. Die Tatsache, dass die Fabrik der erste komplette Neubau eines Teams in 17 Jahren ist, soll dafür große Vorteile bringen: "Es wird die Einzige sein, die mit dem Finanziellen Reglement im Hinterkopf entstand. Es wird auch die erste 5G-Fabrik sein, und komplett nachhaltig - eine echte Smart Factory." Anders als bei der Konkurrenz, wo man sich an die neue Kostengrenze anpassen muss, soll hier alles modular sein.

So soll die neue Fabrik in Silverstone aussehen, Foto: Aston Martin Racing
So soll die neue Fabrik in Silverstone aussehen, Foto: Aston Martin Racing

Das Personal

Für Stroll ist die Fabrik auch wichtig bei der Rekrutierung: "Was du zum Siegen brauchst, ist die richtige Führung und Vision - was ich meiner Meinung nach bringe -, du brauchst Geld, die besten Leute, die besten Werkzeuge und die besten Prozesse." Mit den Werkzeugen wird Personal angelockt. Das F1-Team wird in eine neue Struktur, genannt Aston Martin Performance Technologies, eingegliedert. Dort sollen unter der Führung des ehemaligen McLaren-Managers Martin Whitmarsh die Fäden aller Performance-Geschäfte der Marke zusammenlaufen, weitere Projekte entstehen und der Technik-Transfer koordiniert werden. Otmar Szafnauer, unter dessen Führung das Team seit 2009 zahlreiche Achtungserfolge hatte feiern können, bleibt F1-Teamchef. Mit Geld und guter Stimmung blasen er und Cheftechniker Andrew Green die Führungsstruktur auf und wollen die Arbeitsteilung verbessern. Green, seit zehn Jahren Technischer Direktor, wurde zum Chief Technical Officer befördert und leistet sich nun einen Technikerstab mit drei Schlüsselfiguren.

Der schon länger im Ingenieursbereich tätige Tom McCullough wird als Performance Director das Ingenieurswesen an der Strecke und die Autoperformance verantworten. Luca Furbatto, noch Chefdesigner bei Sauber, wird ab 2022 Engineering Director und für Ingenieurs-Unterstützung durch die Fabrik, für Zuverlässigkeit und für Forschung zuständig sein. Beim dritten Pfeiler, dem für Design und Entwicklung verantwortlichen neuen Technischen Direktor, dauert es. Mit dem langjährigen Red-Bull-Aerodynamikchef Dan Fallows soll es ein Star-Transfer sein, aber Red Bull ließ verlautbaren, dass die Freigabe noch Jahre dauern würde. Laut Aston Martin sollen es keine zwei sein, mehr Details blieben offen. Teamchef Szafnauer ist bereit zu warten: "Ja, es ist ein Marathon, kein Sprint, und am wichtigsten ist, dass wir die richtigen Leute bekommen. Du holst lieber die richtigen Leute, anstatt schnell wen anzuheuern, mit dem es nicht funktioniert." Das Team will den alten Spirit halten, nur jetzt mit vollen Kassen, und der Personal-Marathon zieht sich schon über Monate hinweg. Von Red Bull kamen mehrere, darunter Andrew Alessi, der an die Spitze der Aero-Abteilung gesetzt wurde. Auch die Fußsoldaten nehmen rasant zu: Um die 150 Mitarbeiter sind seit der Übernahme durch Stroll zum Team gestoßen. So viele, dass in der alten Fabrik der Platz ausging und Behelfseinrichtungen nötig wurden, obwohl die Gesamtstärke mit 550 relativ klein ist. In der neuen Fabrik sollen es am Ende 800 sein.

Teamchef Otmar Szafnauer hat bei Aston Martin viel zu tun, Foto: LAT Images
Teamchef Otmar Szafnauer hat bei Aston Martin viel zu tun, Foto: LAT Images

Die Fahrer

Die größte und erste Anwerbung war Sebastian Vettel. Das Team stärkte dem nach der Ferrari-Misere Angeschlagenen öffentlich den Rücken und sah es als Absichtserklärung, einen vierfachen Weltmeister einzustellen. "Sebastian hat mehr Erfahrung, und wie wir Debriefings durchführen, hat sich ziemlich verändert", erklärt Szafnauer inzwischen den Wert. Mit Engagement bei den Themen Umwelt und Politik sorgt Vettel außerdem für gute Presse. "Er ist ein Mann von hoher Integrität, das mag ich, und er hat keine Angst, was auszusprechen, das mag ich auch", sagt Szafnauer. "Auf Fahrerseite arbeitet er richtig hart, und stellt hohe Erwartungen an sich und an das Team." Die Fahrersituation gestaltet sich dennoch schwierig: Auch wenn Lawrence Stroll Aston Martin als Werksteam präsentiert, träumt er weiter davon, Sohn Lance das Ziel WM-Titel zu ermöglichen: "Ist es erreichbar? Absolut. Wird es so kommen? Ich hoffe."

Auf der Strecke sind Vettels Beiträge im Vergleich zum Vorgänger Sergio Perez weniger revolutionär. Er hatte sehr gute Rennen, die seinen Absturz des Vorjahres vergessen machten, und dann wieder mäßige Auftritte. Oft agierte er auf dem Niveau von Stroll, der in den Vorjahren Perez klar unterlag. Und trotz allem Lob verzögerte sich die Entscheidung, 2022 mit Aston Martin weiterzumachen. Team und Fahrer erklärten, dass es für beide Seiten Optionen gab, die ausverhandelt werden mussten. Gerüchte um eine Suche nach Alternativen im Sommer wurden zurückgewiesen, und als im September die Fortsetzung feststand, versicherten beide einmal mehr, sie sei nie in ernsthaftem Zweifel gestanden.

Vettel erzielte in Baku Aston Martins erste Podestplatzierung in der Formel 1, Foto: LAT Images
Vettel erzielte in Baku Aston Martins erste Podestplatzierung in der Formel 1, Foto: LAT Images

Wird Vettel also noch regelmäßiger Siegkandidat mit Aston Martin? Kurzfristig wohl nicht. Es gibt trotz anstehender Regel-Revolution keine großen Ansagen für 2022. Lawrence Stroll bleibt Realist und weiß: Mit Behelfsfabrik und unvollständigem Kader werden keine Titel gewonnen. Das Team hält an einem Zeitrahmen von drei bis fünf Jahren fest, bis alle Zahnräder perfekt ineinandergreifen und ein weltmeisterliches Auto produziert werden kann. Dass es funktionieren wird, daran will Stroll keine Zweifel aufkommen lassen. Anders als bei seinen Vorgängern, die das Silverstone-Team nie als Titelaspirant etablieren konnten: "Nichts für ungut an meine Vorgänger, aber keiner von ihnen hatte meine Geschichte, meine Erfolge. Ich bin leidenschaftlich, und es ist eine große Business-Chance. Ich sehe die Formel 1 als Business, und der Wert jedes Teams wird in den nächsten Jahren signifikant steigen." Das Team bekundet auch Interesse, die Zusammenarbeit mit Vettel zu verlängern. Aber fünf Jahre Warten auf das WM-Auto sind lang. Für den 34-jährigen Vettel wird der Marathon so ein Wettlauf gegen die Zeit.

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