Das lang ersehnte Urteil im Kopie-Prozess zwischen Racing Point und Renault ist da. Weil Racing Point illegal bei Mercedes kopiert haben soll, wurde der Rennstall zu einer Geldstrafe von 200.000 Euro je Auto und einem Abzug von 7,5 Konstrukteurspunkten pro Auto verdonnert. Doch der Sachverhalt ist deutlich komplizierter. Motorsport-Magazin.com klärt die wichtigsten Fragen zum Urteil und fasst die Reaktionen der Beteiligten zusammen.
Worum geht es überhaupt?
Um in der Formel 1 als Konstrukteur zu gelten, muss ein Team bestimmte Teile selbst 'designen'. Das Wort 'designen' spielte im Prozess noch eine entscheidende Rolle, weil das im Sportlichen Reglement nicht näher definiert wird. Die Regel, dass bestimmte Teile von einem Team selbst designt werden müssen, rührt daher, weil viele Teile zu komplex für kleine Rennställe sind. Bei Motor und Getriebe ist es üblich, dass Teams diese Komponenten zukaufen.
Weil die Formel 1 aber den Anspruch erhebt, auch eine Konstrukteursmeisterschaft zu sein, darf nicht jedes Bauteil eingekauft werden. Teile, die nicht zugekauft werden dürfen, nennt man 'Listed Parts'. Dabei handelt es sich um das Monocoque, die vordere Crash-Struktur (Nase), Überrollstrukturen und alle aerodynamischen Komponenten.
Warum die Bremsbelüftungen?
Der Racing Point RP20 sieht dem Mercedes F1 W10 an zahlreichen aerodynamischen Oberflächen zum Verwechseln ähnlich. Warum aber legt Renault ausgerechnet Protest gegen die Bremsbelüftungen ein? Bremsbelüftungen zählten lange nicht zu den aerodynamischen Komponenten. Just im Jahr 2020 wurden sie zu den 'Listed Parts' aufgenommen. Deshalb war der Fall besonders kompliziert: 2019 konnte Racing Point die Bremsbelüftungen noch legal von Mercedes einkaufen. 2020 müssen die Teile aber selbst designt sein. Die Ingenieure können aber nicht all ihr Wissen über Bord werfen.
Warum gibt es einen Unterschied zwischen vorne und hinten?
Wäre es nur um die vorderen Bremsbelüftungen gegangen, wäre Racing Point ohne Strafe davongekommen. Racing Point setzte 2019 die Mercedes-Teile fast ohne Änderung ein. Die Bremsbelüftungen des aktuellen Boliden basieren auf diesem Design. Die Stewards stellten klar, dass sie darin keinen Regelverstoß sehen.
Das Problem sind die hinteren Bremsbelüftungen: Weil die 2019er Teile von Mercedes nicht zum Konzept des Racing Point des Vorjahres passten, entwickelte der Rennstall eigene Bremsbelüftungen für die Hinterachse. 2020 kopierte Racing Point aber das gesamte Konzept des 2019er Mercedes - und plötzlich passten die Bremsbelüftungen auch an der Hinterachse.
Welche Rolle spielt Mercedes im Kopie-Prozess?
"Wir sind nicht involviert, wir sind fühlen uns in unserer Position zu 100 Prozent wohl", stellte Mercedes Motorsportchef Toto Wolff sofort klar und fügt an: "Wir haben gewisse Daten in 2019 bereitgestellt, was vollständig von den Regeln abgedeckt war." Allerdings schreiben die Stewards in ihrem 14-seitigen Urteil auch, dass Mercedes noch am 6. Januar 2020 einen Satz Bremsbelüftungen an Racing Point schickte.
Nur weil diese nicht eingesetzt wurden, handelt es sich nicht um einen signifikanten Bruch der Regeln. Außerdem soll Racing Point dabei keine Informationen erhalten haben, die es nicht schon zuvor gehabt hätten. "Auf unserer Seite gibt es null Bedenken", stellt Wolff klar. "Und wenn ich null sage, dann meine ich null. Wir haben keine Regeln verletzt und ich glaube auch nicht, dass Racing Point Regeln verletzt hat."
Darf Racing Point die Bremsbelüftungen noch einsetzen?
Hier wird es kontrovers. Die Stewards stellten klar, dass man nicht erwarten könne, dass jemand ein Teil komplett neu entwirft, das dann signifikant anders aussieht. Das Wissen ist nach wie vor da. "Wie kann ein Teil illegal, es aber trotzdem erlaubt sein", war der Tenor der Konkurrenz. Genau hier liegt der Hund begraben: Die Bremsbelüftungen per se sind nicht illegal, sie entsprechen komplett dem Technischen Reglement.
Der Verstoß bezieht sich lediglich auf das Sportliche Reglement. Deshalb war auch nicht zwingend eine Disqualifikation notwendig, wie es bei einem technischen Verstoß der Fall gewesen wäre. Die Stewards stellten auch klar, dass der Abzug von 15 WM-Punkten und die enorme Geldstrafe sich auf den gesamten unrechtmäßigen Vorteil beziehen, den Racing Point womöglich das ganze Jahr hat. Um möglichen weiteren Protesten gleich vorzugreifen, sprachen sich die Stewards bei jedem weiteren Einsatz für Verwarnungen aus.
Was sagt Racing Point?
"Die gute Nachricht ist, dass das Auto aus technischer Sicht legal ist. Es gibt aber unserer Interpretation nach im Sportlichen Reglement nichts, das wir gemacht hätten, nicht aber hätten machen dürfen", ärgert sich Otmar Szafnauer am Mikrofon von Sky UK. "Andere Teams haben exakt das gleiche gemacht, wahrscheinlich sogar noch mehr als wir. Das ist etwas verwirrend."
Dem Racing Point Teamchef stößt vor allem auf, dass er es war, der Renault einst beim Vorhaben unterstützte, die Bremsbelüftungen in die Listed Parts aufzunehmen: "Manche wollten es nicht und ich glaube, wir waren die entscheidende Stimme. Wir haben aber den ganzen Prozess gestartet, bevor sie auf der Liste standen. Deshalb überrascht es mich und es schmerzt auch, dass dieser Prozess nicht innerhalb des Reglements gesehen wird, wenn die Regeln nicht klar sind."
Was sagt Renault?
"Es gibt zwei Elemente", stellt Teamchef Cyril Abiteboul klar. "Auf der einen Seite sind wir zufrieden damit, dass die Stewards bestätigt haben, dass einige der Teile gegen das Sportliche Reglement verstoßen haben. Ich glaube aber, dass die Strafe diskussionswürdig ist. Man muss bedenken, dass sie den Vorteil die ganze Saison mitschleppen und es ein sehr großer Vorteil ist. Die Teams verwenden 20 Prozent ihrer gesamten aerodynamischen Testkapazitäten auf dieses Teil."
Der Franzose fühlt sich außerdem unfair behandelt: "Wir haben letztes Jahr die Sportlichen Regeln verletzt, wurden sofort disqualifiziert und mussten das Teil ausbauen. Dabei ging es auch um Sportliches Reglement, nicht um das Technische Reglement. Es ist eine Frage von Einheitlichkeit." Renault hatte eine automatische Bremsbalanceverstellung installiert. Diese wurde von den Stewards als Fahrhilfe gewertet, weshalb beide Fahrer vom Japan GP ausgeschlossen wurden.
Was sagt die Konkurrenz?
McLarens Zak Brown wurde sehr deutlich: "Racing Point wurde für schuldig befunden und sie haben noch immer diese für illegal befundenen Teile am Auto. Das ist für die Fans verwirrend. Und was die ganze Kopier-Geschichte angeht: Sie haben gesagt, dass sie das Auto mit Fotos kopiert haben. Aus dem Dokument geht klar hervor, dass das Schwachsinn ist. Deshalb muss man das ganze Auto in Frage stellen."
Claire Williams schließt sich an: "Die Diskrepanz zwischen Sportlichem und Technischem ist verwirrend. Du kannst also in gewisser Weise mit einem letztendlich für illegal befundenem Teil fahren, das eigentlich nicht ans Auto hätte gebaut werden dürfen, weil es schlussendlich von einem anderen Team kopiert wurde. Das ist für mich nicht richtig."
Welche Konsequenzen hat das Urteil?
"Das Urteil wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet", meint Dr. Helmut Marko. Red Bull hatte auf eine Klarstellung gehofft, was erlaubt ist und was nicht, um anschließend mit AlphaTauri den Red Bull kopieren zu können. Doch wie zu erwarten beschäftigten sich die Stewards nur mit dem speziellen Fall. Dass der kein Präzedenzfall sein würde war klar, weil die Statusänderung der Bremsbelüftungen eine zentrale Rolle spielte.
Trotzdem brachte der Protest die Kopie-Problematik wieder auf den Schirm der Formel 1. "Er hat uns aufgezeigt, dass Teile des Reglements nicht klar waren", gesteht FIA-Technikchef Nikolas Tombazis. "Kopieren gab es immer in der Formel 1, aber Racing Point hat es auf ein neues Level gebracht und diese Philosophie auf ein ganzes Auto übertragen. Sie haben den üblichen Design-Prozess der letzten 40 Jahre komplett auf den Kopf gestellt. Man sollte sie dafür nicht bestrafen, aber wir denken, dass das nicht die Formel 1 ist, wie sie sein sollte. Wir wollen im nächsten Jahr keine acht oder neun Mercedes-Kopien."
"Wir planen sehr kurzfristig, einige Maßnahmen in das Sportliche Reglement 2021 aufzunehmen, um zu verhindern, dass das zur Norm wird", verspricht Tombazis. "Dann sollen sie das aber schnell machen", fordert Marko. Wie genau die Maßnahmen aussehen sollen, wollte der FIA-Technikchef noch nicht verraten. "Wenn einzelne Teile kopiert werden, okay, aber nicht fundamental ganze Autos", so Tombazis.
Wie geht es weiter? Kommt die Berufung?
Normalerweise haben die Teams eine Stunde nach Bekanntgabe der Entscheidung Zeit, eine Berufungsabsicht zu erklären. Aufgrund der Komplexität des Falles wurde die Frist auf 24 Stunden verlängert. Wenn ein Team in Berufung gehen will, muss es die Absicht dazu bis 09:30 Uhr am Samstag erklären.
Ferrari, McLaren und Renault haben bereits angekündigt, das Urteil so nicht hinnehmen zu wollen. Sie haben formal ihre Absicht bei der FIA hinterlegt. Damit wurde zunächst die Frist gewahrt. Ob letztendlich Einspruch eingelegt wird, steht auf einem anderen Blatt.
Sollte es tatsächlich zur Berufung kommen, schaltet sich das internationale Berufungsgericht der FIA ein. Ein solcher Prozess kann erneut Wochen, wenn nicht sogar Monate dauern.
Was sagt das neutrale Motorsport-Magazin zum Urteil?
Die Teams sind befangen. Doch dass die einen sagen, das Urteil sei zu mild, die anderen sehen sich gar nicht erst schuldig, zeigt schon: Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte. Racing Point hat eine Grauzone der Regeln so ausgenutzt, dass das Vorgehen letztendlich nicht mehr im Geiste des Reglements war.
Das kann man so nicht durchgehen lassen, weil ein kompletter Freispruch eine verheerende Signalwirkung für die Formel 1 haben könnte. Damit wären Kopien jeglicher Art Tür und Tor geöffnet. Das will man nicht. Würde man Racing Point für die fraglichen Rennen disqualifizieren, würde man ihnen de facto den Einsatz der Bremsbelüftungen verbieten.
Wie soll das Team neue Teile designen? Wie sollen diese aussehen? Möglichst anders? Es gibt schlichtweg keine Lösung für das Problem. Das Urteil ist daher vor allem eines: Gut für den Sport. Auch wenn es auf den ersten Blick verwirren mag, es ist ein guter Kompromiss.
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