Der Großbritannien GP 2020 war das wohl härteste Wochenende für Pirelli seit der Rückkehr in die Formel 1. Am Trainingsfreitag wurden die sensiblen Pirelli-Pneus bei 36 Grad Lufttemperatur um eine der schnellsten Strecken überhaupt gequält. Das schwarze Gold verflüssigte sich fast.
Am Samstag kam der Temperatursturz, dafür wurden die Rundenzeiten astronomisch schnell. Hamiltons Pole-Runde war die erste auf dem umgebauten Silverstone Circuit mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von über 250 Stundenkilometern. Copse, Maggots, Becketts gingen Vollgas.
Die schwersten Autos der Formel-1-Geschichte sind auch die schnellsten. Die Belastung auf die Reifen ist gigantisch. Gegen Rennende überstieg die Last offenbar das Erträgliche: Drei Runden vor Schluss ging der linke Vorderreifen an Vatteri Bottas' Mercedes kaputt. Eine Runde später erwischte es Carlos Sainz, wieder eine Runde später Lewis Hamilton.
Zufall? Wohl eher nicht. Doch die genauen Gründe sind noch nicht bekannt. Pirelli begann sofort nach Rennende mit der Analyse. Ergebnisse sind in den nächsten Tagen zu erwarten. Reichen die Analysemethoden am Streckenlabor nicht aus, werden die Reifen nach Mailand gebracht. Dort hat Pirelli noch mehr Möglichkeiten. Unter anderem können auch noch benutzte intakte Reifen auf dem Prüfstand getestet werden.
Pirelli schließt strukturelle Reifenprobleme aus
Grundsätzlich gibt es drei mögliche Ursachen für Reifenschäden: Strukturelle Schwierigkeiten, Reifenabnutzung oder äußere Einflüsse. Strukturelle Schwierigkeiten schließt Pirelli eigentlich aus. Die Reifen hielten auf den schnellsten Qualifying-Runden und auch mit vollgetankten Boliden.
Bleiben noch die Reifenabnutzung und exterene Beschädigungen. Möglicherweise war es eine Kombination aus beidem. Fast das gesamte Feld nutzte die Gelegenheit der zweiten Safety-Car-Phase und wechselte auf die harten Reifen. Die Mercedes-Piloten kamen in Runde 13. Es sollte der erste und einzige Stopp für die schwarzen Silberpfeile sein.
"Normalerweise hatten wir Reifenwechsel bei einer Einstoppstrategie frühestens in Runde 18 erwartet", erklärte Pirellis Formel-1-Chef Mario Isola. Die harten Reifen hätten dann maximal 34 Runden halten müssen. So aber mussten die Pneus fast 40 Runden auf dem Silverstone Circuit überstehen.
Pirelli-Reifen an Verschleißgrenze angekommen?
War das zu viel? Genau dieser Frage muss Pirelli nun nachgehen. Doch wenn die Reifen schon so verschlissen waren, dass sie sich komplett auflösten, warum sind die Rundenzeiten zuvor nicht drastisch eingebrochen?
Sollte tatsächlich der Gummi ausgegangen sein, müssen schon vor dem nächsten Rennen Maßnahmen ergriffen werden. Schon am kommenden Wochenende steht erneut Silverstone auf dem Programm. Pirelli entschied sich für das zweite Wochenende auf derselben Strecke sogar für eine weichere Reifenauswahl.
Diesmal hatten die Italiener mit den Mischungen C1, C2 und C3 das härteste Produkt im Gepäck. Zum 70. Jubiläums GP der Formel 1 hat sich Pirelli die Reifenmischungen C2, C3 und C4 ausgesucht. Die Abnutzung wird dann zu einem noch größeren Thema.
Einfach auf zwei Stopps hoffen? Möglicherweise keine gute Idee. "Im Kampf versuchen die Teams alles, da wäre das Risiko eines Reifenschadens hoch", so Isola zu Motorsport-Magazin.com. Ob Anpassung von Reifendrücken und Sturzwerten ausreichen, ist fraglich. Deshalb steht auch im Raum, kurzfristig mit dem Sportlichen Reglement auf die Reifenprobleme zu reagieren.
Formel 1 mit zwei Pflichtboxenstopps?
Pirelli könnte beispielsweise eine maximale Rundenzahl für jede Reifenmischung vorgeben. Bei Sicherheitsbedenken könnte eine solche Lösung ohne Zustimmung der Teams einfach durchgesetzt werden. "Diese Möglichkeit besteht, mit Zustimmung der FIA könnten wir so etwas machen", bestätigt Isola.
Durch mindestens zwei verpflichtend einzusetzende Reifenmischungen gibt es im Reglement defacto schon einen Pflichtboxenstopp. Einen zweiten Pflichtboxenstopp hält Isola für wenig zielführend: "Wenn ein Fahrer in einer Safety-Car-Phase dann zweimal stoppt, hat er die Auflagen erfüllt, fährt aber am Ende noch immer so lange auf einem Satz Reifen."
Die maximale Rundenzahl könnte eine kurzfristige Lösung sein. Langfristig ist eine solche Lösung nicht besonders attraktiv. Noch härtere Reifenmischungen will Isola aber auch nicht: "Unser Ziel sind Zweistopp-Rennen, da wäre das kontraproduktiv."
Die in der aktuellen Saison eingesetzten Reifen sind eigentlich das 2019er Produkt. Die Teams entschieden sich nach Testfahrten gegen die für 2020 entwickelten Reifen. Wäre die verspätete Einführung die Lösung? "Nein, denn die Änderung betrifft nur die strukturelle Integrität", erklärt Isola.
Eine echte Lösung gegen Abnutzung gibt es nicht - außer die Teams durch die Performance dazu zu zwingen. "Wir arbeiten an einem Cliff", gibt Isola zu. Bei einem sogenannten Cliff brechen die Rundenzeiten drastisch ein, ehe der Gummi komplett ab ist. Die Fahrer werden also so rechtzeitig gewarnt.
Hamilton: Trümmerteile für Reifenschaden verantwortlich
Möglicherweise lag es aber gar nicht an den Reifen selbst. Kimi Räikkönen verlor gegen Rennende einen großen Teil seines Frontflügels. "Ich bin mir fast sicher, dass es an den Trümmerteilen lag", meinte Rennsieger Lewis Hamilton.
Scharfkantige Karbonteile sind besonders gefährlich für die Reifen, wenn sie sich der Verschleißgrenze nähern. Der Gummi ist nicht nur Kontaktfläche zur Straße und sorgt für Grip, sondern schützt auch die darunterliegende Reifenstruktur. Je weniger Gummi auf der Lauffläche ist, desto weniger ist die Karkasse geschützt.
Durch die hohen lateralen Kräfte, die in Silverstone auftreten, werden externe Objekte besonders kräftig in den Reifen gedrückt. Vor dem Rennen wurden noch sechs einzelne Pneus der Startreifen ausgetauscht, weil darin kleine Cuts festgestellt wurden. Dafür verantwortlich: Kies, das von Lewis Hamiltons Dreher im Q2 auf die Strecke geschleudert wurde.
Red Bull fand nach Rennende 50 kleine Cuts am Reifenset von Max Verstappen, das der Niederländer zwei Runden vor Rennende abgelegt hatte. Pirelli stellte außerdem fest, dass die Pneus fast zu 100 Prozent an der Verschleißgrenze angelangt waren. Eine Kombination der beiden Faktoren Abnutzung und äußere Beschädigungen ist nicht unwahrscheinlich.
Pirelli hofft, in spätestens zwei Tagen weitere Erkenntnisse zu haben. 2017 gab es bei Ferrari ein ähnliches Drama: Kimi Räikkönen und Sebastian Vettel verloren vor drei Jahren in den letzten Runden ihre linken Vorderreifen. "Weil die Reifendimensionen identisch waren, werden uns die Erkenntnisse von damals helfen", meint Isola. Bei Vettel wurde damals ein schleichender Plattfuß zur Ursache erklärt, bei Räikkönen äußere Beschädigungen. Auch 2017 waren die Reifen an ihrer Verschleißgrenze.
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