Für Kimi Räikkönen hätte im Qualifying zum Russland GP 2017 beinahe eine unglaubliche Durststrecke ihr Ende gefunden. Seit neun Jahren - oder auch 3203 Tagen - wartet der Ferrari-Pilot auf eine Pole Position in der Formel 1. Damals, beim Frankreich GP der Saison 2008, stellte Räikkönen den Ferrari zuletzt auf Startplatz eins, direkt neben ihm Teamkollege Felipe Massa. Kurioser historischer Fakt: Das Ferrari-1&2 in Sochi ist die erste rein rote Startreihe eins seit Magny-Cours '08 überhaupt.

Alles oder Nichts: Letzte Kurve kostet Räikkönen Pole-Chance

Nur, dass diesmal eben nicht der Finne ganz vorne steht, sondern Teamkollege Sebastian Vettel. Räikkönen fehlt im Russland-Qualifying eine Winzigkeit von 0,059 Sekunden auf seinen deutschen Ferrari-Buddy. Dabei hatte es zunächst sogar nach dem ganz großen Wurf für Kimi Räikkönen ausgesehen: Nach den ersten Runs im finalen Q3 lag Räikkönen auf Pole-Kurs! "Meine erste Runde war nicht gut genug, nicht richtig sauber, deshalb war ich erst dahinter", schildert Vettel. "Aber ich wusste, dass ich mich noch ein bisschen steigern kann."

Bestzeiten-Vergleich im Q3 des Qualifyings

Fahrer1. Run2. RunPers. Bestzeit
Sebastian Vettel1:33.4261:33.1941:33.194 (Q3. 2. Run)
Kimi Räikkönen1:33.2531:33.7131:33.253 (Q3, 1. Run)
Valtteri Bottas1:33.2891:33.3711:33.264 (Q2, 1. Run)
Lewis Hamilton1:34.4641:33.7671:33.760 (Q2, 1. Run)

Tatsächlich gelingt es Vettel, mit einer Verbesserung um zwei Zehntel, im letzten Versuch schließlich, Räikkönen noch von der Spitze des Klassements zu stoßen. Aber nur, weil der Finne seinerseits im zweiten Anlauf nicht nachlegen kann. Aber warum? Schaut man sich die Sektoren seines letztlich gescheiterten Final-Runs genauer an, so fällt schnell auf: Auch Räikköen lag durchaus auf Kurs. Nach einem Sektor hatte er sich um 0,038, nach zwei um 0,05 Sekunden verbessert. Noch eine Hundertstel mehr im Schlusssektor und der Polesetter hätte Räikkönen, nicht Vettel geheißen. Doch es kommt anders.

Plötzlich verliert Räikkönen mehr als eine halbe Sekunde. Die Pole ist futsch. Was war passiert? Ein Fahrfehler, so spät man ihn sich nur vorstellen kann: In der letzten Kurve schießt Räikkönen viel zu weit über den Scheitel hinaus. Wie ihm das passieren konnte? Aus verzweifeltem Übereifer, dem Versuch einer Rettungstat: "Ich hatte Verkehr in meiner zweiten Outlap auf dem letzten Satz im Q3, daher war es schwieriger für mich mit dem Aufwärmen der Reifen als im ersten Run. Deshalb habe ich versucht, es in der letzten Kurve nochmal hinzubiegen. Aber das hat nicht geklappt", erklärt Räikkönen seine Alles-oder-Nichts-Attacke.

In Verkehr gelotst: Räikkönen sauer auf Renningenieur?

Insgesamt sei er mit dem Ergebnis aber schon zufrieden. "Trotzdem bin ich glücklich, weil es besser lief als die letzten Qualifyings. Die erste Startreihe ist natürlich toll für das Team. Ich fühle mich schon das ganze Wochenende gut. Es ist jetzt einfach viel einfacher, normaler zu fahren. Kleine Dinge haben da einen großen Unterschied gemacht", sagt Räikkönen. Zuletzt hatte der Finne noch stets mit Untersteuern des SF70H gehadert. "Am Ende war es das wichtigste vorne zu stehen. Klar, lieber ganz vorne - und ich hatte heute alles in petto, um an der Spitze zu sein." Ein indirekter Vorwurf an seinen Kommandostand, ihm nicht den idealen Platz auf der Strecke verschafft zu haben?

Es scheint so. "Das muss aufhören!", hatte Räikkönen bereits am Boxenfunk Richtung Dave Greenwood, seinem Renningenieur gemeldet. "Aber wir sprechen nachher darüber ..." In der Pressekonferenz wenig später bestreitet Räikkönen allerdings jeden Vorwurf an sein Team. "Ich war auf niemanden sauer", sagt der Finne. "Ich war einfach nur enttäuscht, dass wir im Verkehr hängen geblieben sind. Besonders, weil jeder weiß, dass es gerade hier einen massiven Unterschied in der Rundenzeit macht, wenn du die Reifen zum Arbeiten bekommst. Aber ich hatte im letzten Run eben ein bisschen Verkehr und das war schon genug, um es etwas tricky zu machen. Ich bin zufrieden. Aber wir hatten eben alles in der Hand, noch besser abzuschneiden."

Glück im Unglück: Angesichts der generell starken Ferrari-Performance in Sochi - auch im Longrun - hat Räikkönen am Sonntag alle Chancen, dieses noch bessere Abschneiden zu realisieren. "Gestern lief es gut, aber das Rennen ist natürlich erst morgen. Ich bin sicher, dass wir klar kommen werden, aber auch, dass es ein enger Kampf werden wird. Wir müssen einen guten Job machen, denn erst morgen gibt es die Punkte - und die wollen wir holen", sagt Räikkönen.

Kimi & Seb - Arrivabenes ganzer Stolz, Foto: Ferrari
Kimi & Seb - Arrivabenes ganzer Stolz, Foto: Ferrari

Maurizio Arrivabene feiert Räikkönen-Auferstehung

Einen Vorteil gegenüber Mercedes könnte sich Ferrari im Q2 erarbeitet haben, als die Silberpfeile kräftig aufdrehten, Räikkönen und Vettel aber den Reifensatz, auf dem sie immerhin ins Rennen starten müssen, etwas geschont haben. "Wir haben zwei Fahrer, die nicht nur großartig sind, sondern auch clever", deutet Ferrari-Teamchef Maurizio Arrivabene bei Sky diesen Schachzug an.

Nicht nur deshalb sieht Arrivabene Ferrari am Sonntag stark aufgestellt. "Wir haben zwei starke Fahrer mit Kimi und Seb und ein starkes Auto und ein tolles Team, das sehr harte Arbeit leistet", lobt der Teamchef. "Gestern haben die Jungs gesagt, es mache Spaß das Auto zu fahren und das heißt, dass das Auto sehr gut ist." Vor allem Räikkönen komme allmählich richtig in Fahrt. "Kimi ist kein langsamer Fahrer! Vielleicht braucht er zu Saisonbeginn etwas Zeit, den richtigen Weg zu finden, aber wenn Kimi ihn findet, ist er sehr schnell!", lobt Arrivabene die fortschreitende Auferstehung des Iceman nach durchwachsenem Saisonstart.