Die MotoGP will sich neu erfinden. Nicht sofort, aber bald. Genauer gesagt 2027. Denn dann beginnt eine neue Fünfjahresperiode im Reglement der Königsklasse. Große Eingriffe in die technischen Regularien der MotoGP sind ja immer nur mit Beginn einer solchen Periode, für die Teams und Hersteller Verträge mit Promoter Dorna unterschreiben, möglich. Da derart große Veränderungen den involvierten Herstellern aber nicht spontan zugemutet werden können, wurde das neue Reglement bereits zum Rennwochenende in Le Mans 2024 festgezurrt. So blieben den Werken rund zweieinhalb Jahre Vorlaufzeit, ehe die neue MotoGP-Generation zum Einsatz kommt.

MotoGP-Hersteller und Dorna einig: Das muss sich ändern

Grundsätzlich arbeiten die aktiven Hersteller - aktuell Ducati, KTM, Aprilia, Yamaha und Honda - in ihrem Bündnis der Motorcycle Sports Manufacturers Association (MSMA) das technische Reglement nach ihren Vorstellungen aus. Dieses wird dann zur Abstimmung in die Grand-Prix-Commission eingebracht, wo es im Idealfall durch die Vertreter von MSMA, Promoter Dorna, Motorradweltverband FIM und Teamvereinigung IRTA abgesegnet wird. Vor allem die Dorna unter Führung von Carmelo Ezpeleta brachte hier in den vergangenen Jahren vermehrt ihre eigenen Interessen ein, um den Sport nicht nur technologisch relevant, sondern auch für den Zuschauer interessant zu halten.

Im Hinblick auf die Saison 2027 und die darauffolgenden vier Jahre herrscht in der MotoGP aber Einigkeit. "Das Reglement ab 2027 ist ein Thema, auf das wir sehr stolz sind", sagt Dornas Chief Sporting Officer Carlos Ezpeleta. "Es ist ein großartiges Zeugnis dafür, dass in der MotoGP alle Interessensgruppen an einem Strang ziehen: Die FIM, die Hersteller, die Teams und wir als Dorna. Unser Sport befindet sich in einer großartigen Ära mit erbittertem Wettkampf, vielen unterschiedlichen Siegern und zahlreichen erfolgreichen Teams. Wir wollen die Chance, die sich uns 2027 bietet, aber dafür nutzen, um uns in vielen wichtigen Aspekten weiter zu verbessern. Der Unterhaltungsfaktor spielt für uns immer eine große Rolle, natürlich aber auch Nachhaltigkeit und Sicherheit. Im Spannungsfeld dieser drei Bereiche arbeiten wir also."

Sicherheit und Nachhaltigkeit im Fokus: MotoGP ist zu schnell und gefährlich

Ezpeleta erklärt, wie das überarbeitete Reglement aussieht: "Die neuen Regeln werden daher eine Veränderung in der Motorleistung bringen, sowohl durch eine Reduktion des Hubraums als auch der erlaubten Spritmenge. Die Umstellung auf 100 Prozent nachhaltigen Treibstoff haben wir ja bereits zuvor beschlossen. Auch die aerodynamischen Anbauten werden reduziert, gleichzeitig sollen die Maschinen aber exotisch und auch für die Serienproduktion relevant bleiben. Außerdem werden wir das Thema Ride-Height-Devices behandeln. All diese Faktoren werden zu einem großen Umbruch 2027 führen. Größer, als das bei den letzten Vertragsverlängerungen mit Teams und Herstellern der Fall war. Wir sind aber überzeugt, dass dies eine Veränderung zum Positiven ist. Die MotoGP wird nachhaltiger, sicherer und durch mehr Überholmanöver auch unterhaltsamer."

Die Auslaufzonen reichen oft nicht mehr aus, Foto: LAT Images
Die Auslaufzonen reichen oft nicht mehr aus, Foto: LAT Images

Warum die MotoGP sicherer werden will und muss, liegt auf der Hand. Vor allem durch die ausufernde Aerodynamik und die Einführung der Ride-Height-Devices wurden die Motorräder der Königsklasse in den vergangenen Jahren noch einmal deutlich schneller, ja sogar zu schnell. Auf vielen historischen Rennstrecken wie Mugello oder Jerez reichen die Auslaufzonen nicht mehr aus, um einen Einschlag der Fahrer in die Streckenbegrenzung zuverlässig zu verhindern. Die MotoGP stand damit vor der Wahl: Entweder die Geschwindigkeiten reduzieren, oder einige der schönsten Kurse aus dem Kalender verlieren. Mit der Beschneidung aerodynamischer Anbauten und dem geplanten Verbot der Ride-Height-Devices entschied man sich glücklicherweise für die erstgenannte Lösung.

Neue Motoren im Sinne der Sicherheit? Da steckt noch mehr dahinter

Ob hier auch die Hubraumreduktion, die eine Umstellung von 1000ccm auf 850ccm bedeuten wird, einen maßgeblichen Beitrag leisten kann, darf allerdings in Frage gestellt werden. Weniger Hubraum, vor allem auch in Verbindung mit geringerem Spritverbrauch (aktuell sind 22 Liter im Rennen erlaubt), werden definitiv zu einem Rückgang der absoluten Spitzengeschwindigkeiten führen. Dass das aber noch lange nicht zu einem absoluten Sicherheitsplus führen muss, zeigte bereits die letzte Hubraumreduktion der MotoGP. 2007 schrumpfte die Königsklasse ihre Motoren von 990ccm auf 800ccm ein. Auch damals wurden die Topspeeds verringert, allerdings erzielten die kompakteren und leichteren Maschinen gewaltige Kurvengeschwindigkeiten, was in Verbindung mit einer extrem aggressiven Motorencharakteristik zu heftigen Stürzen führte. Derart brutale Highsider wie in der von 2007 bis 2011 andauernden 800er-Ära erlebte die MotoGP weder davor, noch danach.

Der Verdacht liegt also nahe, dass hinter der Hubraumreduktion nicht zwangsläufig sicherheitstechnische Überlegungen stehen. Viel mehr kann sie als Lockruf an Hersteller betrachtet werden, die mit einem Einstieg in die Königsklasse liebäugeln. Von 2017 bis 2022 durfte sich Promoter Dorna in seinem Premiumprodukt MotoGP ja über ein Idealszenario freuen: Sechs Hersteller waren damals werksseitig in der Klasse vertreten. Doch dann entschied sich Suzuki völlig überraschend zum Ausstieg nach dem ersten Jahr der laufenden Vertrags- beziehungsweise Regelperiode und hinterließ so eine klaffende Lücke im MotoGP-Starterfeld.

Suzuki stieg Ende 2022 aus, Foto: LAT Images
Suzuki stieg Ende 2022 aus, Foto: LAT Images

Die Dorna sucht seither intensiv nach einem Ersatz für Suzuki, wo eine Rückkehr in Anbetracht der eingeschlagenen Konzernstrategie und des Vertragsbruchs 2022 praktisch ausgeschlossen scheint. Die Liste der möglichen Kandidaten ist allerdings kurz. Aus aktueller Sicht scheinen nur Kawasaki oder BMW in der Lage zu sein, ein MotoGP-Projekt logistisch und finanziell zu stemmen. Doch bei Kawasaki ist das Interesse am Motorsport in den vergangenen Jahren eher rückläufig. Selbst in der Superbike-WM, lange Zeit das Steckenpferd des japanischen Werks, ist man nur noch bedingt konkurrenzfähig. 2025 wird das Projekt gar nurmehr durch die Tochtermarke Bimota vertreten.

BMW: Superbike-Erfolg ein Vorbote für einen MotoGP-Einstieg?

Ein entgegengesetzter Trend zeigt sich hingegen bei BMW. In der WSBK rund ein Jahrzehnt lang nur Nachzügler, befindet sich das Werk nach in einem Hochgefühl. Neuzugang Toprak Razgatlioglu schlug ein wie eine Bombe und sicherte sich mit satten 18 Saisonsiegen den Titel. Ein Ergebnis, das sinnbildlich für einen Sinneswandel im Unternehmen steht. Nachdem der Motorsport auf zwei Rädern über Jahre hinweg äußerst stiefmütterlich behandelt wurde, besinnt man sich nun wieder auf die Wurzeln im Rennsport. Mit Bradley Smith und Sylvain Guintoli wurden zwei ehemalige MotoGP-Piloten als Testfahrer verpflichtet.

Toprak Razgatlioglu und BMW feiern die Weltmeisterschaft
BMW wurde 2024 Superbike-Weltmeister, Foto: LAT Images

Im März gab BMW dann auch eine Umstrukturierung des Motorradsportprojekts ab 1. Juni bekannt. Motorsportdirektor Marc Bongers kümmert sich ausschließlich um die operative Leitung des Engagements in der Superbike-Weltmeisterschaft. Seine bisherige Position nimmt Sven Blusch ein. Er soll sein Hauptaugenmerk auf die strategische Neuausrichtung legen und das solide Fundament für zukunftsorientierten Motorsport weiter ausbauen, war in der offiziellen Pressemitteilung zu lesen. Formulierungen wie "strategische Neuausrichtung" brachten die Gerüchteküche um einen möglichen MotoGP-Einstieg natürlich zum Brodeln. BMW-Motorrad-Chef Markus Flasch erklärte wenig später, dass die Königsklasse im Hause BMW stets ein Thema sei, man die Situation genau evaluieren würde und im Austausch mit der Dorna sei.

BMW in die MotoGP? Sinneswandel in München (05:44 Min.)

Flasch machte schon in der Vergangenheit nie einen Hehl aus seiner Begeisterung für die MotoGP. Er pflegt auch ausgezeichnete Kontakte zu Dorna-CEO Carmelo Ezpeleta. Er überblickte als früherer Chef der BMW M GmbH die Lieferung der Safety-Cars für die Motorrad-Weltmeisterschaft, die BMW seit 1999 übernimmt. Außerdem stellt man Bikes für Homologations- oder Kamerafahrten zur Verfügung. In der Vergangenheit stattete BMW mit dem Boxer-Cup auch eine Rahmenserie im Paddock aus und sponsert bis heute den "BMW MotoGP Best Qualifier Award". Auf sportlicher Seite stehen BMW und die MotoGP aber für eine lange Geschichte voller Missverständnisse und gescheiterter Einstiege.

BMW und MotoGP: Das sollte schon mehrmals nicht sein

Erstmalig liebäugelte man 2002 mit einem Engagement in der neu geschaffenen Viertaktkategorie. Zusammen mit dem Unternehmen Oral Engineering im italienischen Modena wurde ein 990ccm-Dreizylinder gebaut. Der Prototyp wurde von großen Namen wie Luca Cadalora oder Garry McCoy gefahren, die Testfahrer attestierten allerdings eine katastrophale Motorencharakteristik und das Motorrad kam nie zum Renneinsatz. 2006 sicherte der damalige BMW-Motorrad-Geschäftsführer Herbert Diess einen MotoGP-Einstieg unter dem neuen 800ccm-Reglement 2007 zu. Doch wenig später zog Diess zu VW weiter und die Pläne verliefen erneut im Sand. 2012 wollte BMW den nächsten Hubraumwechsel auf 1000ccm nutzen, um sich über Umwege in der MotoGP zu etablieren.

BMW und die MotoGP: Gescheiterte Einstiege im Überblick (07:39 Min.)

Maschinen der neu geschaffenen CRT-Klasse, in der seriennahe Bikes eingesetzt werden durften, wurden von BMW mit Motoren beliefert. Fahrer wie Danilo Petrucci bei IodaRacing oder Colin Edwards bei Forward waren auf Motorrädern mit BMW-Power unterwegs. Der damalige Motorsportchef Berti Hauser stellte sogar Werksunterstützung ab 2014 in Aussicht. Doch da war die Claiming-Rule bereits wieder Geschichte und wurde von der Open-Klasse abgelöst, in der deutlich konkurrenzfähigere Maschinen von Yamaha, Honda und Ducati zum Einsatz kamen. Damit wurden die Bastler-Bikes der CRT-Ära obsolet und BMW verschwand bis heute aus den Starterlisten der MotoGP.

BMW-Einstieg vor 2027 nicht umsetzbar

Viele Ankündigungen also, aber bislang keine Umsetzung. Motorrad-Chef Flasch betont weiterhin seine Begeisterung für den Rennsport, stellt aber auch klar, dass derartige Entscheidungen natürlich im Konzern auf mehrere Schultern verteilt sind und einer genauen Prüfung im Hinblick auf die Kosten-Nutzen-Rechnung unterliegen. Klar ist jedoch ebenso, dass BMW kaum einen besseren Zeitpunkt für die MotoGP-Premiere finden wird als die Saison 2027. Mitten in der aktuellen Regelperiode wäre ein Einstieg wohl zum Scheitern verurteilt.

In die aktuelle MotoGP wäre ein Einstieg wohl unmöglich, Foto: LAT Images
In die aktuelle MotoGP wäre ein Einstieg wohl unmöglich, Foto: LAT Images

Die Klasse fährt seit vielen Jahren unter einem sehr stabilen Reglement. Die 1000ccm-Motoren sind seit 2012 unverändert im Einsatz. Die Winglets hielten 2015 Einzug und haben seither Budgets in Millionenhöhe verschlungen. Und auch an den Ride-Height-Devices wird bereits seit den Wintertestfahrten 2019 gefeilt. Sprich: Alle involvierten Hersteller haben gewaltige Erfahrung mit der derzeit verwendeten, sehr speziellen Motorradgeneration vorzuweisen. Diesen aufzuholen, wäre für einen Neueinsteiger kaum möglich. Selbst KTM, das sich 2017 noch zu einfacheren Zeiten und als bislang letzter Hersteller in die MotoGP wagte, zahlte zunächst massiv Lehrgeld und holte in den ersten drei Saisons lediglich ein Podium. Düstere Aussichten also für Interessenten wie BMW.

2027er-Reglement ermöglicht Neustart: MotoGP bleibt die größte Bühne

Das ändert sich aber eben mit dem Jahr 2027. Das neue Reglement mit kleineren Motoren, weniger Aerodynamik und dem Verbot von Ride-Height-Devices kann als Neustart für die Klasse gesehen werden. Dorna-Sportchef Carlos Ezpeleta bezeichnet es zurecht als den größten Einschnitt in der dann bereits 25-jährigen Geschichte der MotoGP. In einer derartigen Situation beginnen alle Hersteller auf einer mehr oder weniger gleichen Basis. 2027 könnte für die MotoGP somit quasi zur Saison Null werden. Einfach wird der Einstieg auch dann nicht werden, aber dieser Herausforderung musste sich noch jedes Werk stellen, wenn es im Konzert der ganz Großen mitmischen will.

Die Tatsache, dass das früher oder später noch jeder große Hersteller wollte, spricht für die MotoGP als Marketinginstrument, das zweifelsohne auch BMW für sich nutzen könnte. Das Motorradgeschäft läuft in den letzten Jahren bestens. Alleine seit 2011 konnten die Absatzzahlen mehr als verdoppelt werden. Von damals 104.286 Maschinen schaffte man es 2023 auf das neue Rekordergebnis von 209.300 verkauften Exemplaren. Beträchtlichen Anteil an diesem Erfolg haben immer noch die klassischen Touringmotorräder, für die BMW bekannt ist. Mittlerweile befinden sich aber auch andere Modelle mit einer deutlich jüngeren Zielgruppe im Portfolio, etwa das Naked-Bike R nineT. Derartige Bikes lassen sich nach wie vor gut über den Rennsport promoten. Ein Effekt, der sich durch die bevorstehende Übernahme von MotoGP-Promoter Dorna durch Formel-1-Rechteinhaber Liberty Media zweifelsohne noch verstärken wird.

Yamaha bleibt auch ohne Superbike am Markt in der MotoGP, Foto: LAT Images
Yamaha bleibt auch ohne Superbike am Markt in der MotoGP, Foto: LAT Images

Die alte Weisheit "Win on Sunday, sell on Monday" gilt immer noch, aber in veränderter Form. Es geht nicht mehr zwangsläufig darum, Motorräder zu verkaufen, die an die im Rennsport eingesetzten Maschinen erinnern. Yamaha etwa stellt sein Superbike R1 ein, bekennt sich aber dennoch zur MotoGP, weil über das dort gewonnene Image Motorräder aller möglichen Typen verkauft werden. KTM hatte seit seinem Einstieg in die Königsklasse überhaupt nie derartige Maschinen im Programm, freut sich aber über beste Werbung für seine gesamte Modellpalette. Das könnte auch BMW für sich nutzen.

Die Tür zur MotoGP ist offen: BMW muss sich fragen, ob sie hindurchgehen wollen

Bis es soweit ist, sind zweifelsohne noch viele interne Analysen und Vorstandsbeschlüsse beim deutschen Hersteller nötig. Ein MotoGP-Engagement will genau durchdacht und ebenso gut vorbereitet sein. Der Promoter Dorna hat es in Zusammenarbeit mit Motorradweltverband FIM, Herstellerbund MSMA und Teamvereinigung IRTA aber auf jeden Fall geschafft, Interessenten wie BMW für 2027 die ideale Grundlage für einen Einstieg zu schaffen. Der Ball liegt nun bei ihnen.

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