Der Rest der Formel 1 hatte in Singapur im Rennen genauso wie schon am Vortag im Qualifying keine Antwort für Lando Norris. Den Sieg musste er sich daher nicht mit dem deutlich abgeschlagenen Max Verstappen ausfahren - sondern mit sich selbst, und mit der Singapur-Strecke. Zweimal verhinderte er das Desaster haarscharf.

Besonders brenzlig: Runde 29. Da waren seine Start-Medium-Reifen bereits alt, und auf der Bremse hin zu Kurve 14 verschätzte sich Norris komplett. Mit stehendem Reifen bekam er den McLaren gerade noch vor der TecPro-Absperrung um die Ecke. "Ich habe mich wirklich angeschissen!", war sein ehrliches Fazit dazu direkt nach dem Rennen gegenüber Verstappen und Oscar Piastri im Cooldown-Raum.

"Ich habe gepusht, um eine Lücke aufzufahren", erklärt Norris, wie es dazu kommen konnte. "Ich wollte keine Führung von einer Sekunde haben, ich wollte die größtmögliche Führung haben!" Anders als bei vielen vergangenen Singapur-Rennen wollte Norris keine Spielchen spielen. Zum Zeitpunkt des Fehlers war er 25 Sekunden vor Verstappen. Das ist fast ein ganzer Boxenstopp.

"Ich bin mit dem Frontflügel an die Absperrung, vielleicht war ein bisschen was krumm", meint Norris. Selbst wenn - der McLaren war in seinen Händen viel zu übermächtig. Eine Runde später kam er zum Boxenstopp, erhielt harte Reifen und fuhr damit bis ins Ziel, ohne dass Verstappen je auf unter 20 Sekunden herangekommen wäre.

Beinahe-Crash Nr. 2 für Norris im Kampf um die schnellste Runde?

Nach dem Stopp ging Norris es etwas ruhiger an und baute den Vorsprung erst einmal nicht weiter aus. Vielleicht zu ruhig? Ein bekanntes Phänomen im Motorsport: "Es ist nicht unbedingt, dass du es übertreibst. Manchmal chillst du zu sehr. Vielleicht war es beides." So klopfte er am Eingang von Kurve 13 mit der rechten Fahrzeugseite in Runde 45 an Beton. Wieder ohne Folgen.

"Das Auto war besonders auf dem Hard schwer zu fahren", erklärt Norris. Dann lief er auf Überrundungsverkehr auf. "Du hast ein bisschen weniger Grip, ein bisschen weniger Abtrieb, die Reifen gehen dir langsam aus, das hat mich einfach erwischt. Es war kein Konzentrationsfehler, es hat mich einfach überrascht."

Die McLaren-Boxenmauer schaffte es, so ruhig darüber hinwegzusehen, dass sie sich trotzdem traute, Norris zwei Runden später zu einer Attacke auf die schnellste Runde zu ermutigen. Den Job erledigte er ohne Mauerkontakt. Danach dachte er noch darüber nach, sich ein Fenster für einen potenziellen zweiten Boxenstopp aufzufahren, um sich für eine noch bessere Runde Soft zu holen. Für das Team war das Kapitel Schnellste Runde aber abgeschlossen, so Teamchef Andrea Stella: "Danach wollten wir darüber nicht mehr reden."

So stahl Daniel Ricciardo im Racing Bull - dem zweiten Team des Red-Bull-Konzerns - Norris den Bonuspunkt kurz vor Schluss auf frischen Soft-Reifen unter der Nase weg. Unfaire Tricks, das zweite Team zu nutzen? Norris sieht von Anschuldigungen ab: "Gut für ihn. Ich habe mein Bestes getan, versuchte die Runde zu holen, als die Reifen in der Mitte noch gut waren. Aber du kannst nicht alle haben."

Trotz Singapur-Dominanz: Fahrer-WM wird für Lando Norris immer schwieriger

Die Ricciardo-Runde bedeutet, dass Norris seinen WM-Rückstand auf Verstappen nur um sieben Punkte auf 52 verkürzte. Sechs Rennen vor Schluss wird die Zeit knapp. Dass Norris in Singapur unschlagbar war, ist kein Vorbote für die restlichen Rennen, mahnt Andrea Stella. McLaren half, dass es ein High-Downforce-Rennen war, wie Zandvoort oder Ungarn: "In dieser Aero-Konfiguration sind wir die effizientesten. Mit weniger Abtrieb sind Ferrari und Red Bull viel vergleichbarer."

So ist in der Fahrer-WM auch ein bisschen Frust da. Weil Verstappen hinter Norris Zweiter wurde. "Ferrari hätte vor Max landen können, und wenn Oscar [Piastri] seine Qualifying-Runden etwas aufpoliert, hätte auch er vor Max landen können", bedauert Stella.

Norris will nicht an die WM denken: "Ich versuche, jedes Wochenende das Maximum an Punkten zu holen, inklusive schnellster Runde und so. Aber wenn Max weiterhin Zweiter wird und Red Bull weiter so gute Arbeit macht, dann gibt es nichts, was ich noch tun kann." Nach dem Singapur-Ergebnis steht nämlich fest: Verstappen wäre Weltmeister, wenn er bei jedem verbleibenden GP und Sprint Zweiter hinter Norris wird.