Die Furcht vor der Dominanz von Max Verstappen hatte in den letzten Tagen vor dem Bahrain-GP ungeahnte Ausmaße angenommen. In klassischer Formel-1-Tradition brauchte es zwei Trainings, um den erwarteten Schock ins Gegenteil zu verkehren. Verstappen und Red Bull waren am Donnerstag fünfte Kraft im Ergebnis des 2. Trainings. Mercedes kontrollierend. Das kann doch nicht stimmen?

Wie immer braucht es eine Trainings-Analyse, um dieses Chaos zu ordnen. Das wird schon nach den ersten Aussagen von Lewis Hamilton klar, der im 2. Training mit über zwei Zehnteln Vorsprung den Rest stehengelassen und Verstappen 0,477 Sekunden mitgegeben hatte: "Es ist ein Schock, wenn ich sehe, wo wir stehen."

Mercedes vorne, Red Bull strauchelt! Alles nur ein Bluff? (09:32 Min.)

Mercedes überrascht: Wie viel davon ist der Motor?

Red Bull hatte nur Minuten nach dem Training die erste Erklärung für Hamiltons Zeit parat. "Diese Zeit hier ist glaube ich nicht ganz repräsentativ", verwies Motorsport-Berater Dr. Helmut Marko auf einen vermeintlich aufgedrehten Motormodus. Nicht falsch: Der Mercedes erreichte seinen Topspeed auf den Geraden früh, während der Red Bull eine schwache Beschleunigung an den Tag legte. Klares Indiz dafür, dass der Mercedes-Motor weiter aufgedreht wurde.

Addiert man die auf den Geraden verlorene Zeit zusammen, landet man jedoch eher in einem geschätzten Bereich von zwei Zehntel. Da fehlen noch drei weitere auf die Hamilton-Bestzeit. Wo gehen die verschütt? Das Heck des Red Bull liegt schlichtweg nicht so gut, wenn auf Zeit gepusht wird. Schon aus der ersten Kurve heraus musste Verstappen einmal vom Gas.

Der Hamilton-Mercedes lag in den langsamen Kurven richtig gut. Hamilton schwärmte über das neue Auto: "Die Sitzposition ist weiter vorne, ich fühle mich viel besser hin zu Kurven, und auch andere Bereiche wurden verbessert. Das fühlt sich wie ein Rennauto an, anders als die letzten zwei."

Mercedes-Fahrer Lewis Hamilton
Lewis Hamilton zeigte sich sehr zufrieden mit dem W15, Foto: LAT Images

Auch in den Kurven 8 und 10 verlor Verstappen. Nach dem Training klagte er über das Zusammenspiel von Vorder- und Hinterachse. Marko stellte in den Raum: "Die Frage, ob wir als aerodynamisch effizientes Auto sehr windanfällig sind."

Ein böiger Nordostwind machte der Formel 1 am Donnerstagabend das Leben schwer. Dem Red Bull schien das in den langsamen Kurven nicht zu schmecken. Dort entstanden die kleinen Verstappen-Fehler, die sich schließlich summierten. Auch die Temperaturen waren relativ zum Test kälter. Das machte es dem wieder reifenschonenden Red Bull wohl schwerer, die Hinterreifen im perfekten Temperaturfenster zu halten.

Qualifying-Zweifel bleiben: Red Bull auch 2024 hier anfällig?

Das sind alles Punkte, die aus dem Vorjahr gut bekannt sind. Der RB20 ist so weit weg davon, im Qualifying ein unbesiegbares Monster zu sein. Stattdessen zeichnet sich wieder eine große Schlacht um die Pole ab, für welche Verstappen seine Setup-Probleme aussortieren muss. Nicht nur beide Mercedes, auch Fernando Alonso, Oscar Piastri und Carlos Sainz waren schließlich im 2. Training schneller.

Wer ist aus dieser Gruppe der Pole-Favorit? Legen wir die besten Runden aller fünf Top-Teams übereinander, dann schafft das nicht wirklich Klarheit. Klar scheint, dass Hamilton die beste Runde fuhr, der Rest tat sich im Wind schwerer. Der drittplatzierte Alonso zerhackte ebenfalls die ersten Kurven. Tendenziell verlieren alle gegenüber Hamilton etwas auf den Geraden, und niemand kommt seiner Traktion nahe.

Ferrari fliegt unter dem Radar. Marko nannte sie nach dem Qualifying als härtester Gegner, obwohl Sainz in FP2 0,395 Sekunden hinter Hamilton landete, und Leclerc im Nirgendwo. Diese Zeiten haben jedoch kaum Wert. Sainz klagte den ganzen Tag über Probleme mit dem Bremsgefühl, die beim Test nie aufgetreten waren. Leclerc patzte auf seiner ersten Qualifying-Simulation, lief auf der zweiten auf Lance Stroll auf, und einen Soft-Reifen auf dem harten Asphalt von Bahrain durch einen dritten Anlauf zu prügeln produziert nur ein Muster ohne Wert.

Im Renn-Trimm ist Red Bulls Bahrain-Spuk vorbei

Alle Fahrer der Spitzengruppe eint nach dem Training, dass sie sich deshalb nicht zu Prognosen für das Qualifying imstande sehen. Zugleich sehen alle nur einen, nämlich Verstappen, am Samstag als Sieger abreisen. Warum, das wird im Longrun-Vergleich klar. Am Donnerstag fuhren hier fast alle über zehn Runden mit dem Soft-Reifen. Prompt tat sich eine Red-Bull-Doppelführung auf.

Metronom Verstappen schlug wieder zu, fuhr 14 Runden praktisch ohne nennenswerten Pace-Einbruch. Ein Zehntel war er im Schnitt schneller als Perez. Etwas überraschend aber nur eineinhalb schneller als Oscar Piastri, im Vorjahr nicht gerade bekannt für gutes Reifenmanagement. Der McLaren bemühte sich im Kielwasser der Red-Bull-Armada um Anschluss, und schlug sich respektabel, auch wenn bei ihm ein deutlicherer Einbruch der Reifen zu erkennen war.

Trotzdem wanderten die McLaren-Fahrer am Abend mit erhobenem Haupt durch das Fahrerlager. In den schnellen S-Kurven von Kurve 4 bis 8 ist kein Auto so gut wie der MCL38. Im Longrun gewann Piastri im Schnitt hier über eine Zehntel pro Runde auf Verstappen. "Es war ein anständiger Tag, wohl etwas besser als erwartet", folgerte Lando Norris. Norris' letzter Platz im Trainings-Ergebnis war einem Selbstversagen in der Qualifying-Simulation geschuldet. Mercedes, Ferrari und Alonso bewegen sich innerhalb von drei Zehnteln.

Verstappen bleibt damit zumindest für das Rennen klarer Favorit, nicht aber haushoher. Die Konkurrenz ist Red Bull zumindest am ersten Tag unangenehm auf den Pelz gerückt. Die nächtliche Setup-Arbeit und das Qualifying werden die erste Entscheidung bringen, auch wenn es für Verstappen so oder so reichen sollte. Zwischen McLaren, Mercedes und Ferrari ist noch alles offen. Fernando Alonso tut sich mit dem Anschluss etwas schwerer, bei Aston Martin trat der Verschleiß am deutlichsten zutage.

Alpine hält weiter auf Bahrain-Desaster zu

Das Spitzenfeld ist damit abgeschlossen. Eine kleine Lücke von mehreren Zehnteln folgt. Logan Sargeant mag hier überraschend weit vorne auftauchen, aber im Rundenverlauf ist ein deutlicher Absacker zu erkennen. Er begann zu schnell, ließ stark nach - und weil Williams den kürzesten Longrun fuhr, taucht der Einbruch noch nicht deutlich sichtbar im Durchschnitt auf.

In Wahrheit gibt es eine klare zweite Gruppe hinter dem Spitzenfeld. Lance Stroll, Racing Bulls, Sauber, motivierte Haas, die auch in den ersten beiden Trainings mit passablen Longruns aufhorchen ließen. Solide auf das Desaster zu hält nach wie vor Alpine. Als einziges Team schaffte hier keiner der beiden Fahrer einen Longrun-Schnitt unter 1:38.