Aston Martin war die Sensationsstory zu Beginn der abgelaufenen Saison. Den großen Ansagen bei der Präsentation ließ die Mannschaft aus Silverstone ein umso großartigeres Auto folgen, Fernando Alonso backte die Erfolgstorte mit einer Serie an Podien zu Ende.

Der erste Formel-1-Sieg im britischen Renngrün seit Jahrzehnten und der erste Alonso-Triumph seit zehn Jahren schienen nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Und dann? Nichts mehr. Oder besser gesagt: Nicht mehr viel. McLaren bäumte sich plötzlich im Sommer auf und war die neue Lieblings-Überraschung der Formel-1-Welt, die altbekannten Spitzenteams kehrten auch auf ihre angestammten Plätze hinter Red Bull zurück. Je länger die Saison ging, desto tiefer sank der Aston-Hype.

Stiefkind Aston Martin

Aston Martin war plötzlich das Stiefkind der Formel 1. Was von der Sensationsstimmung des Saisonanfangs blieb, waren vereinzelte Top-3-Ergebnisse, viel Ursachenforschung und letztendlich ein mäßiger fünfter Platz in der Konstrukteurs-WM. Bis zum achten Saisonrennen in Kanada schien alles glatt zu laufen. Den einzigen echten Durchhänger hatten Aston Martin und vor allem Fernando Alonso beim Spanien-GP, teilweise begründet durch einen Unterboden-Schaden im Qualifying.

Der Schnitt durch die bis dahin so glorreiche Aston-Saison zog sich ab dem Österreich-GP im Juli. Aus den zuvor omnipräsenten Podien wurden plötzlich fünfte Plätze und mühsame Resultate in der hinteren Hälfte der Top-10. Das negative Highlight in dieser Phase: Platz 9 und 10 in Ungarn. Fernando Alonso beklagte sich: "Manchmal startest du das Wochenende und merkst gleich, dass das Auto nicht richtig reagiert. Du fühlst dich in den Kurven nicht richtig wohl oder einfach nicht verbunden mit dem Auto." In den Sommermonaten kam das öfters vor, vor allem im Juli.

Aston Martins Upgrade-Odyssee

Obwohl Kanada das letzte erfolgreiche Aston-Martin-Rennen vor der Sommerpause war, hatte sich der Fehler im System genau bei diesem Grand Prix ins System geschmuggelt. Dort brachte das ehemalige Racing-Point-Team eine neue Unterboden-Spezifikation am Wagen an. Dies tat man in Kombination mit einer Reihe weiterer Anpassungen, etwa am Seitenkasten oder an der Motorabdeckung. Ein Upgrade, das aber nicht so funktionierte wie geplant.

In Kanada konnte Fernando Alonso noch jubeln, Foto: LAT Images
In Kanada konnte Fernando Alonso noch jubeln, Foto: LAT Images

Das Streckenlayout des Circuit Gilles Villeneuve mit seinen langsamen und eckigen Kurven kam Aston Martin entgegen beziehungsweise tarnte das Problem noch etwas. Auf Strecken wie Spielberg, Silverstone oder Budapest wurde ihnen dann die knallharte Rechnung dafür präsentiert.

Es dauerte allerdings über zwei Monate, bis die Ursache gefunden und der 'Verräter' durch einen komplett neuen Unterboden ersetzt worden war. In Zandvoort war es soweit. "Viel wurde darüber gesprochen, dass wir eine falsche Richtung in der Entwicklung eingeschlagen hätten. Wir glauben nicht, dass wir das getan haben. Wir waren einfach auf einem Weg in unserer Entwicklung", versuchte Performance-Direktor Tom McCullough die Fehl-Entwicklung zu relativieren.

Zu alter Stärke fand das Silverstone-Team aber trotzdem nicht zurück. Darüber konnte auch ein Podium beim Niederlande-GP nicht hinwegtäuschen. War es also nicht nur der Unterboden? Ein weiterer Verdächtiger war der Frontflügel.

In den Sommermonaten hatten Vermutungen die Runde gemacht, dass einige Teams vor allem zu Saisonbeginn ihre Flügel so konstruiert hatten, dass sie sich im Fahrbetrieb verbogen - selbstverständlich illegal. Vor allem Aston Martin stand im Zentrum dieser Vorwürfe. Bewegungen an der thematisierten Stelle sollen sogar auf Videoaufnahmen ersichtlich gewesen sein.

Aston Martin-Fahrer Fernando Alonso in der Boxengasse
Die Front des Aston Martin in Abu Dhabi, Foto: LAT Images

Was anschließend hinter den Kulissen passierte, ist schwer auszumachen. Gerüchten zufolge wurden jedoch schon im Frühjahr einige Teams informell dazu aufgefordert, die biegenden Flügel durch reglementarisch einwandfreie Komponenten zu ersetzen. Ab dem Spanien-GP hatte das Stroll-Team einen grunderneuerten Frontflügel im Gepäck. Also rund um jenen Zeitraum, in dem sich die Performance zum schlechteren veränderte.

Ende August verschärfte die Formel 1 ihren Kampf gegen illegale biegsame Flügelelemente. Die Rennställe mussten im September detailliert die technischen Konstruktionen ihrer Komponenten übermitteln. Zudem wurden in einer technischen Direktive die Graubereiche nochmal nachgeschärft. Diese FIA-Direktive griff ab Singapur. Danach wurde es rund um die Flexi-Flügel-Vorwürfe wieder ruhig.

Fernando Alonso verfolgte im Sommer einen anderen Erklärungsansatz für den Rückgang der Aston-Pace. Der Spanier hatte die neue Reifenkonstruktion im Visier, welche Pirelli ab Silverstone eingeführt hatte. "Ist es Zufall, dass einige Teams Problem haben und andere mit ihren Autos glücklicher sind, seit Pirelli in Silverstone neue Reifen gebracht hat?", fragte sich Alonso beim darauffolgenden F1-Rennen.

Passend zu seiner Theorie war ausgerechnet das Großbritannien-Wochenende auch der Grand Prix, bei dem McLaren der endgültige Durchbruch gelang. Doch abgesehen von Alonso zog bei Aston Martin kaum jemand bei dieser These mit. Auch Alonsos Vermutung, dass Red Bull ebenfalls durch die neuen Reifen eingebremst wurde, erwies sich als Trugschluss und wurde aus Milton Keynes schnell dementiert.

Experimente statt Podien

Halten wir fest: Bestätigt wurde bisher nur eine These, nämlich jene rund um das misslungene Unterboden-Update am AMR23 in Kanada. Alles andere ist Spekulation. Fakt ist jedoch auch, dass Aston Martins neuer Unterboden im Herbst nach wie vor kein verlässlicher Schritt zurück auf die Erfolgsspur war. Ganz im Gegenteil: An den folgenden sechs Rennwochenenden sammelte die Mannschaft gerade einmal 21 Punkte.

Die beiden Nullnummern in Singapur und Mexiko standen exemplarisch für den Rückfall tief ins Mittelfeld. Gegen Ende dieser Durststrecke wurde jedoch längst schon wieder an neuen Auswegen aus der Misere experimentiert. Ein riskantes Update-Programm sollte die Lösung liefern.

Riskant auch deshalb, weil sogar an Sprint-Wochenenden neue Ausbaustufen an die Strecke gebracht wurden. So etwa der letzte Unterboden, der in Austin sein Debüt feierte. Nach zwei Tagen war man schlauer - aber nicht schneller. Das Rennen wurde zu einer Test-Session umfunktioniert, beide Autos starteten aus der Box.

"Wir wollten so viel wie möglich lernen und für nächstes Jahr verstehen. Dafür muss man natürlich ein bisschen das Ergebnis opfern, das geht damit einher", erklärte Teamchef Mike Krack diesen Schritt. Die Pace im Rennen war bei beiden Autos auf Top-10-Niveau. Doch das Verständnis für den neuen Unterboden schien immer noch nicht vorhanden zu sein.

Denn eine Woche später in Mexiko gab es noch einmal dasselbe Spiel: Stroll musste diesmal aus der Boxengasse losfahren. Dem Kanadier wurde wieder der alte Unterboden verpasst, Alonso blieb auf dem neuen. "Lance war das schnellere Auto als Fernando", stellte Krack daraufhin fest, betonte allerdings auch, dass der Spanier einen Schaden am Wagen hatte.

Update-Pakete als Rätsel

Welches Paket besser funktionierte, blieb weiterhin ein Rätsel. Die Verständnisprobleme hielten an, vor Brasilien war lange unklar, welcher Unterboden denn nun der richtige wäre. Davon, dass man sich in der Entwicklung verirrt hatte, wollte die Teamführung dennoch nichts wissen. "Wenn man orientierungslos ist, versucht man einfach sein Glück und macht nichts Vernünftiges. Das ist nicht der Fall", betonte Krack.

Das Podium von Fernando Alonso in Sao Paulo kam zwar zu spät, um P4 in der Konstrukteurs-WM anzugreifen, aber es war dennoch Balsam auf die Aston-Seele. Denn so sehr Teamchef Mike Krack immer den Zusammenhalt im Team betonte, es kam zunehmend Unruhe in den eigenen Reihen auf. Alonso, nicht für seine Geduld bekannt, ließ in den Sommermonaten zunehmend durchklingen, dass er mit der Update-Politik seines Arbeitgebers nicht einverstanden war.

"Wir haben unser Auto nicht so stark verbessert wie unsere Hauptkonkurrenten. Wir sehen jeden Freitag auf der Liste, wie viele neue Teile sie haben", implizierte er in Ungarn, dass es bereits an der Quantität der Aston-Upgrades haperte und nicht nur an deren Qualität.

Aston Martin-Fahrer Fernando Alonso
In Las Vegas lag Aston Martin bereits hinter McLaren in der Konstrukteurs-WM, Foto: LAT Images

Auch Astons Performance-Direktor Tom McCullough gab schließlich im Herbst zu, dass die Entwicklungsarbeit des Teams über weite Strecken nicht nach Plan gelaufen war. "Im Nachhinein haben wir einige Entscheidungen getroffen, die wir jetzt nicht mehr machen würden, aber so ist das eben in der Technik", so der Ingenieur.

Die hastig eingeführten Upgrades, welche zu den Boxengassen-Starts beim USA-GP und in Mexiko führten, sieht er aus der heutigen Perspektive ebenfalls als Fehler an: "Wir haben ein bisschen zu viel Entwicklungsarbeit öffentlich vor euch gemacht. Rückblickend war das vermutlich nicht so klug", gestand er in einer Medienrunde.

Lance Stroll auf der anderen Seite fiel mit dem Niedergang des Teams in ein noch tieferes Loch. Auf Augenhöhe mit seinem Teamkollegen war der Kanadier sowieso über den Großteil der Saison nicht, obwohl die Verantwortlichen im Team seines Vaters regelmäßig damit beschäftigt waren, dem 25-Jährigen öffentlich Rosen zu streuen. Zwischen dem Italien-GP und dem Rennen in Mexiko schaffte er es nicht ein einziges Mal in das zweite Qualifying-Segment, fünfmal am Stück blieb er ohne Punkte.

Der viel diskutierte Schubser gegen seinen Physiotherapeuten nach einem weiteren Q1-Aus in Katar bewies, wie stark die Pechsträhne an Stroll nagte. Und vor allem auch, wie sehr er mit der damals neuesten Version des AMR23 zu kämpfen hatte. "Zu Beginn des Jahres hat das Auto mehr Möglichkeiten gegeben, mit unterschiedlichen Fahrstilen zu arbeiten. Jetzt hat es so viele Limitierungen", analysierte der ehemalige F3-Champion. Alonso könne mit seinem Fahrstil besser diese Limitierungen umfahren als er. Strolls Negativ-Lauf endete erst mit einem dritten Startplatz und einem verdienten fünften Rang im Sao-Paulo-GP.

2024: Gibt es das nächste Winterwunder?

Die Ausgangslage von Aston Martin lässt sich eigentlich am besten mit einem berühmten Goethe-Zitat beschreiben, das einen 'armen Tor' zum Thema hat. Denn für 2024 sind wir alle so schlau so wie zuvor. Sowohl Aston Martin selbst als auch die Formel-1-Welt rundherum.

Der zweitschnellste Wagen der Vorsaison war im Endspurt des Jahres eine Wundertüte, die im Unterboden-Labyrinth eine Spannweite zwischen Podium-Pace und Q1-Aus aufwies. McCullough gab sich nach dem Brasilien-Podium von Fernando Alonso optimistisch, dass das monatelange Update-Rätsel gelöst sei. "Jetzt sind wir zufrieden und wissen, wie wir das Auto auch für nächstes Jahr entwickeln müssen. Das war eine wichtige Erkenntnis", sagte er.

Es wäre dennoch sehr optimistisch, von einem weiteren Fabel-Winter in Silverstone auszugehen. Der Blitzstart in die Saison 2023 kam wohl auch dadurch zustande, dass Aston Martin die richtigen Leute aus den anderen Lagern abgeworben hatte. Technikchef Dan Fallows wechselte beispielsweise nach einer langen Vertragsposse von Red Bull zu Aston, genauso wie Mercedes-Aero-Chef Eric Blandin.

In weniger prominenten Positionen soll es ebenfalls zahlreiche Neuanwerbungen aus Milton Keynes und Brackley gegeben haben. Sie brachten viel Know-how von den beiden besten Teams der letzten Jahre mit. Diese "Abkürzung", wie sie Ex-Alpine-Teamboss Otmar Szafnauer einst nannte, funktioniert natürlich nicht beliebig oft. Anschließend ist der Anteil an eigenen Entwicklungen, die in den Boliden fließen, ungleich höher.

Genau an dieser Weiterentwicklung scheiterte Aston Martin in der abgelaufenen Saison mehrfach. Es kamen Upgrades, die aber entweder von Grund auf keine Leistung brachten oder an deren Verständnis das Team rätselte und mitunter auch scheiterte-

Falls Aston Martin im kommenden Jahr erneut auf absolutem Topniveau in die Saison startet, könnten die auf den ersten Blick verbockten Wochenenden in Austin und Mexiko ein wichtiger Schlüssel zur Rückkehr auf die richtige Spur gewesen sein. Wenn nicht, dann zeigt es, dass Aston Martin womöglich aller Aufbruchstimmung zum Trotz nach wie vor eine Mittelfeld-Mannschaft ist, die sich nur einen kurzen Topteam-Boost erkauft hat.