Kaum ein Sport kam mit so einem Höhenflug aus der Coronavirus-Pandemie wie die Formel 1. 2021 kam alles zusammen: Die Fans pilgerten befreit wieder zum Live-Sport, und der war nirgends dramatischer als in der Königsklasse des Motorsports. Max Verstappen und Lewis Hamilton boten einen WM-Kampf, wie es ihn (wenn überhaupt) einmal pro Jahrzehnt gibt, und den man gesehen haben musste.
Die Formel 1 erntete im Spätherbst bis Abu Dhabi die Früchte der harten Arbeit, mit der sie sich auf Social Media und über Netflix zur modernen Trend-Sportart gemacht hat. 108,7 Millionen sahen ein WM-Finale für die Ewigkeit im Fernsehen. Ab 2022 sollte die nächste Stufe zünden, neue Aero-Regeln sollten besseres Racing schaffen und die neue Kosten-Obergrenze die Vorteile der Top-Teams erodieren.
Dominanz statt engem F1-Konkurrenzkampf
Daraus wurde nichts. Am dritten September 2023 stellte Max Verstappen mit seinem zehnten Sieg in Folge einen neuen Rekord auf, erst in Singapur, beim 15. Rennen des Jahres, gewann mit Ferrari ein anderes Team. Der Hype ist weg, die Stimmung bedrückt. Red Bull ist seit einem Jahr nur mehr in Ausnahmefällen schlagbar. Die sportliche Flaute schlägt in Interessensschwund um. Ist Kritik gerechtfertigt? Und wie kann die Formel 1 das Momentum wiedergewinnen?
Die Zeiten der Rekordquoten im TV sind jedenfalls vorbei. Obwohl es von Markt zu Markt schwankt. Wirklich vergleichbare Zahlen sind allerdings auch kaum vorhanden, in jedem Land gibt es andere Methoden zur TV-Seher-Erfassung. Wenn überhaupt Zahlen berichtet werden. Vonseiten der F1-Vermarkter von Liberty Media heißt es 2023 trotzdem: Fernsehen ist schwierig.
Nur in lange brach gelegenen Märkten wie den USA ist der Trend positiv, in vielen anderen rückläufig. Das liegt nicht nur am Produkt auf der Strecke. Die von Liberty veröffentlichten Gesamt-Zahlen illustrieren das: 2019 sahen im Schnitt 90 Millionen ein Rennen, 2022 nur mehr 70. Im klassischen linearen Fernsehen ist aber nicht nur die Formel 1 auf dem absteigenden Ast, alles geht abwärts.
Liberty-CEO Greg Maffei sieht daher kein Problem, verweist auf andere Metriken: "Wenn man sich nicht nur lineares TV, sondern alles ansieht - Instagram, YouTube, TikTok -, dann ist das Interesse am Sport im zweistelligen Bereich nach oben geschossen." Die Formel 1 fühlt sich sicher, auch im letzten Jahr wuchsen die Social-Media-Follower um 23 Prozent. Sender sind trotz rückläufiger Zahlen noch immer bereit, viel Geld für Sportrechte zu bezahlen. Denn Live-Sport ist das, was im Fernsehen noch immer zieht.
Weniger Menschen schauen Formel-1-Rennen
Das ändert nichts an den nackten Zahlen: Immer weniger schauen Rennen. Etwa, weil die Formel 1 in großen europäischen Märkten ins Pay-TV verschwindet. Deutschland ist bestes Beispiel. Seit 2021 hat Sky die Exklusivrechte, nur mehr eine Handvoll Rennen wurde per Sublizenz von RTL im Free-TV gezeigt. 2023 gab es nicht einmal das mehr, stattdessen zwei YouTube-Livestreams.
Was es noch schwieriger macht: Der Streamingdienst F1 TV ist nicht mehr verfügbar. Das Fehlen von Free-TV sorgt immer wieder für Kritik. Zu RTL-Zeiten sahen Millionen in Deutschland jeden Grand Prix. Auf Sky haben nur vier Rennen seit 2021 eine Million geknackt. Zumindest im TV. Natürlich gibt es auch von Sky Streaming-Angebote, aber Streaming-Zahlen sind schwer nachzuvollziehen.
Hinter der Bezahlschranke rutscht die Formel 1 in Deutschland 2023 weiter ab. Im Schnitt sind es 100.000 Seher weniger. Auch in Österreich - dort war die Serie im Free-TV zuletzt Top-Quoten-Lieferant - ist der Durchschnittswert um gleich viele Seher gesunken. Damit folgt der Brückenschlag zum Produkt auf der Strecke. Das wird von allen Seiten in Zweifel gezogen. Ob es sich lohnt, für Formel-1-Rennen Geld auszugeben. Wer ist der in Deutschland online meistgesuchte Fahrer 2023? Mick Schumacher. Ein Pilot, der nicht einmal Rennen fährt.
Das Interesse an den sonntäglichen 90 Minuten, die eigentlich der Kern der Formel 1 sind, fällt. Fahrer und Teams haben sich auch deshalb schon früh im Jahr auf das 2022 rundumerneuerte Aerodynamik-Reglement eingeschossen. Nach Anpassungen und Aero-Entwicklungen im Winter gebe es wieder mehr "Dirty Air", das Hinterherfahren sei schon bald wieder so schlimm wie mit den Autos der vorherigen Generation.
Basierend auf Daten von 2022 hatten die Regelhüter der FIA außerdem bei mehreren Rennen zu Saisonbeginn die DRS-Zonen verkürzt, was diese Probleme noch offensichtlicher zu machen schien. Obendrauf beklagten sich die Fahrer über zunehmende Überhitzungsprobleme mit den Reifen, über verschlechterte DRS-Effekte. Die Daten bis zur Sommerpause zeichnen allerdings ein diffuseres Bild. Legitime Überholmanöver im Wettbewerb (also ohne solche, die etwa in Runde eins oder mit unverhältnismäßig hohem Reifenvorteil von zehn oder mehr Runden zustande kamen) gab es in diesem Jahr 297, das sind nur neun weniger als im Vorjahr.
Liberty und FIA wehren sich gegen Kritik
Liberty und die FIA wehren die Kritik am Reglement entsprechend ab. Es funktioniere, dass hart umkämpfte Mittelfeld ist Beweis dafür. Genauso sind die Entwicklungsbeschränkungen kein Problem. Aston Martin und McLaren haben zu Ferrari und Mercedes aufgeschlossen und ein neues Viererpaket im Verfolgerfeld gebildet. Die Lücken sind hinten enger. Und Pirelli wehrt sich gegen die Reifenkritiker. Es sind fast die gleichen Reifen wie im Vorjahr. Genauso wie DRS-Effizienz nicht generalisiert werden kann. Sie variiert stark von Team zu Team, sogar von Aero-Paket zu Aero-Paket.
Das größte Problem hinter dem abnehmenden Interesse, analysieren die F1-Oberen im kommerziellen Bereich folglich, ist Red Bull. Überholstatistiken sind eben nicht alles. Wie viele interessiert der Kampf um den elften Platz? Zehn Plätze weiter vorne spielt die Musik. Da fährt 2023 nur meist Max Verstappen mit 20 Sekunden Vorsprung auf den ersten Verfolger. Die Schuld der Regeln, oder des Führenden, ist das nicht wirklich. Red Bull zeigt zurecht mit dem Finger auf die Konkurrenz.
Ferrari und Mercedes haben im Vorjahr Rennen gewonnen. Dass ihre neuen Autos enttäuschend sind, steht außer Frage, aber das ist nicht die Schuld von Red Bull, die die neuen Ground-Effect-Regeln besser verstehen als die meisten Gegner. Das macht das Thema "Einbremsen" von Red Bull schwierig.
Es fehlt ein klarer Punkt, an dem man den Hebel ansetzen könnte, das Auto gewinnt scheinbar nicht mit einem Trick. Plötzlich spielen die Entwicklungs- und Kostenbremsen in die Hände der Führenden. Denn die Entwicklungsrichtung zu wechseln ist nicht mehr so leicht wie in der Vergangenheit, als Ferrari oder Mercedes Millionen und Abermillionen in ein B-Spec-Paket mit neuem Chassis mitten in der Saison hätten investieren können.
Auch Liberty gibt sich klar: Ein Einbremsen von Red Bull wäre nicht fair, wäre Manipulation. Eine neue Marschrichtung im Messaging soll es kurzfristig richten: Statt WM-Kampf soll das Rekord-Spektakel von Red Bull und Max Verstappen verkauft werden. Nach dem Motto: Kommt, hier wird Geschichte geschrieben. F1-CEO Stefano Domenicali sieht auch kein Problem darin.
Die über Social Media und Netflix angezogenen neuen Fans kommen, um zu bleiben, versichert er: "Es geht mehr um die eingesessenen Fans. Dass sie weniger Interesse haben, wenn ein Auto dominant ist. Für den neuen Markt, die neuen Fans, die ins Geschäft kommen, ist es nicht wirklich so wichtig." Und solche Jahre der Dominanz gibt es immer wieder. Überlebt hat die Formel 1 sie alle. Zumindest der finanzielle Erfolg gibt Liberty keinen Anlass, sich Sorgen zu machen.
2,573 Milliarden Dollar betrug der letztjährige Umsatz, 1,157 Milliarden davon wurden auf die Teams verteilt, 239 Millionen blieben Liberty selbst nach Abzug von Kosten, Steuern und Abschreibung als Gewinn. In allen Bereichen wurde ein Zuwachs verzeichnet.
Es stellen sich genügend Rennstrecken und Fernsehpartner an, um sich keine Sorgen machen zu müssen, weil die auch bereit sind, hohe Preise für die Formel 1 zu bezahlen. Unmittelbar ist es so nur von nachrangiger Bedeutung, dass TV-Zahlen schrumpfen, oder dass Deutschland sich keinen Grand Prix leisten will.
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