Fans an der Rennstrecke erlebten 2023 eine alternative Realität. Szenen aus der Startaufstellung in Silverstone, wie am Ende des Feldes ein unbekanntes elftes Team 'APXGP' Position bezieht. Eine voll ausgestattete Garage in der Boxengasse. Hollywood-Stars Brad Pitt und Damson Idris in der Startaufstellung und im Fahrerbriefing.

Die Formel 1 hat Hollywood Tür und Tor geöffnet und erhofft sich einen Blockbuster. In den letzten Jahren hat die Amerikanisierung aber mehr als nur eine alternative Realität geschaffen. Von Netflix über Miami bis Las Vegas stellen sich zwar vor allem in den USA Erfolge ein, wie sie die Formel 1 noch nie in ihrer Geschichte gesehen hat, aber mit dem Erfolg kommt auch die Frage nach Grenzen auf. Wie weit die Formel 1 noch gehen kann.

F1 needs US: Vorstoß in den goldenen Markt

Der amerikanische Siegeszug ist - so viel vorneweg - ein Schlüssel zum aktuellen Höhenflug der Formel 1 auf der ganzen Welt und Teil einer bitter nötigen Wende, eingeleitet 2017, als das US-amerikanische Unternehmen Liberty die Serie kaufte. Mit dem 21. Jahrhundert hatte sich der jahrzehntelange Herrscher Bernie Ecclestone schwergetan.

In seinen letzten Jahren war die Weltmeisterschaft vor allem eine Geldquelle für den 2005 als Eigentümer eingestiegenen Investmentfond CVC Capital. Geld durch TV-Rechte, durch Host-Gebühren der Rennstrecken und durch Sponsoren auf Autos und Werbebanden. Liberty kaufte 2017 einen Sport, der zwar eine Weltmeisterschaft, aber im Schrumpfen begriffen und nicht modern war. Eine Neuausrichtung musste sein, denn ein wenig diverses, männliches, europäisches Publikum war alles, was da war. Ein gesättigter Markt. Was zugleich hieß, dass ein riesiger Markt offenstand.

Aus Ecclestone-Fehlern gelernt: Deshalb ist der US-Markt so wichtig

Liberty ist ein Medien- und Investment-Konzern, aber nicht nur das. Man besitzt etwa die Atlanta Braves, einen amerikanischen Baseball-Club. In der Sport-Landschaft der USA kennt sich das Unternehmen aus, und die Sachlage war offensichtlich: Die Formel 1 muss nach Amerika, weil dort das Geld ist. Es reicht ein Blick auf die 50 wertvollsten Sport-Mannschaften, eine jährlich vom Forbes-Magazin zusammengestellte Liste. 2022 stammten 42 aus den USA.

Die Dallas Cowboys, ein American-Football-Team der Top-Liga NFL, führen die Liste mit acht Milliarden Dollar an. Der US-Markt ist wichtig, weil er gigantisch ist, und sich aus einem großen Pool an Konsumenten zusammensetzt, die sich Tickets und Merchandise leisten können und Sponsoren anlocken.

Nur hat die Formel 1 den amerikanischen Fan nie abgeholt. Das Debakel von 2005, als beim US-GP in Indianapolis nur sechs Autos starteten, weil alle anderen sich wegen Problemen mit ihren Michelin-Reifen nach der Einführungsrunde zurückzogen, wird gerne als symptomatisch zitiert, aber auch davor waren die USA nie der große Markt.

Die Schmach von Indy: Sinnbild für eine lange schwierige Beziehung zwischen F1 und USA, Foto: Sutton
Die Schmach von Indy: Sinnbild für eine lange schwierige Beziehung zwischen F1 und USA, Foto: Sutton

Bernie Ecclestone versuchte ihn jahrelang zu erobern, schaffte es sogar nach Las Vegas, dann nach Indianapolis zur Wiege des US-Racings. Alles ohne Erfolg, weil der Markt in Sachen Sport sein eigenes Süppchen kocht, auch im Motorsport. Mit NASCAR und IndyCar hatte er jahrelang zwei starke Serien, die allerdings die letzten 20 Jahre im Absteigen begriffen waren. Damit öffneten sie die Tür für die Formel 1.

Netflix Effect: Wie viel bringt 'Drive to Survive'?

Die neuen Eigentümer von Liberty folgten nicht den ausgetretenen Pfaden Ecclestones. In Austin hatte man einen Grand Prix, damit Fuß gefasst. Die Idee war nun, den Sport über seine Geschichten zu verkaufen. Storytelling, der Schlüssel auf dem amerikanischen Medienmarkt. Die Formel 1 wurde zuerst aus dem Internet-Mittelalter in die Social-Media-Renaissance geführt. Teams und Fahrer, davor stark eingeschränkt, sollten sich selbst, und damit den Sport, auf allen möglichen Wegen präsentieren.

Um den Zugriff für den amerikanischen Fan zu erleichtern, gingen die TV-Rechte für Peanuts an den großen Sport-Kabelsender ESPN. Auf diesem Fundament fußte der nächste Schritt: Netflix. 2018 begann die Zusammenarbeit mit dem Streaming-Giganten. Der hatte alles, was die Formel 1 brauchte, war Trendsetter, bot eine junge werberelevante Zielgruppe.

Seit 2019 sind die Netflix-Kameras ein treuer Begleiter der Formel 1, Foto: Ryan Doherty
Seit 2019 sind die Netflix-Kameras ein treuer Begleiter der Formel 1, Foto: Ryan Doherty

Die Doku-Serie 'Drive to Survive' begleitete das Fahrerlager ein Jahr mit Kameras im Hintergrund. Sie schaffte das, was eine TV-Übertragung gar nie schaffen kann, nämlich die Geschichten hinter den Rennen zu beleuchten. Die Politik, die Intrigen, die Freunde, die Feinde. 'Game of Thrones' mit schnellen Autos, so sehen es die Serienschöpfer. Die Traditionalisten im Fahrerlager waren erst skeptisch. Mercedes und Ferrari, damals WM-Gegner, verweigerten die hinterherlaufenden Kameramänner im ersten Jahr, doch der Effekt belehrte sie eines Besseren.

Wie groß er ist, lässt sich schwer bemessen, weil Streaming-Dienste nur selten Zahlen offenlegen. Die Quoten-Agentur Nielsen, die mit Netflix kooperiert, veröffentlichte 2023 Analysen, wonach die erste Staffel in der ersten Woche in den USA 288.779 Zuschauer hatte. Bis zur vierten Staffel 2022 wuchs diese Zahl auf 407.687 an. Laut einer ergänzenden Umfrage sind heute fast 50 Prozent der Zuseher unter 35 und haben mehr Geld als der durchschnittliche F1-Fan.

Die Formel 1 ist in den USA angekommen: Rekord-Zahlen im TV

Im Fahrerlager wurde schon bald nach dem ersten Jahr vom 'Netflix-Effekt' gesprochen - mehr Fans, vor allem in den USA, dank der Serie? Hier sind die Beweise eher rudimentär, weil es so schwer zu messen ist. Nielsen suggerierte anhand von Umfrage-Daten, dass die vierte Staffel in den ersten Rennen der folgenden Saison 360.000 neue US-Fans anlockte.

Fest steht: Seit dem Ende der Pandemie feiert die Formel 1 Zuschauerrekorde. 2022 meldete TV-Partner ESPN die besten Quoten der US-Geschichte, mit 1,21 Millionen Sehern im Schnitt, und vor allem mit 521.000 in der für Werbekunden wichtigen Altersgruppe der 18- bis 49-Jährigen. Damit steht der Sender in der sonst so fragmentierten TV-Landschaft, wo fast überall die Quoten sinken, richtig gut da. Liberty fühlt sich bestätigt. Inzwischen haben sogar die großen US-Sportligen die Formel 1 bemerkt, sie darf am großen Tisch sitzen. "Sie akzeptieren uns", meinte F1-CEO Stefano Domenicali zuletzt.

Boomtown: Zuerst Miami, dann Las Vegas

Mit Popularität und Publikum bewaffnet machte sich Liberty endlich daran, die passenden Rennen zu bekommen. Nicht bloß Autorennen, es musste eine US-würdige Show sein. Zuerst Miami, auch wenn ein erhoffter Stadtkurs zu einem Parkplatz-Kurs neben einem Football-Stadion wurde.

Mit Las Vegas kam 2023 das zweite, noch viel größere Show-Event. Sowohl Formel 1 als auch Teams melden riesige Nachfrage. Sponsoring hat sich in den letzten drei Jahren fast verdreifacht. Die USA sind der wichtigste Markt. Werbepartnerschaften und Business-Angebote wurden seit 2017 komplett umgekrempelt.

Siegesfeier im Football-Stadion: Miami war der erste Schritt in die US-Städte, Vegas Schritt Nummer 2, Foto: LAT Images
Siegesfeier im Football-Stadion: Miami war der erste Schritt in die US-Städte, Vegas Schritt Nummer 2, Foto: LAT Images

Auf Team-Seite organisierte etwa Mercedes in Miami den 'Miami Club' für bis zu 850 Gäste. Der 'Vegas Club' bot noch um einiges mehr. Drei Stockwerke an der Strecke, Catering, Live-DJs, Fahrer-Auftritte. Team-Partner lieben diese Events als Schaufenster für den US-Markt, und dafür, dass diese Rennen Prominenz in bisher unbekannten Ausmaßen anziehen.

In Miami schon war die Startaufstellung brechend voll mit Gästen und Stars. Las Vegas setzte mit einem Nachtrennen am berühmten Strip zwischen den Casinos - übrigens ein Traum Bernie Ecclestones, den er nie umsetzen konnte - noch eines drauf. Dafür hat Liberty selbst 500 Millionen Dollar in die Hand genommen, ein Stück Land gekauft und dort eine eigene permanente Boxenanlage errichtet.

Die Formel 1 kommt nach Las Vegas, um dort zu bleiben. Anders als bei allen anderen Rennen übernimmt Liberty auch die Vermarktung, und hofft, das als Sprungbrett zu nutzen, um auch bei anderen Rennen mehr Präsenz zu zeigen. Traditionell liegt in der Formel 1 bisher nämlich fast alles in den Händen der Veranstalter vor Ort, und Liberty kassiert nur die Austragungsgebühr ein.

Die Amerikanisierung hat den Boom auf die Spitze getrieben. Zusammen mit der Budget-Obergrenze ist die Serie kein Verlustgeschäft mehr. Die Teams sind nicht mehr bloß F1-Teams, sie sind Sport-Franchises. US-Investoren sind bei Williams, McLaren und Alpine eingestiegen. Letztere veröffentlichten zu dem Anlass einen geschätzten Wert des Teams: 900 Millionen Dollar. Die Top-Teams haben die Milliarde längst geknackt. Vor sechs Jahren undenkbar.

Reality Check: Zu viel Show, zu wenig Sport?

Wo bleibt bei all dem der Sport? Die Sichtungsrunden vor dem Rennstart wurden 2023 um zehn Minuten vorverlegt, um in Miami Fahrer-Vorstellungen auf dem Grid zu ermöglichen. Eine Regeländerung, die den Unmut der Fahrer auf sich zog und für 2024 wieder gestrichen wurde. Sergio Perez kam zu spät zur Fahrerparade, weil ihm bei Promo-Terminen davor die Zeit ausging, und erhielt dafür eine Verwarnung.

'Drive to Survive' ist längst Hort der Kontroversen geworden. Von Beginn an wurden Storys nachgeschärft, Funksprüche neu arrangiert, Interview-Antworten zusammengeschnitten, Rivalitäten gar erfunden. Es benötigte viel Überzeugung, um einen Boykott von Max Verstappen zu beenden. Schon in der ersten Staffel war er als Antagonist seines damaligen Teamkollegen Daniel Ricciardo eingeführt worden. Zwei, die eigentlich gute Freunde sind.

Eröffnungsfeier vor dem Formel-1-Wochenende in Las Vegas (USA)
Vor dem Formel-1-Wochenende in Las Vegas gab es eine eigene Eröffnungsfeier, Foto: LAT Images

Wenn der Weltmeister keine Interviews mehr gibt, macht sich das nicht gut. Die Teams sind inzwischen jedoch über Frust und Zweifel hinweg. Kleine erkennen es als Chance. Haas und Günther Steiner zeigen dort Charakter, weil sie nichts zu verlieren haben und es für sie einfacher ist, den Kameras fast uneingeschränkten Zutritt zu gewähren. Steiner ist heimlicher Star der Serie, hat inzwischen auch ein Buch veröffentlicht.

Und die Großen? Sie erkennen, typisch Formel 1, politisches Potential, und sind sich längst bewusst, wann die Kameras auf sie gerichtet sind. So geschehen 2022 in Kanada, als die Kameras einem Teamchef-Meeting beiwohnten, in der eine hitzige Konfrontation zwischen Toto Wolff, Christian Horner und Mattia Binotto stattfand. Mehrere Teamchefs sprachen es danach offen aus: Theater für die Kameras.

Bei einem Meeting, bei dem technische Regeln und sogar die Sicherheit der Fahrer auf der Tagesordnung standen. Am Ende brachte Netflix davon keine drei Minuten, zwei erinnerungswürdige Zitate wurden zum Social-Media-Hit. Das echte Meeting dauerte viel länger, aber die politische Krise, in der es eine Schlüsselrolle spielte, war viel zu komplex, um sie in einem Infotainment-Programm unterzubringen.

Formel 1 trifft auf Hollywood: Brad Pitt im Fahrer-Briefing

Das noch unbetitelte Filmprojekt, welches ab Silverstone im Fahrerlager unterwegs war, erklimmt die nächste Stufe. Liberty unterstützt. Dort sieht man 'Drive to Survive' als Erfolg, aber noch immer als Nischenthema. Der von Apple finanzierte Film ist dafür ein Projekt der Hollywood-Größen Jerry Bruckheimer (Produzent) und Joseph Kosinski (Regisseur), die erst zuletzt mit 'Top Gun: Maverick' einen Hit landeten.

Mit Brad Pitt obendrauf ist hier gigantisches Massenmarkt-Potential versammelt. Die Teams stehen ebenso dahinter. Mercedes verwandelte F2-Chassis in fahrbare Autos, die auf den ersten Blick von echten F1-Fahrzeugen nicht zu unterscheiden sind. Eine Idee, die von Ferrari-Teamchef Fred Vasseur stammt.

Die beiden alten Netflix-Verweigerer Mercedes und Ferrari stehen inzwischen ganz vorne auf der Liste der Unterstützer. "Wir alle wissen, dass das unsere Marke zeigt und die Sichtbarkeit der F1 insgesamt erhöht", bezieht Mercedes-Teamchef Toto Wolff klar Stellung. Sein Fahrer Lewis Hamilton ist sogar als Produzent dabei: "Wir haben die tolle Arbeit und den Einfluss der Netflix-Show gesehen, und mit dem hier werden wir denke ich in neue Höhen vorstoßen."

In Silverstone fuhr ein Auto die ersten zwei Kurven hinter dem Feld her, von der internationalen Bildregie sorgfältig vermieden. Brad Pitt selbst drehte bereits Runden, saß in Silverstone im Fahrerbriefing. Ein großer Teil der Fragen in der donnerstäglichen Pressekonferenz drehte sich nicht um die Formel 1, sondern um den Film. Der zog das Paddock vor der Sommerpause in seinen Bann.

APX GP: Die Formel 1 kommt nun auch auf die Kino-Leinwände, Foto: Motorsport-Magazin.com
APX GP: Die Formel 1 kommt nun auch auf die Kino-Leinwände, Foto: Motorsport-Magazin.com

In der Zwischenzeit stockt das Wachstum in den USA, zumindest nach TV-Zahlen, tatsächlich wieder. Braucht es also Hollywood zum nächsten Schub? Die Formel 1 und Liberty müssen jetzt zeigen, dass der Plan funktioniert, und dass das Publikum auch langfristig, und auch bei sportlich schwachen Jahren, an Bord bleibt.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 92 unseres Print-Magazins. Am Ende des Jahres veröffentlichen wir traditionell einen kleinen Teil unserer Print-Artikel kostenfrei auf der Website. Bestelle das Motorsport-Magazin direkt auf unserer Webseite.