Geduld ist in der Formel 1 Mangelware. Im wohl schnellsten Sport der Welt gilt das nicht nur für das Produkt auf der Strecke, sondern auch abseits der Asphaltbahnen. 'Hire and Fire' lautet das Prinzip, das Red Bull bei seiner Fahrerpolitik in den letzten Jahren gerne pflegte, vor allem im Junior-Team. Nyck de Vries ist das neueste Opfer dieser schonungslosen Personalpolitik in Faenza. Nach nur zehn Rennen hat sich sein Lebenstraum als F1-Stammfahrer wieder zerschlagen.
De Vries mit weniger Zeit als Hartley
Kurz nach dem Grand Prix in Silverstone wurde die Ablöse des Niederländers bekanntgegeben. Wechsel sind bei beiden Red-Bull-Teams während einer Saison beileibe nichts Ungewöhnliches, dennoch fällt das Kapitel de Vries etwas aus dem Raster.
Denn von seinen Vorgängern in der langen Liste der Fahrer, die im Laufe einer Saison ihren Platz räumen mussten, hatten alle mehr Zeit erhalten. Sogar ein Fahrer wie Brendon Hartley, der schon sehr früh nach seinem Einstieg als Vollzeit-Fahrer mit dem Rücken zur Wand stand, konnte ein ganzes Jahr durchhalten.
De Vries als Gasly-Ersatz
Um die Gründe zu verstehen, warum bei de Vries der Geduldsfaden noch um einiges kürzer war, muss man sich zunächst einmal vor Augen führen, wie de Vries überhaupt zu seinem Cockpit kam. Beide AlphaTauri-Fahrer waren eigentlich mit einem Vertrag für 2023 ausgestattet, doch Pierre Gasly war mangels Aufstiegschancen ins Topteam mit seiner Rolle nicht zufrieden, Alpine winkte am Horizont.
Red Bull hatte kein Interesse daran, ihn unter allen Umständen halten zu wollen. Sobald ein Nachfolger gefunden war, stand Gasly das Tor nach Enstone offen. In Ermangelung eigener Nachwuchsfahrer, die für einen F1-Aufstieg bereit gewesen wären, blickte Red Bull ursprünglich in die USA. Der Wunschkandidat für die Nachfolge des Franzosen war Colton Herta.
Doch dem Indycar-Fahrer kam das Superlizenz-System in die Quere. Herta galt (und gilt) zwar als eines der größten Talente im US-Motorsport, gleichzeitig scheiterte er aufgrund von inkonstanten Leistungen an guten Meisterschafts-Resultaten. Eine angestrebte Ausnahmeregelung kam nicht zustande. Ein Ersatz, oder besser gesagt, eine Notfall-Lösung musste her.
Nyck de Vries stand eigentlich nicht auf der Agenda, doch das richtige Timing machte ihn zu dieser Notfall-Lösung. Denn just in diesem Zeitraum, als die Superlizenz für Herta in der Schwebe hing (und schließlich abgelehnt wurde) sprang er beim Italien GP für den erkrankten Alex Albon bei Williams ein. Die Rahmenbedingungen waren perfekt: Monza war dem topspeed-starken Williams FW44 wie auf den Leib geschneidert und auf der anderen Seite der Garage stand mit Nicholas Latifi der langsamste Fahrer im Feld.
Nyck de Vries nutzte seine Chance und nur kurze Zeit später war er sich mit Dr. Helmut Marko einig. Der Deal wurde besiegelt. Bei Red Bull hat es Tradition, gerne ein bisschen ein Risiko bei der Fahrerwahl einzugehen. Intern war man sich schon damals uneinig, was den Notfall-Plan de Vries anging. Marko gab ihm seine Chance, Teamchef Christian Horner hatte von Anfang an Zweifel. "Er war kein Fan von ihm", erzählte Marko in einem Interview der niederländischen Tageszeitung "De Telegraaf".
Ricciardo wird zum Stolperstein
Wovon Horner hingegen ein Fan war, war die Rückkehr von Daniel Ricciardo. Der Australier unterzeichnete im November seinen Vertrag als Test- und Ersatzfahrer bei den Bullen. Für de Vries ursprünglich kein Risiko, denn Ricciardo schien zum damaligen Zeitpunkt - zumindest temporär - mit der F1 abgeschlossen zu haben. Ein Comeback war nur in einem Topteam denkbar.
Dass der Honey Badger innerhalb von wenigen Monaten zu einem Stolperstein werden könnte, war alles andere als absehbar. So startete de Vries in sein F1-Abenteuer: Mit mittelmäßiger Rückendeckung aus dem RB-Konzern, einem Hinterbänkler-Auto und einem GP-Sieger im Nacken.
Dafür aber mit sehr hohen Erwartungen - beinahe unerreichbar hohen für einen Rookie. Nach dem Rausschmiss des Niederländers erklärte Marko, dass man von de Vries erwartet hätte, dass er mindestens auf Augenhöhe mit Yuki Tsunoda performt. Eingewöhnungszeit: Fehlanzeige.
Zu hohe Red-Bull-Erwartungen
Um diese gewagte Zielsetzung zu verstehen, bedarf es zunächst einen Blick in die Vita von de Vries. Denn der F2-Champion von 2019 war alles andere als der klassische F1-Rookie. Schon vor seinem F2-Titel sorgte er in der Langstrecken-WM für Aufsehen. Nachdem er mit dem F2-Triumph seine Nachwuchskarriere gekrönt hatte, wanderte er in die Formel E ab, wo ihn Mercedes an Land zog. Der Rest ist Geschichte: Drei Jahre blieb er dort, gewann den WM-Titel, holte vier Siege, sorgte nebenbei aber auch für die ein oder andere Strafe, für Unfälle und Kontroversen.
Was aber für ihn sprach: Ab 2020 wurde er offiziell von Mercedes als F1-Testfahrer eingesetzt. In der Kombination aus seinem (für einen F1-Einsteiger) doch recht hohen Alter von 28 Jahren und dieser ganzen Erfahrung, ging Red Bull davon aus, dass mit de Vries ein ausgebildeter F1-Fahrer ins Team rückte. Von einem Rookie kann man nicht erwarten, gleich auf Augenhöhe mit dem Stammfahrer zu sein.
Von einem Routinier mit tausenden Trainings- und Testkilometern, der älter ist als der amtierende Weltmeister und der sich schon in einem äußerst hochkarätigen Feld wie jenem der Formel E durchgesetzt hat, jedoch eher. "In meinen Augen kann man ihn nicht mit einem jungen Rookie vergleichen", betonte auch Marko.
Zu Unrecht, denn an diesen Erwartungen scheiterte de Vries vom ersten Rennen an. Tsunoda erwischte einen guten Saisonstart und konnte abgesehen von einem leichten Mauerkontakt in Baku seine Fehleranfälligkeit der Vorjahre gut abstellen. De Vries hingegen war zu diesem Zeitpunkt schon angezählt: An den ersten drei Rennwochenenden verlor er im Durchschnitt fast eine halbe Sekunde auf Tsunoda im Qualifying.
De Vries ohne Fortschritte
Ein Schlüsselpunkt der Saison ereignete sich in Baku, als de Vries gleich zwei Unfälle zu verzeichnen hatte. "Da dachte ich, er performt besser, aber dann ist er wieder gecrasht", ärgerte sich Marko. Von da an stand de Vries am Abgrund und seine letzte Rückendeckung bröckelte. Im Qualifying erlebte er vereinzelt Erfolgserlebnisse in Form von teaminternen Siegen, etwa in Spanien oder Miami, dazu kam ein beachtliches Monaco-Wochenende.
Aber das waren die Ausnahmen. In den meisten Qualifying-Sessions gab Tsunoda den Ton an, durchschnittlich ließ der ehemalige Mercedes-Testfahrer zwar nur knapp über zwei Zehntel liegen, diese Rechnung wird aber durch das Regen-Qualifying in Spanien etwas geschönt, als er sich bei wechselhaften Bedingungen deutlich vor Tsunoda einreihte.
Die größten Schwächen offenbarte er sowieso meist im Rennen. Im Longrun strauchelte de Vries häufig mit dem Reifenmanagement. Tsunoda befand sich Woche für Woche im unterlegenen AT04 im Kampf um das letzte Pünktchen, bei de Vries wurde es nie wirklich knapp.
"Er war eigentlich immer drei Zehntel langsamer - wir haben keinen Fortschritt erkannt", bilanzierte ein zunehmend frustrierter Marko. "Er hat leider nicht eine einzige Super-Runde hingelegt, die uns erstaunt hat." Mit einem Daniel Ricciardo, der langsam wieder Freude am Rennfahren fand, in der Hinterhand, stellte sich in den frühen Sommermonaten weniger die Frage ob, sondern vielmehr wann de Vries seinen Sitz loswerden würde.
In Silverstone gingen Gerüchte um, dass nach dem Reifentest die Tage von de Vries im Red-Bull-Lager gezählt sein würden. Der telefonische Rauswurf erfolgte sogar noch vor dem Ende des Testtages. Red Bull wird sich wohl immer den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass man sich von der eigenen Ungeduld treiben ließ und de Vries nicht ausreichend Zeit gab.
Es ist immer eine Frage der Sichtweise: Für einen Rookie war de Vries passabel, wenn auch nicht überzeugend stark. Doch Red Bull befand sich nicht auf der Suche nach einem Rookie, sondern nach einem verlässlichen Rückhalt auf Tsunoda-Niveau und das war de Vries nie.
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