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759 Punkte, 17 Siege, 28 Podien, zwei gewonnene Sprints, Fahrer- und Konstrukteurs-Weltmeister: Nach acht Jahren Mercedes-Dominanz heißt es: österreichische statt deutscher Hymne, Christian Horner als erfolgreichster Teamchef im Paddock und Max Verstappen statt Lewis Hamilton als Weltmeister. Ferrari scheiterte an Red Bull, Serienweltmeister Mercedes hatte 2022 nichts im Titelkampf mitzureden.

Der tiefe Fall des achtmaligen Weltmeisters. "Die Mercedes-Seitenkästen habe ich definitiv nicht kommen sehen", meinte Adrian Newey. Ein Schlupfloch in den Regularien, eigentlich die Spezialität von Red Bulls Technik-Guru. Entweder ein Geniestreich oder ein Griff ins Klo. Ein paar Rennen später wusste der ganze Formel-1-Paddock die Antwort und der König Mercedes war endgültig gestürzt.

Die perfekte Formel-1-Saison

Eine perfekte Saison für Red Bull. Eigentlich. Abzüglich der Budget-Cap-Kontroverse, dem Teamorder-Drama in Brasilien und Sergio Perez' verpasstem Vizeweltmeistertitel in Abu Dhabi. Noch nie gelang es dem österreichischem Rennstall die Plätze 1 und 2 in der Fahrer-WM zu holen. Ein verpasstes Ziel für das Team aus Milton Keynes, am Ende mussten sie sich zumindest in dieser Hinsicht Ferrari und Charles Leclerc geschlagen geben. "Aber das ist Jammern auf höchstem Niveau", meint Dr. Helmut Marko.

2022 war die dominanteste Saison in der Geschichte des Energy Drink-Herstellers, Foto: LAT Images
2022 war die dominanteste Saison in der Geschichte des Energy Drink-Herstellers, Foto: LAT Images

"Wir haben alle unsere eigenen Rekorde gebrochen, und einige Formel-1-Rekorde", erzählt Christian Horner von der besten Saison der Geschichte für Red Bull. "Wir hatten einige Auf und Abs, aber insgesamt war es wirklich ein hervorragendes Jahr für das Team." 77 Prozent aller Rennen hat Red Bull 2022 gewonnen, selbst im dominanten Jahr 2013 waren es "nur" 68 Prozent.

Eine Kombination von Höchstleistungen in allen Teilbereichen. Auch Max Verstappen und Sergio Perez lieferten die ergebnismäßig besten Saisons ihrer Formel-1-Karriere ab. "Als Team haben wir die neuen Regeln genau richtig hinbekommen. Obwohl sich kein anderes Team so spät wie wir darauf fokussiert hat." Obligatorisches Erinnern an Abu Dhabi 2021, abgehakt.

Der RB18 gilt als eines der besten Autos in der noch jungen Teamgeschichte. "Wir sind nach einem Doppelausfall und einem Ferrari-Doppelsieg zurückgekommen. Haben unser Ziel nie aus den Augen verloren, Druck auf Ferrari gemacht und sie nie mehr durchatmen lassen", erklärt Christian Horner stolz die Taktik von Red Bull. Aus den angekündigten zehn nächsten gewonnenen Rennen für Ferrari (O-Ton Mattia Binotto) wurde nichts, nach Österreich gewann die Scuderia keinen einzigen Grand Prix mehr. "Wir haben das Auto kontinuierlich weiterentwickelt und Gewicht abgebaut."

"Am Ende kommt es auf die Menschen an. Wir haben eine unglaubliche Stärke und Tiefe in jeder Abteilung von Red Bull", lobt Christian Horner. "Jeder ging den Extrayard." Ein gutes Momentum, voller Fokus und Entschlossenheit gegen eine hervorragende Konkurrenz. "Und das nach acht Jahren in der Wildnis", erinnert der Teamchef an die harten Jahre von Red Bull.

Red Bull hat sich kontinuierlich verbessert und sich nach drei gewonnenen Titeln in zwei Jahren die Spitze der Königsklasse zurückerobert. Einher geht der Hass der anderen Teams: "Je höher du aufsteigst, desto schärfer das Messer", musste Christian Horner schon ein neues Sprichwort erfinden, um die Erlebnisse des Teams 2022 am besten zu beschreiben. "Der schnellste Weg sich im Paddock unbeliebt zu machen, ist zu gewinnen. Wir produzieren Energydrinks und kämpfen gegen OEMs und historische Automarken. Natürlich gefällt das manchen nicht."

Andere Formel-1-Dominanzen im Vergleich

In der jüngeren Historie des Sportes gab es immer wieder Phasen der Dominanz. Michael Schumacher bei Ferrari (1999-04), Sebastian Vettel bei Red Bull (2010-14), Lewis Hamilton mit Mercedes (2014-20). Zuvor Alain Prost bei Williams (1992-94), McLaren-Honda mit Ayrton Senna und Alain Prost (1988-91) oder Niki Lauda bei Ferrari (1975-77). Was sie alle gemeinsam haben: Ein gut gebautes Auto, einen herausragenden Fahrer und ein kompetentes Team. "Die Ankunft von Verstappen war der erste Schritt. Der zweite war der Honda-Motor. Dann ging es richtig vorwärts für uns", verrät Dr. Helmut Marko.

Von 2014-2020 dominierte Mercedes das Feld, in den ersten Jahren war das vor allem dem starken Motor aus Brixworth geschuldet, Foto: Sutton
Von 2014-2020 dominierte Mercedes das Feld, in den ersten Jahren war das vor allem dem starken Motor aus Brixworth geschuldet, Foto: Sutton

Die Mercedes-Dominanz war zumindest in den ersten vier Jahren auf eine überlegene Motorleistung zurückzuführen", erklärt der Grazer. Der Motor der Silberpfeile war seinem Ferrari-Pendent überlegen, wie auch dem Renault-Motor von Red Bull. Nicht nur in der Performance, auch bei der Zuverlässigkeit brach der Motor aus Viry-Chatillon die Herzen der Fans. "Jetzt ist eine drastische Reglement-Änderung gekommen", so Marko. Diese hat die Kräfteverhältnisse erneut aufgemischt.

2023 werden nur geringfügig neue Regeln eingeführt. Die berühmte TD39 erhöht den Unterbodenrand um 15 Millimeter, sowie die Minimalhöhe des Diffusorkanals und schreibt steifere Diffusorkanten vor. "Schwer zu beurteilen, aber das wird nicht gravierend sein", schätzt der Doktor. Vorhersehbar ist ein näheres Zusammenrücken des Formel-1-Feldes, ein Naturell jeder neuen Fahrzeuggeneration. "Das ist so üblich, du kopierst, wenn du hinten bist."

Laut Toto Wolff wird eine Dominanz wie einst von seinem Team in der Turbo-Hybrid-Ära unerreichbar bleiben. Acht Titel in Folge als Rekord für die Ewigkeit. Sein österreichischer Landsmann Dr. Helmut Marko widerspricht der gewagten These: "Mit einem Verstappen als Fahrer sind wir in einer guten Position."

Ein guter Fahrer, der erste Baustein im "Wie gelingt eine Formel-1-Dominanz"-Baukasten. Auch wichtig: Kontinuität im Team. "Das ist bei uns der Fall", bestätigt Marko. "Wir haben bei unseren vier Weltmeistertiteln hintereinander ein Top-Team gehabt." Das Problem war in den Jahren der Wildnis zwischen den Titeln ein anderes: Motivation. "Die Leute sehen, dass du einen Motor hast, mit dem du nicht gewinnen kannst. Das ist dann schwierig." Liebe Grüße gehen hinaus an Renault und Cyril Abiteboul.

Schnee von gestern. "Wir haben ein sehr solides und leidenschaftliches Team, für das Gewinnen die Maxime schlechthin ist", meint Dr. Helmut Marko. Und den Sturz des vorherigen Alleinherrschers Mercedes. Für das Team aus Brackley und Brixworth lief die Saison gar nicht nach Plan. "Wir mussten diesen Schmerz auch einmal durchleben", hat Christian Horner etwas Mitgefühl mit dem Erzrivalen. "2013 haben wir die Saison mit einer Siegesserie beendet und 2014 waren wir nirgendwo."

"Wir haben genau die Gründe analysiert, warum dominante Teams abstürzen", berichtet Toto Wolff. Der Mercedes-Teamchef klärt auf: "Änderung des Reglements, Personal geht weg, die Reifen haben sich fundamental geändert." Mitleid lehnt Mercedes trotzdem dankend ab. "Wir sind noch immer dieselbe Organisation, sind noch immer zu denselben Höchstleistungen imstande und haben die nötigen finanziellen Mittel. Wir müssen uns nur darauf zurückberufen und Fehler wie dieses Jahr vermeiden."

Das neue Reglement war eine unerwartete Achillesferse von Mercedes. "Alle anderen Pfeiler unseres Erfolges sind noch da", wiederholt Toto Wolff mantraartig. "Wir haben acht Mal in Folge die WM gewonnen, mehr als 100 Rennen." 2022 sei für Mercedes ein schwieriges, aber ein notwendiges Jahr gewesen. Von Wolke 7 zurück in der Realität. Trotzdem: Einmal gestürzt erholen sich Dynastien nur langsam. Red Bull wartete sieben Jahre auf den erneuten Titelgewinn, Ferrari seit 2007.

Die letzten Titel aus Maranello

"Man kann sich kaum vorstellen, wie gut man sein muss, um in der Weltmeisterschaft dauerhaft konkurrenzfähig zu sein", berichtet Jean Todt von seinen eigenen Erfahrungen als Ferrari-Teamchef und dreizehn gewonnenen WM-Titeln. "Immer mit dem Rest der Welt im Rücken, die versucht, das Ruder zu übernehmen." Wie die Ferrari-Dynastie der frühen 2000er. Michael Schumacher hinter dem Lenkrad, Jean Todt als Teamchef und sechs gewonnenen Konstrukteurs- sowie fünf Fahrertitel. Nur Mika Häkkinen zerstörte 1999 die perfekte Dominanz. 72 Siege konnte allein die Paarung Schumacher und Ferrari einfahren. Dazu Bridgestone als exklusiver Reifenlieferant und der Vorteil einer eigenen Teststrecke direkt vor der Haustür.

Schumacher und Todt waren das Dream-Team bei Ferrari, zusammen mit Ferrari konnten sie 5 Weltmeisterschaften gewinnen, Foto: Sutton
Schumacher und Todt waren das Dream-Team bei Ferrari, zusammen mit Ferrari konnten sie 5 Weltmeisterschaften gewinnen, Foto: Sutton

Kimi Räikkönen, mittlerweile schon selbst in der Formel-1-Pension, war der letzte Weltmeister der Scuderia. Ein Jahr danach konnte sich das Team aus Maranello noch den Konstrukteurstitel sichern, dann war endgültig Schluss. Ferrari hatte ihre gesamte etablierte Führungsetage und ihren Top-Fahrer verloren. Der Worst Case: Schumacher weg, Jean Todt weg. Ross Brawn als Strategie-Genie weg. Rory Byrne nicht mehr Chefdesigner. Mit den Leuten schwanden auch die Chancen auf WM-Titel. Dazu kam 2005 das neue Reifen-Reglement. "Mein Gott, musste das sein", würde Sebastian Vettel vielleicht kommentieren.

Personalwechsel Schuld an Dominanz-Untergang?

Ein Muster wird erkennbar: Große Fahrer- und Personalwechsel sind Mitschuld am Untergang von Dynastien. Sind neue Dominanzen in Zukunft mehr oder weniger wahrscheinlich? Red Bull hat als Konstrukteursweltmeister und aufgrund ihrer Budget-Cap-Strafe 12 Prozent weniger Aero-Testzeit als Ferrari. Andererseits können Teams aufgrund der Kostenobergrenze nicht wahllos Geld in der Entwicklung verbrennen, um aufzuholen. Die Scuderia beendete mit einem Unterboden-Update in Japan fünf Rennen vor Schluss die Entwicklung des F1-75. Voller Fokus auf 2023 und einen neuen Versuch, den WM-Titel zurück nach Maranello zu holen.

Red Bull bleiben zwei große Vorteile: Einer heißt Max Verstappen und ist mit 25 Jahren Doppelweltmeister. Der zweite Faktor lautet Kontinuität. Nicht nur bei den Fahrern (Verstappen Vertrag bis 2028, Perez bis 2024). CTO und Design-Genie Adrian Newey, technischer Direktor Pierre Wache, Chefdesigner Craig Skinner, Chefingenieur Paul Monaghan und Head of Performance Engineering Ben Waterhouse bleiben in Milton Keynes. Hannah Schmitz und Will Courtenay lieferten nach wie vor brillante Rennstrategien.

Der Abgang von Chef-Aerodynamiker Dan Fallows nach 16 Jahren zu Aston Martin brachte Red Bull auch nicht aus der Erfolgsspur, Nachfolger Enrico Balbo ließ nichts an- oder abbrennen. Bleibt noch der Tod von Dietrich Mateschitz: Am 22. Oktober verstarb der Red-Bull-Gründer. Dr. Helmut Marko erwartet dadurch keine großen Änderungen, die neue Führung will das Formel-1-Team wie gehabt weiterführen. "So wie jetzt, mit einer relativ starken Unabhängigkeit." Selbst ohne das Energy-Drink-Imperium als Mutter würde das Team noch gesund dastehen und könnte mit den freiwerdenden Werbeflächen sogar noch mehr verdienen. Budget-Cap und Erfolgen sei Dank.

Honda und Red Bull konnten den Giganten aus Brixworth überholen - und müssen das Level jetzt halten, Foto: Red Bull Content Pool - Mark Thompson
Honda und Red Bull konnten den Giganten aus Brixworth überholen - und müssen das Level jetzt halten, Foto: Red Bull Content Pool - Mark Thompson

Bleibt noch die Gretchenfrage nach dem Motor. Eine Fahrerpaarung und die Aerodynamik eines Autos können noch so gut sein: Unzuverlässigkeit und/oder zu wenig Leistung des Antriebes bringt Dynastien zu Fall und neue zum Aufstieg. Beispiel: In der Turbo-Hybrid-Ära kam niemand an die Mannen und Motoren aus Brixworth heran, auch ohne Partymodus. 102 von 138 gewonnenen Rennen in sieben Jahren sprechen für sich. Quod erat demonstrantum. Seit 2018 kommen Red Bull und Honda immer näher und überholten Mercedes. Und sind mit einem Honda-Vertrag (bis mindestens 2025) auf der sicheren Seite.

"Natürlich werden wir wieder konkurrenzfähig sein", orakelt Paul Monaghan. "Die Frage ist: Können wir das sehr hohe Niveau dieser Saison halten?" Red Bulls Chefingenieur ist zuversichtlich, die besten Leute wähnt der Brite in den eigenen Reihen. Mit Ben Hodgkinson und Phil Prew hat Red Bull ein paar Mitarbeiter der silbernen Erfolgsdynastie integriert, die zu den Fabelwerten aus der Hybrid-Ära beigetragen haben: Mit 74 Prozent aller Rennsiege, 80 Prozent aller Pole Positions und sieben gewonnenen Fahrer- und Konstrukteurstiteln in den Jahren 2014-2020 war dies die bislang dominanteste aller Dominanzen. Aber: Red Bull verleiht bekanntlich Flügel.

Wertung Siegesquote

TeamSiegePole-PositionsPodienDoppelsiege
Ferrari (1999-2004)62%53%66%25%
Red Bull (2010-2013) 54%6855%16%
Mercedes (2014-2020) 74%80%74%39%
Red Bull (2022)77%36%63%23%
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