Der Formel-1-Sprint in Brasilien sorgte für eine faustdicke Überraschung. Eigentlich rechneten alle mit einem Schaulaufen von Max Verstappen, vor allem nachdem er in Runde drei die Führung von Kevin Magnussen übernahm. Doch entgegen aller Erwartungen wurde der Weltmeister von George Russell gestellt.

Der Red-Bull-Pilot verlor nicht nur die erste Position gegen den späteren Sprint-Sieger, sondern wurde auch von Carlos Sainz und Lewis Hamilton bis auf die vierte Position durchgereicht. Mercedes ist nach dem ersten Formel-1-Erfolg von Russell nicht nur der große Favorit auf den "echten" Rennsieg in Brasilien, sondern startet auch geschlossen aus Reihe eins - ein Novum in der F1-Saison 2022.

George Russell verspricht: Es gibt keine Stallorder

Die Silberpfeile haben also den großen strategischen Vorteil, dass sie zwei Boliden in der Verlosung haben und diese sogar ganz vorne. "Vielleicht können wir die Strategie splitten, um auf den Sieg zu gehen", schlug Polesitter George Russell vor. Doch daraus ergibt sich dann auch schon das große Luxusproblem: Wer kommt zum Handkuss der besseren Taktik?

Denn eine gesplittete Strategie bedeutet im Umkehrschluss auch immer eine Bevorzugung eines Fahrers, der die mathematisch bessere strategische Variante zugewiesen bekommt. Möglicherweise ergibt sich sogar die Situation, in der die Silbernen einen Piloten opfern müssen, um den Sieg abzusichern. Von derartigen Stallregien will Russell aber nichts wissen: "Es wird definitiv keine Teamorder geben. Aber zwischen uns beiden werden wir strategisch vorgehen, um den Sieg für das Team einzufahren."

Die Ausgangslage zwischen den beiden Mercedes-Piloten ist allerdings durchaus brisant. Denn auf der einen Seite wird George Russell als Polesetter sicher nicht seinen ersten Grand-Prix-Sieg in der Königsklasse für das Team opfern wollen. Auf der anderen Seite blickt Lewis Hamilton als Altmeister im Hause Mercedes auf eine stolze Serie von 15 Formel-1-Jahren mit mindestens einem Grand-Prix-Sieg pro Saison zurück und wird nur ungern den Wasserträger für seinen jüngeren Teamkollegen spielen.

Russell versuchte in der Pressekonferenz nach dem Qualifying der Frage nach einer Bevorzugung im Team geschickt auszuweichen: "Wir wissen wahrscheinlich nicht, was die richtige Strategie sein wird. Ich bin sicher, dass wir morgen die Strategien aufteilen werden, um alle Optionen abzudecken."

Red Bull mit dem Reifenvorteil: Hat Verstappen den Sprint geopfert?

Red Bull begab sich nach der Niederlage im Sprint in die Außenseiter-Rolle gegenüber Mercedes. "Im Moment sehen sie unschlagbar aus", resümierte Max Verstappen nach dem Sprint. Das Hauptproblem bei den Bullen ist ausgerechnet der Reifenverschleiß. Im bisherigen Saisonverlauf war das eine der Stärken des RB18 gegenüber Ferrari.

Doch in Brasilien knickte der Medium-Reifen des Niederländers sogar schneller ein als die Softs der Konkurrenz, wie Teamchef Christian Horner behauptete. Red Bull hat sich aber durch den Sprint eine Möglichkeit offengelassen. Denn dadurch, dass man beim Kurzrennen am Samstag aus der Reihe tanzte, sparte sich Verstappen für das Rennen einen zweiten Satz Soft auf. Die Konkurrenz verwendete diesen Satz bereits im Sprint und zumindest dort schien der rote Pneus die bessere Performance abzuliefern.

Für den Grand Prix heute werden niedrigere Temperaturen erwartet als für das Sprintrennen. Die Bedingungen sind damit noch eine Spur idealer für den Soft-Reifen, der in einem Fenster von 90 bis 105 Grad Celsius Reifentemperatur funktioniert, der Medium benötigt etwa 15 Grad mehr. Bei Red Bull will man aufgrund des Reifenabbaus von diesem Vorteil nicht viel wissen. "Wenn du so viel mehr Reifenabbau als jedes andere Team hast, ist es völlig egal, auf welchem Reifen du bist", sagte Verstappen.

Russell konnte Verstappen im Sprint hinter sich lassen, Foto: LAT Images
Russell konnte Verstappen im Sprint hinter sich lassen, Foto: LAT Images

Die Teamführung versprüht dennoch etwas Optimismus, was das Rennen angeht. Horner geht davon aus, dass Mercedes immer noch in Schlagdistanz ist. "Mercedes wird schnell sein und ein taktisches Rennen fahren. Wir haben zwei Red Bull gegen zwei Mercedes, und Ferrari können wir auch nicht abschreiben", prognostizierte der Brite.

Ferrari: Nur Schadensbegrenzung?

Für die Scuderia gilt im Rennen dieselbe Devise wie noch im Sprint: Eine Aufholjagd muss her. Charles Leclerc startet von der fünften Position und ist damit in Schlagdistanz zu Mercedes und Red Bull. Carlos Sainz hingegen geht nach seiner Motorstrafe nur von Rang 7 ins vorletzte Formel-1-Rennen der Saison.

Am Samstag sah vor allem bei Sainz die Pace des F1-75 ziemlich stark aus und das auch im Longrun - normalerweise die Achillesferse der Roten. Die Erwartungen sind dennoch durchwachsen. "Gemeinsam mit Charles müssen wir sehen, wie wir zumindest näher an die Mercedes herankommen, damit wir so wenig Punkte wie möglich verlieren. Das ist das Ziel", so Sainz.

Leclerc hingegen hofft, dass er auf den ersten Metern einen Stich setzten kann. "Nur dann können wir die Leute vor uns herausfordern", schlussfolgert der Monegasse. Denn die Pace zwischen den drei Topteams sei seiner Einschätzung nach auf einem ähnlichen Niveau. "Vorbeizukommen wird (später im Rennen) also schwierig", so Leclerc.