Der Mercedes W13 des Jahrgangs 2022 gab nicht nur den Fans, sondern auch dem Team selbst immer wieder Rätsel auf. Der Bolide, der optisch vor allem durch seine praktisch nicht vorhandenen Seitenkästen besticht, zeigte sich auf der Strecke zumeist als launige und unberechenbare Diva. Manchmal überrascht Mercedes mit starker Pace, bei anderen Aufritten wiederum fallen die Silberpfeile, zumindest im Qualifying, sogar in das Mittelfeld zurück.

Für den Großteil der bisherigen Saison stocherten die Ingenieure in Brackley im Dunkeln, was das eigene Auto anging. Nur ein Trend lässt sich eigentlich bei jedem Rennen erkennen: Der Mercedes geht im Rennen deutlich besser als auf eine Runde. Teamchef Toto Wolff kann der Qualifying-Schwäche seiner Mannschaft dennoch etwas Positives abgewinnen, denn das Team kann diese Eigenschaft des Autos mittlerweile immerhin nachvollziehen: "Die gute Nachricht ist, dass auch unsere Simulationen sagen, dass wir im Qualifying nicht gut sein werden. Wir können da also einen Haken dahinter machen."

Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung, auch bei Formel-1-Autos. Nicht nur die generellen Eigenschaften des W13, sondern auch den Einfluss der Strecke auf die Leistungsfähigkeit des Autos kann Mercedes mittlerweile deutlich besser vorhersagen: "Unsere Simulationen stimmen mich positiv. Sie haben gesagt, dass wir in Monza nicht gut sein würden, genauso wie wir es vor Spa wussten. Unsere Erwartungen an Zandvoort waren ebenfalls recht akkurat, wenn wir uns ansehen, wo wir gelandet sind." Während die Silberpfeile auf den Highspeed-Strecken in Italien und Belgien Ferrari und vor allem Red Bull hinterherfuhren, kämpfte Lewis Hamilton in Zandvoort mit einer alternativen Strategie vielleicht sogar um den Sieg, bevor eine Safety-Car-Phase die Pläne des Mercedes-Kommandostandes zunichtemachte.

Wolff: Monatelange Arbeit und dennoch kein voller Durchblick bei Mercedes

Solch akkurate Prognosen und ein Auto in Siegreichweite wären für die Silberpfeile zu Saisonbeginn undenkbar gewesen. Toto Wolff gestand, wie lange der eigene Bolide für die Serienweltmeister der letzten Jahre ein Mysterium blieb: "Sicherlich fehlte es uns an Werkzeugen, Simulationen und dem Verständnis der Probleme des Autos, als es entwickelt wurde. Wir konnten es nicht so fahren, wie wir es aerodynamisch gewollt hatten. Mechanisch war es nie im optimalen Fenster. Wir brauchten Monate, um einige der Schritte, die wir gemacht hatten, wieder rückgängig zu machen."

Im Qualifying von Monza verhielt sich der Mercedes einmal mehr seltsam, Foto: LAT Images
Im Qualifying von Monza verhielt sich der Mercedes einmal mehr seltsam, Foto: LAT Images

Dennoch hat Mercedes die Baustelle W13 noch nicht komplett geschlossen. Das Auto verhält sich nicht nur von Strecke zu Strecke anders, sondern auch von Session zu Session. Toto Wolff nennt ein Beispiel aus dem königlichen Park von Monza: "George [Russell, Anm. d. Red.] war sehr positiv über seinen ersten Run in Q1 und meinte das Auto sei großartig gewesen. Danach war es das aber nicht mehr." Tatsächlich konnte Russell seine Zeit aus Q1 in den beiden folgenden Qualifyingsegmenten kaum verbessern, während anderen Piloten Steigerungen von mehreren Zehnteln gelangen.

In Zandvoort durfte sich Toto Wolff über die Leistung seiner Mannschaft freuen, Foto: LAT Images
In Zandvoort durfte sich Toto Wolff über die Leistung seiner Mannschaft freuen, Foto: LAT Images

Nächstjähriger Mercedes: Zeit drängt, höchste Präzision gefragt

"Wir haben den großen konzeptionellen Überblick, aber die kleinen Schwankungen während des Wochenendes können wir nicht erklären", gab Wolff zu. Daher will der Österreicher trotz aller Fortschritte nicht in Euphorie verfallen: "Es ist nicht so, als hätten wir den heiligen Gral gefunden, und wir verstehen alles und nächstes Jahr fegen wir alle weg."

Mercedes befindet sich in einer schwierigen Lage. Dass das eigene Auto nun zu einem gewissen Grad verstanden ist, hilft sicherlich, doch es drängt die Zeit für die Entwicklung des nächstjährigen Wagens: "Wir sind in der entscheidenden Phase. Die nächsten ein bis zwei Monate brauchen wir einen hohen Grad an Präzision, wenn wir verstehen wollen, was für das nächste Jahr getan werden muss." Dabei muss Mercedes sich nicht nur mit dem eigenen Fahrzeugkonzept beschäftigen, sondern auch mit neuen Regularien am Unterboden. Hier wird jedoch im Fahrerlager gemunkelt, dass dessen Anhebung um 15 Millimeter den Silberpfeilen durchaus entgegenkommen könnte.