Harte Reifen, geringer Verschleiß, hoher Boxen-Zeitverlust - Monza gehört zu den klassischen Einstopp-Rennen der heutigen Formel 1. Und doch entschied Ferrari als einziges Team im Italien-GP bei Charles Leclerc auf eine Zweistopp. Nachdem Leclerc seinen zweiten Stopp erledigt hatte, war er nicht nur die anfangs noch gehaltene Führung los, sondern lag 19,744 Sekunden hinter einem uneinholbaren Max Verstappen.

Unabhängig vom Ärger um das späte Safety Car war Leclerc also im Rennen chancenlos. Was dachte sich Ferrari dabei? War es der nächste Strategie-Bock, mit dem die Scuderia Leclerc um die Führung brachte? Es ist eine schwierige Sache. Tatsächlich ist das Team in seiner Gesamtheit daran schuld, dass Leclerc seine Monza-Pole nicht in einen Sieg ummünzen konnte. Aber mit der Strategie hat das nichts zu tun, wie die Renn-Analyse von Motorsport-Magazin funktioniert.

Ferrari verteidigt Monza-Strategie - mit Eingeständnis

Wie so oft trat Ferrari-Teamchef Mattia Binotto am Sonntagabend vor die Medien und musste die Entscheidungen seines Strategie-Trupps rechtfertigen. Seine Rechtfertigung gegenüber Motorsport-Magazin ist zugleich ein Geständnis der anderen Art: "Ich glaube, Max war heute in Summe schneller und unschlagbar."

Ferrari brauchte am Sonntag in Monza nur wenige Runden, um die bittere Wahrheit zu erkennen. Der Red Bull war wieder das schnellere Auto. Verstappen hatte vier Runden gebraucht, um sich von seinem siebten Startplatz auf den zweiten Rang hinter Leclerc vorzuarbeiten, und ab Runde sieben begann er Druck auszuüben. In Runde zehn war er bereits bis auf 1,2 Sekunden ans Heck des Ferrari herangekommen und damit kurz vor dem DRS-Fenster.

"Wir wussten, dass Charles gute Pace hatte, aber bei Max war die Abnutzung weniger stark und er war schon schneller", gesteht Binotto. "Wenn wir auf der gleichen Strategie wie er geblieben wären, dann hätte er uns einfach an irgendeinem Punkt überholt."

Verstappen beim Virtual Safety Car schon im Vorteil

Als in Runde zwölf ein ausrollender Sebastian Vettel ein kurzes Virtuelles Safety Car auslöste, war Ferraris Strategie-Abteilung sich der Niederlage schon bewusst. "Unsere einzige Chance war eine andere Strategie", unterstreicht Binotto. Auf der anderen Seite wusste Red Bull um den eigenen Vorteil. "Die Reifen waren in gutem Zustand, eine Einstopp für uns absolut möglich", bestätigt Red-Bull-Teamchef Christian Horner.

Selbst auf dem zweiten Platz hatte Red Bull dank des Pace-Vorteils die Kontrolle über das Rennen. Die Strategen waren unter dem VSC bereit, ihren Fahrer reinzuholen und mit einer Zweistopp-Strategie von der Leine zu lassen, sollte Leclerc nicht stoppen. "Sie haben mir gesagt, mach das Gegenteil von Charles", bestätigt Verstappen. Die Umstände garantierten also praktisch seinen Sieg: Egal ob Leclerc stoppte oder nicht, Verstappen hätte freie Fahrt gehabt und so seinen signifikanten Pace-Vorteil ausspielen können.

Ferraris Boxenstopp-Entscheidungen waren keine Fehler, Foto: LAT Images
Ferraris Boxenstopp-Entscheidungen waren keine Fehler, Foto: LAT Images

Dass der VSC-Stopp für Leclerc schief ging, da die Rennleitung das Rennen mitten im Stopp wieder freigab, mag Ferrari vielleicht drei Sekunden gekostet haben und war Pech, hatte aber auf die Rennentscheidung keinen Einfluss.

Verstappen beweist: Red-Bull-Pace in Monza zu gut

Kaum war Leclerc weg, bewies Verstappen auf seinen alten Soft-Startreifen, warum die Ferrari-Einschätzung richtig war. Seine 24 Eröffnungs-Runden waren in Summe gigantisch. "Das ist noch ein Geheimnis von Max, der ist schnell beim Schonen", meint Motorsportchef Dr. Helmut Marko im ORF. "Wenn der Ingenieur sagt, er braucht diese Temperatur im Reifen, dann macht er das, aber das Tempo ändert sich nicht."

Es ist der letzte Schritt, den Verstappen in der Formel 1 noch machen konnte. Das, was ihm verglichen mit Lewis Hamilton in den letzten Jahren noch fehlte. 2022 hinterlässt er den Eindruck eines kompletten und perfekten Fahrers.

Als Leclerc auf frischen Medium-Reifen wieder zurück auf die Strecke kam, hätte er eigentlich mit dem Reifen-Vorteil schnell wieder zu Verstappen aufholen müssen. Die Idee hinter einer Zweistopp ist, sich das Reifen-Management zu sparen. Aber in den elf Runden bis zum Verstappen-Stopp holte Leclerc nur magere 3,899 Sekunden auf, im Schnitt 0,354 Sekunden pro Runde.

Verstappen kam in Runde 25 zum einzigen geplanten Stopp und zog neue Medium-Reifen auf. Obwohl er Management betreiben musste, holte er in den darauffolgenden sechs Runden gleich 4,750 Sekunden - 0,792 im Schnitt - auf Leclerc auf. Spätestens da waren die letzten Zweifel an seinem Sieg ausgeräumt.

"Vielleicht hätten wir versuchen können, das Rennen auf dem Medium zu beenden, aber da gab es keine Chance, weil Max mit diesen neuen Reifen viel zu nah war", meint Leclerc nach dem Rennen. "Wir wussten, dass wir stoppen mussten, bevor er uns einholt." Dass danach Leclercs durchschnittlicher Zeitgewinn selbst im dritten Stint mit neuen Soft-Reifen gegen Verstappens alte Medium nur bei 0,313 Sekunden lag, sprach Bände.

"Es ist nicht nur schwierig, sondern unmöglich, das schnellste Auto zu schlagen", meint Binotto in Richtung Verstappen. Seine Verteidigung der Strategie ist gerechtfertigt. Red Bull hätte Verstappen immer freie Fahrt beschert, um den Pace-Vorteil zu nutzen, egal was Ferrari getan hätte. Leclerc hätten auch die in Monza sehr mäßigen Hard-Reifen nichts geholfen. Mit der Zweistopp ließ Ferrari zumindest eine kleine Tür offen: "Du weißt nie, was später passiert, wie die Abnutzung bei Max auf einem längeren Stint aussieht."

Ferraris Reifen-Probleme machen weiter Sorgen

Die bittere Wahrheit ist, dass der Ferrari F1-75 im Renn-Trimm seit Ungarn nicht gut genug ist. "Nicht im Qualifying, im Qualifying ist die Pace noch immer gut, die reine Performance ist da", sagt Binotto. "Aber im Rennen leiden wir unter dem Reifenverschleiß. Diesbezüglich ist Red Bull das bessere Auto. Sie konnten ihr Auto zu einer besseren Balance hin entwickeln, wir nicht."

Am Freitag fuhr die Scuderia Unterboden-Vergleichstests. Probleme mit dem neuen, in Frankreich eingeführten? Ferrari-Ingenieur Jock Clear widerspricht: "Wir hatten ein paar Fragen. Was wir am Freitag gemacht haben, war einfach, um eine Referenz zu haben. Zum alten zurückzugehen hatten wir nie vor. Die Zahlen suggerieren, dass das letzte Paket das tut, was es soll."

Zwar war Ferrari in Monza näher dran, aber bei Red Bull mutmaßt man, dass die Scuderia übermäßig viel Fokus auf das Heimrennen legte. "Vielleicht haben sie nur einen Weg gefunden, den Luftwiderstand zu reduzieren", meint Chefingenieur Paul Monaghan. "Wenn sie auch den Motor härter gepusht haben, dann kannst du das machen, aber das muss für das Rennen bleiben, und auch bei den Kunden."

Fazit: Wer einen Schuldigen an Ferraris Scheitern von Monza sucht, der muss wieder bei der Scuderia anfangen. Nicht, weil die Strategie falsch war. Sondern weil das Auto zu langsam ist. Das erst löste aus, was durchaus als strategische Verzweiflungstat bezeichnet werden kann. Nicht falsch, aber wer nur um der Alternative willens Alternativ-Strategien fährt, der gesteht ein, dass er bei normalem Rennverlauf nicht gewinnen kann, und pokert nur mehr auf Chaos.

Weil er bis 2026 einen WM-Titel sehen will, forderte Ferrari-Konzernchef John Elkann am Wochenende in einem großen Interview bei italienischen Kollegen Verantwortung von allen ein. Monza passt in die Sammlung jener Rennen, die unterstreichen, warum er das tut, und warum aus 2022 nichts wurde. Weil die Scuderia in jedem Kernbereich - Fahrer, Strategie, Entwicklung - gegen Red Bull verloren hat.

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