Otmar Szafnauer ist es gewohnt, unbequeme Fragen beantworten zu müssen. In seiner Karriere als Formel-1-Teamchef bei Force India, Racing Point und schließlich Aston Martin schien er mit Pleiten und Übernahmen schon alles erlebt zu haben. Bei Alpine sieht er sich seit Beginn der Saison nicht mit schlechten Ergebnissen oder mangelnden finanziellen Mittel konfrontiert, dafür aber mit ganz anderen Problemen.
Oscar Piastri lieber bei McLaren als bei Williams
Der überraschende Wechsel von Fernando Alonso zu Aston Martin am ersten Tag der Sommerpause war der Auftakt in eine Posse, die selbst in der Formel 1 ihresgleichen sucht. Der Abgang Alonsos wäre kein Problem gewesen, weil man mit Oscar Piastri eigentlich einen Ersatz parat hatte - oder zumindest dachte, einen Ersatz zu haben.
Seit 2020 fördert Alpine Piastri in der eigenen Nachwuchsakademie. Das australische Supertalent lieferte ab: Als Rookie wurde er umgehend Meister in der Formel 3, ein Jahr später wiederholte er das Kunststück in der Formel 3. 2022 parkte ihn Alpine auf der Ersatzbank mit der Aussicht auf einen Stammplatz für 2023 - allerdings zunächst einmal bei Williams.
In der Zwischenzeit sah sich Piastri aber nach einer Alternative um - und fand sie bei McLaren, wo er am 4. Juli 2022 einen Vertrag für die nächsten Jahre unterschrieb. Alpine beharrte aber nach dem Alonso-Abgang darauf, einen gültigen Vertrag mit Piastri zu haben. Das Drama nahm seinen Lauf.
Contract Recognition Board entscheidet über Piastri-Zukunft
Am Montag nach Spa sahen sich Alpine und McLaren vor dem Contract Recognition Board (CRB) wieder. Vier Tage später hatten vier erfahrene Juristen ihr Urteil gefällt: Piastri darf 2023 für McLaren fahren. Alpine hatte weder einen Vertrag, noch eine gültige Registrierung beim CRB.
Das gesamte Urteil, das sich auf 27 Seiten erstreckt, ist vernichtend für Alpine. Man hatte beim CRB einen Vertragsentwurf hinterlegt, der weder von Alpine, noch von Piastri unterschrieben war. In diesem Entwurf gab es noch diverse Platzhalter - wie zum Beispiel Vertragsbeginn und Vertragsende.
"Ich kannte nur unsere Seite, aber nach der Anhörung dachte ich, dass wir eine 50/50-Chance hätten", erklärte Szafnauer am Samstagmorgen auf einer Pressekonferenz in Zandvoort. Der Alpine-Teamchef musste das wohl glauben. Denn der Gang vor das CRB mit dem peinlichen Ausgang kostet Alpine rund eine halbe Millionen Euro Anwaltskosten, die man McLaren, Piastri und dem Tribunal erstatten muss.
Wer trägt die Schuld am Wechsel-Chaos bei Alpine?
Dazu kommen die Kosten für die eigenen Anwälte, die angesichts der Sachlage auf ihr Honorar besser verzichten sollten. Das sollte wohl auch das gesamte Führungsteam von Alpine. Aber wer trägt eigentlich die Schuld am Debakel? "Es wäre einfach, den Leuten die Schuld zu geben, die nicht mehr da sind", versuchte Szafnauer die Situation zu retten.
Ex-Teamchef Cyril Abiteboul musste Alpine Anfang 2021 verlassen, ein Jahr später schied auch Direktor Marcin Budkowski aus dem Team aus. Doch die vertraglichen Angelegenheiten mit Piastri zogen sich bis Saisonbeginn 2022. Tatsächlich musste Piastri-Manager Mark Webber Alpine Druck machen, noch vor Saisonstart etwas zu fixieren, um die Superlizenz beantragen zu können.
Einen Ersatzfahrervertrag für 2022 konnte man in der Eile noch zusammenschustern, einen Vertrag über einen Stammplatz für 2023 und darüber hinaus nicht mehr. Aber wer hat Schuld? Eine Frage, die in unterschiedlichen Ausführungen immer wieder an Szafnauer herangetragen wurde.
Fernando Alonso hatte erst kürzlich erklärt, warum er Szafnauer nicht über seinen Wechsel informiert hatte. Der Grund: Weil er nicht mit dem Teamchef verhandelt hatte, sondern mit Konzernchef Luca de Meo und Alpine-Boss Laurent Rossi. Rossi, sonst der medialen Aufmerksamkeit nicht abgeneigt, zeigt sich seit der Sommerpause nicht mehr im Fahrerlager.
Szafnauer nahm seine Chefs in Schutz: "Luca kümmert sich um die strategische Ausrichtung des Konzerns, Laurent kümmert sich um die Marke Alpine. Und ich kann euch sagen, die Autos sind gut." Weniger gut hingegen ist das Bild, das Alpine bei der ganzen Posse abgibt, einerseits auf vertraglicher Seite, andererseits in der Öffentlichkeit.
Szafnauer erfährt Piastri-Absichten über Twitter
Alpine verschickte noch eine Presseaussendung, in der Piastri als Fahrer für 2023 bekanntgegeben wurde - ohne das Einverständnis des Australiers. Szafnauer erzählte vor einer Woche in Spa, erst durch Piastris Tweet davon erfahren haben zu wollen, dass der Australier nicht für Alpine starten will.
"Meine Entscheidung habe ich schon lange zuvor getroffen", verriet Piastri nun in einem Interview mit formula1.com. "Das hat die Bekanntgabe von Alpine noch verwirrender und ärgerlicher gemacht, weil ich dem Team gesagt habe, dass ich nicht weitermachen werde." In Zandvoort wich Szafnauer der Frage mehrfach aus, wann genau Alpine von Piastris Plänen erfahren haben will.
Unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung mit McLaren, also dem 4. Juli sollte es aber laut dem Teamchef nicht gewesen sein. "Es war deutlich später", bekräftigte er. Es dürfte aber wohl vor Piastris Tweet gewesen sein. Denn in der Presseaussendung von Alpine war kein Zitat des Piloten. Ein äußert ungewöhnlicher Vorgang.
Mindestens genauso ungewöhnlich: Wie Szafnauer Piastri über die Pressemitteilung informierte. "Das war eine bizarre und ziemlich ärgerliche Episode", erinnert sich Piastri. "Er hat es mir öffentlich vor einigen Teammitgliedern gesagt. Ich wollte vor ihnen keine Szene machen. Als wir dann wieder unter uns waren, habe ich Otmar unsere Position erklärt - was ihm schon zuvor mehrfach gesagt wurde."
Die Version, dass Szafnauer und Alpine erst durch Piastris Tweet von der Problematik erfuhren, wird allein schon durch die Art und Weise der Pressemitteilung unglaubwürdig. "Ich habe euch noch nie angelogen und werde euch auch nicht anlügen", verteidigt sich Szafnauer.
Alpine wusste vor Alonso-Abgang von Piastri-Problematik
Sollte die Alpine-Version stimmen, muss man sich zumindest bei Fernando Alonso keine größeren Vorwürfe machen. Doch es ist davon auszugehen, dass man von der Problematik rund um Piastri wusste - und trotzdem nicht mit allen Mitteln um Alonsos Dienste kämpfte. Stattdessen verlor man auch noch den zweimaligen Weltmeister an einen Konkurrenten.
Nun muss Alpine einen anderen Nachfolger für Alonso finden. Piloten vom Kaliber eines Alonso und Piastri sind nicht am Markt. Wahrscheinlicher Ersatz wird Pierre Gasly, der eigentlich noch einen Vertrag mit AlphaTauri hat. Red Bull wäre aber bereit, Gasly ziehen zu lassen, wenn man Colton Herta bekäme. Der allerdings verfügt derzeit über keine Superlizenz und ist bei McLaren unter Vertrag. Werden die beiden Probleme gelöst, dürfte einem französischen Nationalteam mit Esteban Ocon und Pierre Gasly nichts im Weg stehen.
Interessant ist auch, wie Alpine Piastri umgeht, der bis Ende 2022 noch im Dienste der Franzosen steht. Bislang war der 21-Jährige stets an der Strecke, seit Spa muss er am Rennwochenende im Simulator arbeiten. "Am Montag setzen wir uns zusammen und diskutieren, wie es 2022 weitergeht", verspricht Szafnauer.
Demnach wäre es sogar möglich, dass Piastri noch 2022 zumindest im Training für McLaren fährt. Das Team von Andreas Seidl hat noch nicht entschieden, wer die beiden verpflichtenden Rookie-Trainingssitzungen abspulen soll.
McLaren engagiert Piastri und verkündet Ricciardo
Die Piastri-Posse hat aber nicht nur bei Alpine Spuren hinterlassen. Auch bei McLaren stellen sich Fragen. Wie durch das CRB-Urteil inzwischen bekannt ist, unterschrieb Piastri bereits Anfang Juli. Wenige Tage später verkündete Daniel Ricciardo noch auf Instagram, 2023 definitiv für McLaren an den Start zu gehen.
"Um ehrlich zu sein, habe ich zum ersten Mal von diesem Datum gehört", gestand Ricciardo nach dem CRB-Urteil im Gespräch mit Sky Sports. "Ich wusste vom zeitlichen Ablauf und was das Team diskutiert hat nichts." In der Sommerpause wurde der Vertrag zwischen Ricciardo und McLaren vorzeitig aufgelöst, eigentlich hätte der mehrfache GP-Sieger auch 2023 für die Briten an den Start gehen soll.
Und auch die Teamführung wiederholte vor der Sommerpause immer wieder, den Vertrag mit Ricciardo erfüllen zu wollen. Teamchef Seidl blockt bei der Frage nach dem zeitlichen Ablauf ab: "Ich will nicht ins Detail gehen, aber es war ein transparenter Prozess mit Daniel."
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