Nach dem letztjährigen Kuddelmuddel in Abu Dhabi waren die Hoffnungen groß, mit der Ablöse von Michael Masi das Rennleiter-Chaos zu lichten. Mit Eduardo Freitas (WEC) und Niels Wittich (DTM) hatten jetzt nicht nur ein, sondern gleich zwei Personen mit Motorsport-Affinität die neue Führung inne. Nach 13 von 22 Rennen hagelt es jedoch Kritik von allen Seiten. Allen voran die Fahrer, die sich neben permanenten Stewards (die unabhängig von der Rennleitung agieren) auch klarere und konstantere Entscheidungen seitens der Rennleitung wünschen würden. Statt klare, gab es harte Entscheidungen, vor allem im Bereich der Track Limits. Insgesamt 75 Strafvergehen, davon 21 Verwarnungen und 18 Geldstrafen lautet das Fazit zur Sommerpause. Und damit deutlich mehr als Rennleiter Michael Masi noch vor einem Jahr (49 Strafen: 6 Verwarnungen, 11 Geldstrafen). Gehen Wittich und Freitas zu sehr mit der Brechstange ans Werk?

Ende des arabischen Basars in der Formel 1

Kein Handeln wie auf dem arabischen Basar mehr in der Formel 1: Unvergessen das Feilschen um Startplätze zwischen Red-Bull-Sportdirektor Jonathan Wheatley und Rennleiter Michael Masi in Saudi-Arabien. Versuchte Michael Masi noch öfters Kompromisse mit den Fahrern einzugehen, handelt die neue Formel-1-Rennleitung kompromisslos. Platz für Diskussionen bleibt selten, auch wenn der Bedarf aufgrund unklarer Situationen da wäre.

Michael Masi musste nach dem kontroversen Saisonfinale 2021 seinen Platz räumen, Foto: LAT Images
Michael Masi musste nach dem kontroversen Saisonfinale 2021 seinen Platz räumen, Foto: LAT Images

Nicht nur die Rotation der Rennstewards, auch die der zwei Rennleiter wird diese Saison seitens der Formel-1-Piloten als problematisch angesehen. Als die Fahrer nach Silverstone Antworten auf die Auslegung der Regeln in der Endphase des Rennens haben wollten, konnte Niels Wittich nicht optimal weiterhelfen. Denn: Vor Ort in Großbritannien war Eduardo Freitas. Die Doppelbesetzung bewährte sich noch nicht zu 100% und bleibt für die Fahrer teilweise schwer nachvollziehbar. Auch für Kevin Magnussen: "Durch die unterschiedliche Auslegung ihrer Jobs ist es momentan etwas schwierig. Zu verstehen, was die Regeln sind."

Eskalationsstufe (Formel) 1: Schmuck und Unterwäsche

Mit dem Streitthema Unterwäsche und Schmuck hatte die Rennleitung schon zu Beginn einen holprigen Start. "Meiner Meinung nach ist das größte Problem, dass wir mal festlegen sollten, was die wichtigsten Prioritäten sind, die wir lösen müssen", ist etwa Toto Wolffs klare Meinung dazu. Sein Schützling Lewis Hamilton war nach Androhung einer Rennsperre allerdings in Silverstone ohne Ohrschmuck unterwegs. Auch beim Thema feuerfeste Unterwäsche glätteten sich nach anfänglichem Aufruhr die Wogen und niemand lief mehr wie Sebastian Vettel als Superman herum.

Charlie Whiting hatte einen besonderen Draht zu Formel-1-Piloten, Foto: LAT Images
Charlie Whiting hatte einen besonderen Draht zu Formel-1-Piloten, Foto: LAT Images

In Monaco gab es nach diffuser Verschiebung des Rennstartes und Auslegung der weißen Linie bei der Boxengassenausfahrt ebenfalls Redebedarf. "Ich vertraue der FIA ehrlich gesagt nicht, jedes Mal ist es super inkonstant", sagte Yuki Tsunoda. Sebastian Vettel sieht fehlende Erfahrung als Problem: Die neue Rennleitung sei zwar schon lange im Motorsport, aber nicht in der Formel 1.

FIA: Michael Masi zu früh verteufelt?

"Was uns jetzt fehlt, ist die Erfahrung, die Michael mitbrachte, weil er es so lange gemacht hat und hineingewachsen ist", meinte Vettel im Gespräch mit 'PA' vor dem Aserbaidschan Grand Prix. Michael Masi wurde von Charlie Whiting langsam als Nachfolger ausgebildet und war im Jahr 2018 stellvertretender Rennleiter, ehe er 2019 Whitings Job übernehmen musste.

Ferrari legte nach Monaco Protest gegen die Rennleitung ein, ohne Erfolg, Foto: LAT Images
Ferrari legte nach Monaco Protest gegen die Rennleitung ein, ohne Erfolg, Foto: LAT Images

Auch Ferrari fühlte sich ungerecht behandelt. "Wir haben das Gefühl, wir sind durch gewisse Entscheidungen benachteiligt worden", sprach Mattia Binotto in Baku die Nicht-Bestrafung der beiden Red-Bull-Piloten in Monte Carlo an. "Wenn wir auf den ersten Saisonteil blicken, dann können wir aus Ferrari-Perspektive nicht zufrieden sein." Wie sein früherer Pilot sieht Binotto fehlende Erfahrung und Inkonstanz als Hauptproblem.

Strafenübersicht 2021 vs. 2022

Rennen20212022
Bahrain24
Imola/Saudi-Arabien75
Portugal/Australien18
Spanien/Imola23
Monaco/Miami27
Aserbaidschan/Spanien37
Frankreich/Monaco212
Steiermark/Aserbaidschan22
Österreich/Kanada108
Großbritannien31
Ungarn/Österreich1212
Belgien/Frankreich14
Niederlande/Ungarn22
Gesamt4975

Eskalationsstufe 2: Track Limits und fehlende Konstanz

Noch einen Schritt weiter ging es in Österreich, als Sebastian Vettel entnervt das Fahrer-Meeting verließ und dafür prompt von der FIA eine Geldstrafe (auf Bewährung) kassierte. Thema der Besprechung? Mehr Konstanz bei der Regelauslegung und Verteilung der Strafen. Zusätzlicher Punkt auf der Agenda: Braucht die Formel 1 überhaupt zwei Rennleiter? George Russell nahm nach dem Sprint in Spielberg Stellung: "Jeder lernt. Wir lernen, wie die neuen Rennleiter reagieren. Sie lernen, was wir Fahrer wollen und brauchen."

Klare Entscheidungen seitens der Track Limits sollte es dann in Österreich geben, wo Niels Wittich mit einer harten Vorgehensweise ein Exempel setzte. Unter Michael Masis Regie zählten Kerbs im Regelfall zur Strecke, wer bei Freitas und Wittich mit allen vier Rädern neben die weiße Linie fährt, wird bestraft. Aber auch hier gilt: Leichter gesagt als getan. Als Sergio Perez im Qualifying in Q2 die Track Limits überschritt, wurde seine Rundenzeit übersehen und nicht wie üblich sofort gestrichen. Nach Qualifying-Ende wurde er noch von P4 auf P13 strafversetzt und der Ärger war (wieder) perfekt.

Kevin Magnussen: Rennleitung zu viel des Guten?

Perez Track-Limit-Vergehen wurde schlichtweg vorerst übersehen. Die Kommissare hätte zu diesem Zeitpunkt zu viele Vorfälle gleichzeitig zu bearbeiten gehabt. Grund: Die sehr strenge Auslegung der Track Limits hätte bestehende menschliche Ressourcen gesprengt. "Natürlich hat jeder seine eigene Sicht auf die Dinge, aber mit Blick auf die Track Limits denke ich, dass die gesamte Debatte an diesem Wochenende ein ziemlicher Witz war", meinte Max Verstappen nach dem Rennen am Red Bull Ring.

Zuletzt äußerte Haas Kritik an der Rennleitung als Kevin Magnussen in Ungarn zum zweiten Mal nach Kanada die schwarz-orange Flagge gezeigt bekam und in die Box fahren musste. "Ich denke, das war etwas zu viel des Guten", meinte der Däne nach dem Rennen in Richtung der FIA. Strenger, aber vielleicht etwas zu viel des Guten als Beschreibung der neuen Rennleitung? Zumindest Esteban Ocon wird 2022 nicht mehr am saudi-arabischen Basar vergessen.