Drei Jahre ist es her, dass die Formel 1 zum letzten Mal in Kanada Station gemacht hat. Auf der Ile Notre Dame im St. Lorenz Strom verlor Sebastian Vettel im Ferrari damals den Sieg gegen Lewis Hamilton nach einer umstrittenen Strafe. Angesichts der Umstände war er damals mit Platz 2 mehr als nur unzufrieden. Die Vorzeichen in diesem Jahr sind aber vollkommen andere. 2022 ist eine Top-3-Platzierung für den Vierfach-Weltmeister wohl nur ein ferner Traum. Oder etwa doch nicht? Den ganzen Qualifying-Tag der Formel 1 heute in Kanada gibt es hier im Live-Ticker.

Am Freitag überraschte Aston Martin und vor allem der Heppenheimer mit starken Resultaten. Im zweiten Training reichte es sogar für die vierte Position. Nur 0,315 Sekunden büßte Vettel auf den Trainingsschnellsten Max Verstappen ein. Zwischen dem WM-Leader und dem Aston reihten sich die beiden Ferraris ein. Leclerc verlor 0,081 Sekunden auf die Bestzeit, Sainz 0,225 Sekunden.

Aston Martin: Topzeiten mit Softs gekauft

Auf den ersten Blick führt Aston Martin also das Mittelfeld an. Wenn man sich aber die Reifendaten im Detail anschaut, dann relativiert sich die Vettel-Performance drastisch. Denn im Gegensatz zum Großteil des Feldes zog das Team aus Silverstone im FP2 einen zweiten Satz Soft-Pneus auf. Das kann man sich leisten, da der Samstag allen Prognosen zufolge verregnet sein soll. Die weichen Pneus sind also im Übermaß vorhanden.

Vettel spulte seinen zweiten Run bei besseren Grip-Bedingungen ab und - was man auch nicht unterschätzen darf - nachdem er sich bereits auf eine Hotlap einschießen konnte. Im für den Zeitenvergleich damit relevanteren ersten schnellen Versuch, drehte Vettel eine 1:15.299 und würde sich damit nur auf P11 einsortieren. Wenn man die Alpines aus der Kalkulation nimmt, welche dieselbe Herangehensweise wählten, landet Vettel damit ungefähr dort, wo er auch FP1 beendete.

"Es hat sicherlich geholfen, dass wir zwei Sätze (Soft)-Reifen verwendet haben, weil wir vermuten, dass es morgen nass werden könnte", gestand der 53-GP-Sieger. Gleichzeitig erklärt das auch teilweise den klaren Zeitrückstand von Teamkollege Lance Stroll auf Vettel, der im ersten Training mit P7 noch zwei Positionen vor dem Deutschen landete. Der Lokalmatador konnte sich im zweiten Run nicht so stark verbessern und verpatzte den dritten Sektor.

FP2: Verbesserungen auf dem zweiten Run

1. RunPosition 1. Run FP22. RunPosition FP2
Vettel1:15.299101:14.4424
Alonso 1:15.12581:14.5435
Ocon1:15.903171:15.11910
Stroll1:15.441121:15.39612

Wer kann Max Verstappen schlagen?

Neben dem Alpine- und Aston-Martin-Duo verwendete auch Charles Leclerc zwei frische Soft-Reifen. Der Ferrari-Pilot fuhr aufgrund seiner Startplatzstrafe von zehn Positionen ein anderes Programm als sein Teamkollege Carlos Sainz. Er spulte aber nur auf dem zweiten Reifensatz einen tatsächlichen Zeitangriff ab, die ersten Softreifen hatten bei ihrer schnellsten Runde bereits einige Umläufe auf dem Buckel.

Bislang läuft auch abgesehen von der Strafe gegen seinen Ferrari-Rivalen alles nach dem Geschmack von Max Verstappen. Erstmals in dieser Saison konnte der Niederländer beide Freitags-Trainings gewinnen. Im Gegensatz zu den letzten fünf Grands Prix scheint er auf eine Runde mindestens ebenbürtig mit den Scuderia-Piloten zu sein. Sainz zeigte sich wenig optimistisch, was den Vergleich mit dem Weltmeister anging: "Max sieht dieses Wochenende sehr stark aus und ich denke, wir müssen erst einmal ein bisschen aufholen - sowohl im Long Run als auch auf eine Runde."

"Ich denke, wenn wir die Schritte machen können, die uns normalerweise am Samstag und Sonntag gelingen, können wir nah rankommen", hofft der Spanier. Auf den ersten Blick sehen die Longruns von Sainz verheißungsvoll aus. Mit dem Medium-Reifen blieb er mit einem Rundenschnitt von 1:17.731 als einziger unter 1:18.

Aber auch dieses Bild ist trügerisch. Einerseits absolvierte Sainz in seinem Longrun lediglich sieben Runden im Vergleich zu Verstappens 17 bei ursprünglich identischem Reifenalter. Dazu kommt noch, dass der Longrun des Red-Bull-Piloten nicht ohne Probleme vonstattenging. "Der Longrun war nicht zufriedenstellend, weil wir immer Verkehr hatten. Kaum ließen wir uns zurückfallen, kam wieder einer aus der Box heraus", erklärte Red-Bull-Motorsportchef Dr. Helmut Marko.

Einen direkten Vergleich zwischen Ferrari und Red Bull gibt es nur auf den gelb markierten Reifen, da die Bullen ausschließlich auf dieser Mischung ihre Runs absolvierten, während das Ferrari-Duo auch die C5-Reifen zum Einsatz brachte.

Medium-Longruns

MediumReifenalterStint-LängeRundenzeit
Sainz1771:17,731
Verstappen27171:18,300
Perez22131:18,371
Hamilton15131:18,534
Vettel1691:18,598
Russell23161:18,798
Norris19101:18,901
Zhou21101:18,969
Ricciardo22111:19,162
Gasly27161:19,243
Albon20131:19,702
Tsunoda20121:20,408
Latifi20131:20,685

Soft-Longruns

SoftReifenalterStint-LängeRundenzeit
Sainz1481:18,237
Vettel14101:18,301
Leclerc19151:18,585
Ocon1251:18,921
Stroll20141:19,134
Tsunoda1671:19,153
Schumacher21131:19,845

Hard-Longruns

HardReifenalterStint-LängeRundenzeit
Alonso991:18,167
Ocon10101:18,848
Magnussen24111:19,595

Perez klar im Schatten von Verstappen

Das optimistische Fazit von Marko lautet: "Der Speed stimmt, es fehlen nur noch kleinere Abstimmungsarbeiten. Erfreulicherweise war Max auf der Single Lap deutlich schneller diesmal. Das Gesamtpaket stimmt". Das ist zumindest auf der einen Seite der Garage zutreffend. Bei Sergio Perez sieht die Welt schon wieder anders aus.

Perez war am Freitag alles andere als zufrieden. Die Balance des RB18 entsprach nicht seinen Erwartungen. "Wir hatten ein Problem mit dem Setup auf den Runs mit wenig Benzin, aber wir haben einen Teil der Lösung schon herausgefunden", sagte Perez und fügte hinzu: "Ich denke, der Long Run war ein bisschen repräsentativer, aber auch dort hatten wir noch einige Probleme. Wir stehen ein bisschen mit dem Rücken zur Wand." Marko schätzte die Ausgangslage des Mexikaners so ein: "Der Rückstand ist nicht so groß, wie er erscheint, aber er ist dennoch wieder so wie im Vorjahr."

Verhindert der Regen die Verstappen-Show?

An der Spitze deutet also alles auf einen Verstappen-Sieg hin. Oder vielmehr: Fast alles. Denn die große Unbekannte ist das Qualifying. Die Regenwahrscheinlichkeit für die Qualifikations-Sitzung wird auf 45 Prozent beziffert, in den Stunden vor dem Zeitentraining sind Regenschauer so gut wie sicher. Den Teams fehlen sämtliche Erfahrungswerte auf nassem Untergrund und eine auftrocknende Strecke kann zusätzlich zu einer Lotterie führen.

Setupmäßig will man - vor allem an der Spitze - dafür aber keine Kompromisse eingehen. Marko erläuterte: "Wir müssen hier auf Rennabstimmung gehen. Man kann hier überholen, deshalb ist das Qualifying nicht das entscheidende."

Mercedes-Unterboden scheitert

Hinter der Spitze gibt es dieselbe Ausgangslage wie vor dem Baku-GP: Mercedes ist naturgemäß der Favorit darauf, dritte Kraft zu sein, aber einmal mehr spiegelt sich das am Trainingstag nicht in den Zeitentabellen wider. Die Silbernen haben auf dem unebenen Stadtkurs auf der Ile Notre Dame Schwierigkeiten.

George Russell beschwerte sich während FP1, dass er vor allem in Kurve 9 stark auf den Boden aufsetze und an Bouncing zu leiden habe. Die Silberpfeile testeten am Boliden von Lewis Hamilton in FP1 zwar einen neuen Unterboden, scheinen damit aber keine Fortschritte gemacht zu haben. "Wir haben einen experimentellen Unterboden ausprobiert, der nicht funktioniert hat", so Hamilton. Für FP2 waren beide Piloten wieder mit der identischen Floor-Konfiguration unterwegs.

Das gilt allerdings nicht für den Heckflügel. Dort ging man auch in FP2 mit beiden Piloten einen unterschiedlichen Weg: Hamilton drehte seine Runden mit einem kleineren Flügel, während Russell mit mehr Luftwiderstand unterwegs war. Die Differenz zwischen den Silberpfeilen belief sich auf etwa sechs Km/h. Hamilton wurde mit 324,7 Km/h geblitzt, Russell mit 318,1. Der Youngster belegte mit diesem Wert bei den Topspeed-Messungen die letzte Position.

Zum wiederholten Male testete man damit bei Mercedes unterschiedliche Setups aus. Die Einstellung, die man am Wagen von Lewis Hamilton ausprobierte, sind jedenfalls gescheitert. "Bei mir war es ein Desaster", beschrieb er und schimpfte anschließend über seinen Boliden. "Nichts, was wir an diesem Auto ausprobieren, scheint zu funktionieren. Es ist, als würde das Auto schlechter werden. Je mehr wir ausprobieren, desto unzufriedener bin ich."

Neben Mercedes war auch Ferrari vom starken Bouncing betroffen. Aus reglementarischer Sicht müssen sich aber beide Teams keine Sorgen machen, Ärger zu bekommen - egal wie stark das Porpoising ist. Denn die FIA entschloss sich dazu, den Kanada-GP als Testlauf zu nutzen um Daten zu sammeln und einen erlaubten Maximalwert zu definieren.

Fazit: Eigentlich ist alles angerichtet für ein Schaulaufen von Max Verstappen: Leclerc hat durch seine Startplatz-Strafe eine maßgebliche Hypothek auferlegt bekommen und Sainz scheint einmal mehr eine Spur langsamer zu sein als die beiden Teamleader. Aus dem eigenen Lager droht ebenfalls keine Gefahr, falls Perez nicht plötzlich ein Wundersetup aus dem Hut zaubert. Das große Fragezeichen für Verstappen bleibt das höchstwahrscheinlich nasse Qualifying. Was Sebastian Vettel angeht, gestalten sich die Aussichten ähnlich wie in Aserbaidschan. Platz 4 wie im Training ist unter normalen Bedingungen natürlich außer Reichweite, aber ein weiteres gutes Punkteresultat erscheint der Freitags-Pace nach zu urteilen sehr realistisch.