Die Formel 1 wurde in Baku durch das bittere Ende von Charles Leclerc und Ferrari um ein hochspannendes Rennen betrogen. Bevor Leclerc nämlich in der 21. Runde mit rauchendem Motor in Führung liegend in die Box rollte, hatte Ferrari diesmal - zumindest der eigenen Meinung nach - alles richtig gemacht, und lag auf Siegkurs.

Hingegen glauben die tatsächlichen Rennsieger von Red Bull, die am Ende mit Max Verstappen und Sergio Perez einen ungefährdeten Doppelsieg und das perfekte Ergebnis einfuhren, dass sie mit ihrer abweichenden Strategie Leclerc auch auf der Strecke im Duell niedergerungen hätten. Motorsport-Magazin.com analysiert die Entscheidungen der WM-Kontrahenten.

Ferrari bringt endlich neuen Heckflügel: Kein Speed-Nachteil mehr

Die Ausgangsposition für Leclerc war nicht vorteilhaft gewesen. Beim Start hatte er in Baku gegen Sergio Perez den Kürzeren gezogen und war danach für die ersten Runden im Red-Bull-Sandwich gefangen. Vor ihm versuchte Perez Tempo zu machen, hinter ihm baute Verstappen Druck auf.

Doch ein klarer Red-Bull-Vorteil etablierte sich in diesen ersten Runden nicht. Perez fuhr die Lücke innerhalb von zwei Runden auf zwei Sekunden auf, stagnierte dann aber. Verstappen kam Runde um Runde nur knapp ins DRS-Fenster, und der Speed-Überschuss reichte nie für eine Attacke, trotz des ewig langen Vollgas-Stücks hin zur ersten Kurve.

Ein neues Bild in der Formel 1 2022. Bislang hatte Red Bull im Rennen immer mit Topspeed-Überschuss dank eines aggressiver getrimmten Aero-Pakets glänzen können. Auf der ähnlichen Strecke in Miami kassierte Verstappen Leclerc in der neunten Runde schon ein. So einfach ging das in Baku nicht mehr, denn Ferrari hatte hier endlich einen neuen, kleineren Heckflügel ausgepackt.

Links Ferraris Baku-Heckflügel, rechts die alte Spezifikation, Foto: LAT Images
Links Ferraris Baku-Heckflügel, rechts die alte Spezifikation, Foto: LAT Images

Dieser war in Miami schon dabei gewesen, aber nicht montiert worden. In Baku war er die richtige Entscheidung. "Er war gut genug heute, um mitzumischen und gegen Max zu verteidigen", urteilt Ferrari-Teamchef Mattia Binotto. "Damit sind wir glaube ich nicht so groß im Nachteil gegen Red Bull - der Speed ist sehr ähnlich. Sowohl mit DRS wie wir im Qualifying gesehen haben, als auch ohne DRS wie wir heute gesehen haben."

Aggressive Ferrari-Strategie bringt Leclerc vorbei an Red Bull

Mit dem Ausrollen von Carlos Sainz änderte sich in Runde neun dann schlagartig alles. Ein Virtuelles Safety Car wurde ausgerufen. Red Bull rief den Führenden Perez zum Stopp, doch der Mexikaner war genau an der Boxeneinfahrt, als im Sekundentakt erst VSC, dann Funkspruch kamen: "Dann war es zu spät zu stoppen." Er musste weiterfahren.

Hinter Perez kam Leclerc zum Stopp. Verstappen wurde angewiesen, das Gegenteil zu machen, und blieb daher draußen. Beim Restart führte jetzt Perez vor Verstappen. Leclerc hatte aber nun Hard-Reifen und dank des VSC nur wenig Zeit verloren, und lag trotz schlechtem Stopp nur 15 Sekunden hinter der Spitze. Ferrari glaubt, dieser Stopp wäre der Grundstein für einen Sieg gewesen.

Die Red Bulls mussten nur wenige Runden später nämlich unter Renntempo stoppen, was ihnen relativ zu Leclerc zehn zusätzliche Sekunden kostete. Der Ferrari-Pilot übernahm mit 13 Sekunden Vorsprung die Führung. Verstappen hatte jetzt zwar acht Runden neuere Reifen, doch Binotto glaubt, dass Leclerc durchhalten hätte können: "Der Verschleiß des Hard war sehr gering. Wir hätten den am Leben halten können, das hätte die richtige Entscheidung sein können."

Red Bull zweifelt: Verstappen auf Hard nicht zu schlagen

Dass das Rennen nach einem Stopp in Runde neun auf Hard beendet werden konnte, steht außer Frage. Pierre Gasly und Sebastian Vettel fuhren diese 42-Runden-Mammutstints ohne Probleme durch, ihre Zeiten brachen nicht ein. Gepaart mit dem neuen Heckflügel hätte Leclerc in der Ferrari-Rechnung also gute Chancen gehabt, das Auto ins Ziel zu tragen.

Red Bull sieht das Baku-Rennergebnis anders. "Mit dem Speed, den wir auf Hard hatten, waren wir der Überzeugung, dass wir Leclerc auch auf der Strecke geschlagen haben", sagt Motorsportchef Dr. Helmut Marko auf ServusTV.

Verstappens Renn-Management war in Baku phänomenal. Auf dem Start-Stint war er mit Medium schon besser zurechtgekommen und hatte Perez auf der Strecke überholt, der nach dem Virtuellen Safety Car nicht mehr auf Touren kam und vom Team daher auch angewiesen wurde, sich gegen den heranstürmenden Teamkollegen nicht zu wehren. Auf dem Hard fuhr Verstappen dann 20 Sekunden auf Perez heraus.

Und Ferraris Topspeed? Den sieht Red Bull als nicht ausreichend. "Es war in den ersten Runden ein bisschen unglücklich, dass Leclerc Windschatten von Perez hatte", erklärt Marko seine Ansicht, warum Verstappen den Ferrari nicht überholen hatte können. Für Red Bull war der spätere Stopp also die bessere Wahl: Leclerc hätte sich ohne Windschatten und mit älteren Reifen spät im Rennen nicht mehr gegen Verstappen wehren können.

Zweite Unterbrechung: Red-Bull-Sieg dank Reifenvorteil

Ein hypothetisches Szenario muss zusätzlich ergänzt werden. In Runde 33 wurde das Rennen ein zweites Mal durch ein VSC unterbrochen, als Kevin Magnussen ausrollte. Die theoretische Reihenfolge wäre da wahrscheinlich noch immer Leclerc-Verstappen-Perez gewesen. Wieder hätten sich beide Teams entscheiden müssen, ob sie einen billigen VSC-Stopp einlegen sollten, um 10 Sekunden gegen bessere Reifen auszutauschen.

Red Bull war bei einem zweiten Stopp reifentechnisch im Vorteil. Denn bei beiden Autos hatte sich das Team zwei Sätze Hard-Reifen aufgespart. Der Hard war in der Mittagshitze eindeutig die richtige Wahl, während sich der Medium als weniger berechenbar erwies. Ferrari jedoch war nur mit einem Satz Hard ins Rennen gegangen - und den hatte Leclerc nach seinem Stopp am Auto.

Leclercs defekter Ferrari brachte die Formel 1 um den finalen Showdown, Foto: LAT Images
Leclercs defekter Ferrari brachte die Formel 1 um den finalen Showdown, Foto: LAT Images

So wäre es auf ein dramatisches Finale hinausgelaufen. Stoppt Leclerc, so müsste er in dem Szenario wohl weniger als 20 Sekunden aufholen, aber 18 Runden auf Medium fahren und beide Red Bulls auf der Strecke überholen. 18 Runden war genau jene Anzahl, bei denen am Start vielerorts die Medium-Reifen einzubrechen begannen. Stoppt Leclerc aber nicht, so könnte in dem Szenario mindestens ein Red Bull auf Hard wechseln, wodurch beide den Ferrari ins Ziel hätten jagen können. Wer hätte gewonnen? Das ist unmöglich zu sagen. Beide Teams hatten die richtigen Ideen.

Defekt-Schock! Schmeißt Ferrari die Formel 1 WM weg? (49:53 Min.)