Charles Leclerc hat ausgerechnet beim ersten Heim-GP von Ferrari in der neuen Formel-1-Saison einen kapitalen Bock geschossen. In Imola mochte der F1-75 nicht das schnellste Auto gewesen sein, aber für Leclerc war ein lockerer dritter Platz hinter den Red Bulls von Max Verstappen und Sergio Perez eigentlich fix. Man hätte nur nicht zum zweiten Stopp kommen dürfen.

So sieht es zumindest nach dem Rennen aus. Denn obwohl Leclerc das ganze Rennen hinter Perez auf Platz drei festgesteckt war, holte Ferrari ihn für einen Schluss-Sprint auf Soft-Reifen an die Box, anstatt die Punkte sicher nach Hause zu fahren, und Leclerc drehte sich beim letzten Verzweiflungsangriff, was aus P3 P6 machte. Haben die Strategen der Scuderia ihren Fahrer unnötige und gefährliche Hoffnungen gemacht? Motorsport-Magazin.com analysiert.

Red Bull in Imola knapp schneller als Ferrari

Außer Frage steht, dass Red Bull in Imola wieder das bessere Paket hatte. "Wir waren nicht so überlegen, aber gerade zwei, drei Zehntel schneller", urteilt Motorsport-Chef Dr. Helmut Marko gegenüber Motorsport-Magazin.com. "Nur das Reifenmanagement war besser. Was uns in Melbourne passiert ist, das ist hier Ferrari passiert. Sie haben viel früher Graining bekommen."

Das war bei den höheren Temperaturen am Samstag im Sprint schlimmer. Leclerc hatte den lange angeführt, wurde dann aber von Verstappen doch wieder vom ersten Startplatz verdrängt, als der rechte Vorderreifen am Ferrari kurz vor der 20-Runden-Marke in die Knie ging. Am Sonntag geriet Leclerc aber mit einem schlechten Start sofort in die verwirbelte Luft und damit unter Zugzwang. Vom Start weg steckte er hinter dem zweiten Red Bull von Sergio Perez, und musste seine Reifen ohnehin härter rannehmen, um überhaupt den Anschluss zu halten.

So kam Leclerc nicht und nicht in Schlagdistanz, war aber immer nahe genug dran, um den Glauben aufrecht zu erhalten, dass man eine Chance auf den zweiten Platz habe. Auf Intermediates holte er Perez nach seinem Desaster-Start wieder ein. Beim Wechsel auf Medium-Slicks kam er vor dem eine Runde davor stehengebliebenen Perez zurück auf die Strecke, obwohl die Ferrari-Crew bei einer Standzeit von 3,73 Sekunden Zeit liegen ließ, doch die Reifen waren noch nicht auf Temperatur und Perez zog wieder vorbei.

Selbst als Perez in Runde 28 in der Variante Alta einen Fehler einbaute und durch das Gras rutschte, konnte Leclerc nicht profitieren, weil das DRS da noch nicht freigegeben war. Schließlich fuhr ihm Perez davon - jedoch wieder nur ganz langsam.

Ferrari stoppt noch einmal - Risiko statt Problem

In Runde 49 von 63 war Leclerc noch immer bis auf drei Sekunden dran, aber es zeichnete sich ab, dass mit den alternden Medium-Reifen Perez nicht zu knacken war. Zugleich war Leclercs Vorsprung auf den viertplatzierten Lando Norris inzwischen aber auf 27,397 Sekunden angewachsen - das entspricht in Imola in etwa einen Boxenstopp. Sofort holte ihn Ferrari rein und setzte damit die Ereignisse in Gang, die letztendlich zu Leclercs Unfall führen sollten.

"Der hat müssen, weil seine Reifen da hinüber waren", mutmaßt Dr. Helmut Marko. "Der hätte nicht mehr länger fahren können, der ist ja immer weiter zurückgefallen." Dem widerspricht Ferrari-Teamchef Mattia Binotto: "Nein, uns gingen die Vorderreifen nicht aus. An dem Punkt war unsere Rennpace verglichen mit Perez ähnlich oder etwas besser."

Warum aber dann stoppen? Ohne Reifenprobleme hätte Ferrari locker bis zur vorletzten Runde durchfahren, Leclerc stoppen und sich Platz drei und die schnellste Runde holen können. Ja, das war eine Option, bestätigt Binotto: "Aber für uns war es an diesem Punkt wichtiger anzugreifen und zu versuchen, vor Sergio zu kommen. Wir sahen eine Chance und haben die genutzt." Statt Vernunft setzten die Ferrari-Strategen lieber auf Aggressivität.

"Wir haben gehofft, dass sie auch stoppen, dann sind beide auf neuen Reifen und das Rennen wird mit 15 Runden neu gestartet", erklärt Binotto. Ferraris Entscheidung rührte daher, dass Perez just in dem Moment, als sich für Leclerc das Boxenstopp-Fenster öffnete, auf eine große Gruppe von Überrundeten auflief. Die erste Phase des Plans funktionierte tatsächlich: Perez kam eine Runde später, hatte aber im Verkehr Zeit verloren, und plötzlich war Leclerc mit warmen Reifen fast im DRS-Fenster.

Leclerc geht einmal zu viel Risiko

Leclerc versuchte nun die Stärken seines Ferrari am absoluten Limit zu nutzen. Das ganze Rennen lang hatte er die herausragende Fahrbarkeit in der engen Variante Alta, der Schikane vor dem DRS-Messpunkt, ausgespielt, um den Anschluss an Perez zu halten. "Er hat dort extrem hart gepusht und hat mir da jede Runde immer ein bisschen Zeit abgenommen", sagt Perez. Auf eine Runde war zwar der Red Bull schneller, aber im letzten Sektor war Leclerc dank seiner aggressiven Schikanen-Attacken fast in jedem Umlauf besser.

Nun aber mussten die letzten Zehntel überwunden werden, um einmal in Perez' DRS-Bereich zu kommen. "Ich wusste, auf dieser Runde war die Chance, also habe ich ein bisschen mehr zu pushen versucht, und das war ein bisschen zu viel", gesteht Leclerc. Das eine Mal war einmal zu viel, er drehte sich in die Mauer, und konnte nur noch den sechsten Platz retten. Obendrauf hatte man mit dem Stopp Red Bull Tür und Tor geöffnet, um den führenden Max Verstappen zum zweiten Stopp zu holen. Verstappen hatte leicht lachen und holte sich den Bonuspunkt für die schnellste Runde.

Ferrari akzeptiert Leclerc-Fehler nach Mut zum Risiko

Die Risiko-Strategie kam Leclerc und Ferrari teuer zu stehen, doch sie bereuen nichts. "Ich glaube, du bereust nie, die Fahrer zum Pushen aufzufordern", sagt Binotto. "Das ist Teil unseres Jobs, und es ist Teil ihres Jobs, am Limit zu fahren. Fehler können passieren. Diese Autos sind auf den Kerbs viel steifer. Wenn du einen kleinen Fehler machst, bezahlst du teuer. Aber keine Reue, wir haben die richtige Entscheidung getroffen."

Folgt man der Red-Bull-Analyse, war dieses Risiko allerdings nicht mehr verhältnismäßig. "Natürlich hat Charles auf der zweiten Runde von den warmen Reifen profitiert, aber er kam nie nah genug, um Checo zu attackieren", wehrt Red-Bull-Teamchef Christian Horner ab. Die Überhol-Chance stuft man hier als außerordentlich gering ein.

Fazit: Leclerc ist der Fehler selbst zuzuschreiben, aber es stimmt, dass Ferrari ihn in die Situation für eine Attacke brachte, die in Wahrheit eine verschwindend geringe Erfolgschance hatte. Red Bull hatte einen kleinen Pace-Vorteil, war etwas schneller auf der Geraden, und Leclerc hatte nur wenig zu gewinnen und viel zu verlieren. Platz drei und die schnellste Runde zu nehmen wäre die Vernunft-Entscheidung gewesen, aber im Nachhinein ist man immer klüger.

Zu viele Ferrari-Fehler! Wie kam es zum Imola-Desaster? (15:54 Min.)