Sensation in der Formel 1. Zum ersten Mal in der F1-Saison 2020 startet an einem Rennsonntag kein Mercedes von der Pole Position, wenn morgen die Startampeln für den Großen Preis der Türkei in Istanbul erlöschen werden. Stattdessen sicherte sich völlig überraschend Racing-Point-Pilot Lance Stroll den ersten Platz in der Startaufstellung. In einem chaotischen Regen-Qualifying schwamm der Milliardärssohn zur ersten Pole eines Kanadiers seit Jacques Villeneuve 1997.

"Ich kann es nicht wirklich in Worte fassen, ich bin geschockt“, sagte Stroll in seiner ersten Reaktion im Parc-fermé-Interview. „Hier zu sein, das habe ich nach FP3 nicht wirklich erwartet. Wir waren uns bei vielen Dingen nicht sicher, sahen nicht so wettbewerbsfähig aus. Aber jetzt bin ich so happy!“

Stroll zunächst von Mercedes-Dreher gestoppt

Wie genau es zu dem Wunder kommen konnte? Durch einen perfekten Schachzug in der zweiten Hälfte des entscheidenden Q3. Anders als manche Konkurrenten setzte Racing Point auf der allmählich auftrocknenden Strecke in den Schlussminuten auf den Intermediate statt den Regenreifen. Das versuchte zwar auch Red Bull, doch zündete der RB16 den Pirelli nicht so gut an wie der RP20, noch dazu hatte Stroll freie Bahn, Teamkollege Perez und Verstappen nicht.

Das galt allerdings erst für den wirklich letzten Schuss. Zuvor am Stroll ein Dreher Valtteri Bottas‘ in den Weg. „Als ich auf dem Inter war, habe ich sofort versucht Temperatur reinzubekommen. Das ist bei solchen Bedingungen wichtig. Aber auf meiner ersten Runde hat sich vor mir ein Mercedes gedreht, trotzdem habe ich mich noch verbessert. Für die Pole war es aber nicht gut genug. In der zweiten Runde hatte ich dann komplett freie Bahn. Das war großartig!“

Stroll: Pole-Runde perfekt, keine Fehler

Diese letzte Runde hätte er dann nämlich fast perfekt getroffen, so Stroll. „Wir sind am Ende des Q3 auf den Intermediate gegangen und ich hatte eine Runde und habe abgeliefert. Ich hatte das Vertrauen ins Auto und in meine Konstanz beim Fahren, um es umzusetzen und am Ende der Session habe ich meine Runde ziemlich schön zusammengepuzzelt, habe keine wirklichen Fehler gemacht. Jetzt sitze ich hier, bin auf der Pole Position“, schwärmte der Kanadier.

Umso größer fällt die Freude aus, weil Stroll den richtigen selbst Riecher bewies. Die Entscheidung für den Intermediate sei letztlich eine klare gewesen. „Ich habe erst erwartet, bis zum Ende des Qualifyings auf den Regenreifen zu bleiben, weil die Streckenverhältnisse zu bescheiden und so rutschig waren“, schilderte Stroll. „Aber im Q3 hatte ich auf diesem Reifen dann schlechten Grip, deshalb wusste ich, dass die Strecke aufgetrocknet und es an der Zeit für Inters war. Deshalb sind wir an die Box und haben Inters geholt für die paar Runden, die es noch gab. Kaum war ich auf dem Inter, war es sofort sehr viel besser. Es war definitiv der richtige Reifen.“

Teamchef Otmar Szafnauer verteilte für dieses Gespür ein Sonderlob an seinen in der öffentlichen Wahrnehmung meist stark kritisierten Piloten. "Es war großartig und wohlverdient. Es war kein Glück. Das war richtig gut bewertet. Er kam rein und sagte direkt, dass man zum Ende des Q3 Intermediates nehmen muss", sagte Szafnauer. "Er sagte gleich zu Beginn des Q3: 'Noch ist es nicht ganz soweit, aber das wird es am Ende sein.' Er lag da absolut richtig und hat den Reifen auch zum Arbeiten bekommen. Also ist es eine verdiente Pole Position!"

Stroll erlöst: Pole nach harten Wochen

Geholfen hätte ihm allerdings auch das Team. Racing Point informierte Stroll via Boxenfunk über die Zeiten seines Teamkollegen. Perez war etwas früher auf den grün markierten Reifen gewechselt. „Sowohl ich als auch das Team waren der Meinung, dass es mit Inters das Beste wäre. Sie haben mich auch über Sergios Pace auf dem Laufenden gehalten und gleichzeitig habe ich gemerkt, dass ich mit dem Regenreifen gegenüber Q2 viel Grip verlor“, berichtete Stroll. „Ich war mit dem Intermediate am Ende aber definitiv sehr viel besser bedient.“

Für Stroll kommt die Pole Position einer Erlösung gleich. Zuletzt durchlebte der Kanadier harte Wochen. Unfall in Mugello, dann eine Corona-Erkrankung, unter dem Strich keine Punkte seit dem glücklichen Podium in Monza: „Das ist ein ziemlich besonderer Moment für mich. Gerade nach den letzten paar Monaten, die für mich echt hart waren. Seit Mugello eigentlich. Seit meinem Podium in Monza haben ich keinen Punkt mehr geholt. Es war hart. Ein paar Zwischenfälle, Covid, so viel ist passiert. Jetzt so zurückzuschlagen und auf der Pole zu stehen, ist etwas ganz Besonderes für mich!“

Stroll drohte Strafe: Stewards ermittelten

Für das Rennen rechnet sich Stroll nun jede Menge aus, allerdings weiß der Kanadier ganz genau, dass es an diesem verrückten Wochenende in Istanbul vor allem auf die Bedingungen ankommen wird. „Das habe ich aber noch nicht angesehen, ich habe nur gehört, dass es vielleicht eine Chance auf Regen am Start gibt. Das könnte die Dinge durchmischen“, hofft Stroll. „Ich schaue mir das in ein paar Stunden an und genieße jetzt aber erstmal den Moment. Es ist meine erste Pole Position in der Formel 1!“

Eine erste Hiobsbotschaft ereilte Stroll allerdings schon kurz nach der Pressekonferenz. Die Stewards ermitteln wegen eines Gelbvergehens ganz am Ende des Q3 (Perez-Dreher) noch gegen den Kanadier. Damit könnte Stroll durch eine Startplatzstrafe seine Pole wieder verlieren. Um 18:30 Uhr türkischer Zeit (16:30 Uhr MEZ) müssen sich der Kanadier und Racing Point verantworten.

Update 17:25 Uhr: Aufatmen für Lance Stroll. Die Stewards entschieden sich gegen eine Sanktion. Die Telemetrie beweise, dass Stroll deutlich vom Gas gegangen, in die Kurve gerollt sei und erst nach der Gefahrenstelle wieder beschleunigt habe. Die Sektorenzeiten würden das zwar nicht bestätigen, allerdings sei die Strecke zu diesem Zeitpunkt schnell aufgetrocknet und habe sich dementsprechend rapide verbessert.