Beim Formel-1-Wochenende in Silverstone fuhr der Schutzengel mit. Am Rennsonntag kam es schon im Formel-2-Rennen zu einem heftigen Unfall, bei dem der Cockpitschutz Halo Roy Nissany vor einer schlimmen Verletzung bewahrte. Beim Formel-1-Rennen später rettete er womöglich Guanyu Zhou das Leben. Einmal mehr bewies der Cockpitschutz nach der Einführung von 2018 damit seinen Wert. Wie genau der Weg dorthin aussah, und wie das System im Detail in die Formel 1 kam, erklärt dieser damals erschienene Hintergrund-Artikel.
Der Saisonstart 2018 stand ganz im Zeichen des Halo. Der unschöne Cockpit-Schutz wurde damals verpflichtend eingeführt. Für viele war das der Anfang vom Ende. Doch die Ästhetik mal völlig ausgeklammert: Was bringt Halo? Warum kam der Cockpitschutz? Welche Folgen zieht er mit sich? Gibt es keine ästhetisch ansprechenderen Lösungen wie Shield oder Aeroscreen?
Die Antwort auf die Frage 'Warum?' lautet erst einmal Sicherheit. Auch die FIA findet den Heiligenschein nicht unbedingt schön. Das Forschungsteam, damals angeführt vom heutigen Ferrari-Sportdirektor Laurent Mekies, entwickelte seit 2011 an verschiedenen Lösungen. Der Überbegriff lautete AFP: Additional Frontal Protection. Hier gab es eine ganze Reihe unterschiedlicher Modelle: Überrollbügel vor dem Cockpit, auf dem Cockpit, Shield, Aeroscreen, Halo und Co. "Insgesamt wurden zehn verschiedene Teile wirklich getestet", verrät Mekies. Wer alle Varianten kennt, der weiß, dass Halo beileibe nicht die hässlichste Lösung ist.
Nach der ersten Erprobungsphase im Labor schafften es drei Lösungen, tatsächlich am Auto getestet zu werden: Halo, Shield und Aeroscreen. Aeroscreen wurde hauptsächlich von Red Bull entwickelt und 2016 beim Russland GP getestet. "An sich wäre Aeroscreen die umfassendste Lösung", gesteht Mekies. "Es ist wie Halo nur mit Scheibe und unsichtbar." Die hässlichen Streben sind in die Scheibe integriert.
Tatsächlich konnte der Aufbau überzeugen, allerdings versagte er im Labor. Die FIA beschießt die Aufbauten mit einem 225 km/h schnellen Rad. Die Frage lautet: Schützt die Vorrichtung dabei den Fahrer? Die Antwort bei Aeroscreen lautete klar nein. Durchgefallen.
Shield wurde von Sebastian Vettel im Rahmen des Großbritannien GP 2017 getestet. Allerdings beklagte der Ferrari-Pilot die verzerrte Sicht. Und auch beim Labortest zeigte Shield Schwächen im Vergleich zu Halo. Der Heiligenschein war das einzige Konstrukt, dass den absoluten Härtetest bestand: Im Winkel von 15 Grad wird ein 20 Kilogramm schweres Rad samt Radträger und Co. geschossen. Halo hält stand.
Doch von vielen Seiten wurden trotzdem Sicherheitsbedenken an Halo geäußert. Aber wie beurteilt man, ob etwas tatsächlich zur Sicherheit beiträgt oder gar möglicherweise die Sicherheit der Fahrer verschlechtert? "Es geht um den Nettonutzen. Aber eine magische Formel dafür gibt es nicht", gesteht Mekies.
Die FIA hat sich dem Nettonutzen auf eine bestimmte Weise angenähert. Dazu wurden Unfälle aus der jüngeren Vergangenheit genommen und mit Halo durchsimuliert. Dabei wurden nicht nur die realen Unfälle, sondern auch unzählige fiktive Fälle betrachtet, in denen die Position des Autos oder eines Gegenstand nur um wenige Zentimeter verändert wurden. Durch zig unterschiedliche Szenarien ist der Faktor Glück beim Unfallausgang minimiert.
FIA beurteilt Halo nach Netto-Nutzen
Dabei wurde prinzipiell zwischen drei verschiedenen Unfallarten unterschieden: Auto gegen Auto, Auto gegen Umgebung und Fahrer gegen externe Objekte. In allen Kategorien wurden zahlreiche reelle Unfälle in zig zusätzlichen Ausführungen bewertet. Dabei wurde jedes einzelne Szenario nach dem Kriterium bewertet, wie sich Halo in diesem speziellen Fall ausgewirkt hätte. Jeder Fall wurde entweder mit positiv, neutral oder negativ bewertet.
Wir haben alle untersuchten Unfälle der drei jeweiligen Kategorien samt ihren abschließenden Bewertungen in den Tabellen aufgeführt. Bei Unfällen zwischen Auto und Auto gab es in acht Fällen sieben positive Auswirkungen und eine neutrale Bilanz. Halo ist ein derart massiv ausgelegter Titan-Bügel, dass er statische Kräfte bis zum 15-fachen des Gewichts eines Autos unbeschadet übersteht.
Car-to-Car Contact
Serie | Jahr | Strecke | Target-Car | Bullet-Car | Halo-Bilanz |
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Formel 1 | 2007 | Melbourne | Wurz | Coulthad | Überwiegend positiv |
GP2 | 2007 | Magny Cours | Glock | Zuber | Überwiegend positiv |
Formel 1 | 2010 | Monaco | Chandhok | Trulli | Überwiegend positiv |
Formel 1 | 2010 | Abu Dhabi | Schumacher | Liuzzi | Neutral |
Formel 1 | 2012 | Abu Dhabi | Karthikeyan | Rosberg | Überwiegend positiv |
Formel 1 | 2012 | Spa | Alonso | Grosjean | Überwiegend positiv |
Formel 1 | 2015 | Spielberg | Räikkönen | Alonso | Überwiegend positiv |
Formel 3 | 2016 | Macau | Sasiki | Ye | Überwiegend positiv |
In der Kategorie Auto gegen Umfeld wirkte sich Halo in sechs von neun Unfällen positiv aus. In zwei Fällen war die Auswirkung überwiegend positiv, nur ein einem Fall machte der Bügel keinen Unterschied. Der eine Fall war der tödliche Unfall von Jules Bianchi beim Japan GP 2014.
Car-to-Environment Contact
Serie | Jahr | Strecke | Fahrer | Halo-Bilanz |
---|---|---|---|---|
Formel 3000 | 1995 | Magny Cours | Marco Campos | Positiv |
Formel 1 | 2001 | Spa | Luciano Burti | Positiv |
GP2 | 2007 | Magny Cours | Ernesto Viso | Überwiegend positiv |
Formel 1 | 2008 | Barcelona | Heikki Kovalainen | Positiv |
Formel 1 | 2012 | Duxford Test | Maria de Villota | Positiv |
Formel 1 | 2014 | Suzuka | Jules Binachi | Neutral |
Formel 1 | 2015 | Sochi | Carlos Sainz | Positiv |
Formel 3 | 2016 | Spielberg | Li Zhi Cong | Überwiegend positiv |
Formel 1 | 2017 | Monaco | Pascal Wehrlein | Positiv |
Halo hätte Bianchi also nicht gerettet. Doch andere tödliche Unfälle hätten damit tatsächlich verhindert werden können. Die Entwicklung des Cockpit-Schutzes begann mit dem fatalen Formel-2-Unfall von Henry Surtees. Der Sohn von Formel-1-Legende John Surtees wurde von einem Rad erschlagen. Seit 2011 wird intensiv an einer Lösung geforscht, die solche Unfälle verhindern soll. Entstanden ist Halo.
Deshalb überrascht es wenig, dass die Ergebnisse der letzten Kategorie am deutlichsten pro Halo ausfallen. Auch Justin Wilson wäre bei seinem schweren Indycar-Unfall wohl mit dem Leben davongekommen.
Externe Objekte
Serie | Jahr | Strecke | Fahrer | Halo-Bilanz |
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Formel 2 | 2009 | Brands Hatch | Henry Surtees | Positiv |
Indycar | 2015 | Pocono | Justin Wilson | Positiv |
Formel 1 | 2009 | Budapest | Felipe Massa | Überwiegend Positiv |
Formel 1 | 2013 | Nürburgring | Max Chilton | Überwiegend Positiv |
Doch was passiert mit kleineren Gegenständen? Wie beispielsweiser der Feder, die Felipe Massa in Ungarn 2009 fast das Leben kostete? "Es gibt auch bei kleineren externen Objekten einen positiven Effekt mit Halo", erklärt Mekies. "Natürlich hält Halo die Gegenstände nicht zu 100 Prozent ab, es ist keine Scheibe, aber statistisch gesehen ist die Bilanz positiv."
Um zu dieser Statistik zu gelangen, beschoss die FIA Halo virtuell millionenfach mit kleinen Objekten. Aus unterschiedlichen Winkeln, aus unterschiedlichen Positionen. "Die Zahl [der Verbesserung] ist nicht spektakulär", gesteht Mekies, "aber es wurde trotzdem besser." Auch wenn das Ergebnis nicht 100 Prozent sind: Seit Massas Unfall wurden die Helme noch einmal deutlich verstärkt, haben jetzt ein Zylon-Band am Visier. 2019 wird der Sicherheitsstandard der Helme noch einmal angehoben.
Offen bleibt bei der Sicherheit lediglich eine Frage: Was passiert, wenn Halo Objekte ungünstig ablenkt? Auf Stellen, an denen der Fahrer weniger geschützt ist als am Kopf? Oder gar Objekte auf die deutlich schlechter geschützten Zuschauer lenkt?
Keine Sicht-Probleme durch Halo
Die Sicht, ebenfalls ein häufiger Kritikpunkt, soll jedenfalls kein Problem sein. Dreck, Nässe oder beschlagene Scheiben wie bei Shield oder Aeroscreen gibt es nicht. Der Sichtkorridor ist noch immer deutlich größer als jener, den die FIA in der alten LMP1 vorschrieb. Bei den Formel-1-Testfahrten wurden auch Starts geübt, kein Pilot klage anschließend über Sichtprobleme auf die Startampel.
Der Ausstieg stellt - auch wenn der ein oder andere Pilot nun etwas ungelenkig erscheint - kein Problem dar. Die Ausstiegszeiten wurden von fünf auf sieben, respektive von zehn auf zwölf Sekunden mit Aufstecken des Lenkrads angehoben. Die Probleme, von denen einige Fahrer zu Beginn berichteten, wurden etwas abgemildert. Denn: Bei den ersten Tests wurden in der Regel nur Dummies an die Fahrzeuge gebaut, an denen sich die Piloten nicht hochziehen konnten. Umständlicher ist der Aus- und Einstieg weiterhin, ein Sicherheitsrisiko stellt er nicht dar.
Auch die Bergung der Piloten ist deshalb nicht schwieriger. Von oben betrachtet, ergibt sich durch Halo fast eins zu eins die vorgeschriebene Cockpit-Öffnung. Lediglich die Handgriffe der Retter müssen leicht angepasst werden.
Überschlag und Halo-Horror-Szenario
Im Falle eines Überschlags schafft Halo sogar für zusätzlichen Freiraum, der es den Piloten ermöglicht, leichter aus dem Auto zu kommen. Solche Fälle sollten aber ohnehin nicht eintreten, weil das Protokoll vorsieht, dass auf dem Überrollbügel gestrandete Autos zunächst von den Streckenposten wieder auf die Räder gestellt werden sollen, ehe der Fahrer aussteigt.
Und dann ist da noch das Horror-Szenario, das von einigen an die Wand gemalt wird: Kann sich Halo bei einem Unfall zum Todeskäfig verformen? Kommt ein Fahrer deshalb vielleicht nicht aus einem brennenden Auto? Keine der Analysen und Simulationen brachte je einen solchen Fall hervor. Romain Grosjeans Feuerunfall von Bahrain scheint das zu untermauern.
"Sollte es doch einmal passieren, können wir froh sein, dass Halo auf dem Auto war", gibt Mekies zu Bedenken. Man kann sich in etwa vorstellen, was passieren würde, wenn eine Kraft, die groß genug ist, den Titanbügel zu verformen, direkt auf den Helm des Fahrers wirken würde.
Halo: Mehr als nur sieben Kilogramm schwer
Doch auch wenn die Sicherheitsbedenken ausgeräumt sind, gibt es noch die eingangs erwähnten Kritikpunkte. Der Bügel allein wiegt rund sieben Kilo, doch damit ist es nicht getan. Die Anhebung des Mindestgewichts von 728 auf 733 Kilogramm federte nur einen kleinen Teil ab, weil auch das Chassis strukturell verstärkt werden muss. Der Käfig kann nur seine volle Schutzfunktion erfüllen, wenn auch die Schnittpunkte entsprechend stabil sind - und das drückt zusätzlich aufs Gewicht.
Das Monocoque ist das erste Teil eines neuen Autos, das in die Produktion gehen muss. Entsprechend schimpften einige Teams über den späten Zeitpunkt der Halo-Einführung. Tatsächlich aber stand schon lange fest, dass 2018 ein Cockpitschutz kommen würde.
Formel 1 verschiebt Cockpit-Schutz auf Saison 2018
Eigentlich sollte der schon 2017 kommen, allerdings wurde die Einführung einstimmig von der Strategiegruppe auf 2018 verschoben - in der Hoffnung, eine schönere Alternative zu finden. Die FIA wollte zudem alle Teams zumindest mit Halo-Attrappen vor der Einführung testen lassen.
Tatsächlich spät, für einige zu spät, kamen aber die genauen Anforderungen. Die Schnittpunkte des Einheitsbauteils standen länger fest, die genauen Belastungen für die nötigen Crashtests allerdings nicht. Die wurden erst relativ spät in der Saison 2017 konkret ins Reglement für die Formel-1-Saison 2018 aufgenommen. Hier wäre eine frühere Ankündigung nötig gewesen, um die kleineren Teams nicht zu benachteiligen.
Die kleineren Teams stöhnten zudem über die Kosten. Ein Bügel soll rund 15.000 Euro kosten. Einer davon muss bei den Crashtests zerstört werden. Wer sich wundert, warum ein Metallbügel so viel Geld kostet: Für die Herstellung eines einzigen Halos werden rund 70 Kilogramm der nicht gerade preiswerten Titanlegierung Ti6Al4V Grade 5 benötigt.
Viele Teile werden aus dem Vollen gefräst, die Biegung der gebohrten Rohre ist nicht so trivial, wie es erscheinen mag. Für die Herstellung ist tatsächlich extrem viel Know-how nötig. Das teure Material ist nötig, um den Halo bei bestehenden Belastungsanforderungen verhältnismäßig dezent zu bauen
Zudem kosten die späten Anpassungen am Monocoque Geld. Sicherlich ist es eine zusätzliche Belastung, realistisch betrachtet gibt es aber deutlich größere Baustellen, um die Budgets auf ein gesundes Maß zu senken.
Übrigens: Zu einem Performance-relevanten Faktor wird Halo wohl nicht. Das Bauteil wurde von vorne bis hinten von der FIA durchdekliniert, nur drei Hersteller weltweit haben die Homologation für ihren Halo erhalten. Maße und Gewichte sind klar vorgeschrieben. Der deutsche Experte für Metallbauteile im Motorsport CP autosport belieferte zum Start neun von zehn Formel-1-Teams.
Formel-1-Teams dürfen Aero-Teile an Halo kleben
CP autosport liefert die Halos an alle Teams in der exakt gleichen Ausführung. Die Teams dürfen nur im Radius von 20 Millimeter Aero-Elemente anbringen, um die negativen Auswirkungen für Airbox und Co. zu kompensieren. Diese Elemente müssen verklebt werden, damit der Halo nicht strukturell verändert wird.
Formel-1-Halo: Gewicht, Material & Kräfte
Halo Steckbrief | |
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Gewicht | 7,0kg (+0.05kg, -0.15kg) |
Material | Titanlegierung Ti6Al4V Grade 5 |
Maximale Belastung | 125kN (rund 12.500 Kilogramm oder 12,5 Tonnen) |
Serien | Formel 1, Formel 2, Formel E (ab 2018/2019) |
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