Das Titelrennen in der Formel-1-Saison 2017 hat in Singapur einmal mehr eine deutliche Trendwende erlebt. Diesmal mit Ansage: Kaum jemand, der im Vorfeld nicht von einem Big Point ausgegangen war - von einem Big Point für Sebastian Vettel, gerade als er in Monza seine WM-Führung erstmals an Lewis Hamilton verloren hatte. Die Überlegenheit Ferraris auf Singapur ähnlichen, weil langsamen Kursen (Monaco, Ungarn) hatte bleibenden Eindruck hinterlassen.
Singapur-Überraschung: Big Point Hamilton statt Vettel
Pole Position dann auch im Qualifying für den Ferrari-Piloten, Mercedes-Rivale Hamilton wie erwartet nur auf P5 - zwei Red Bull plus Kimi Räikkönen als satter Punkte-Puffer für Sebastian Vettel. So wurde der Rennsonntag auch zum Big Point - doch nicht für Vettel. Aus dem Puffer wurde ein Kamikaze-Kommando. Aus Vettel-Sicht noch schlimmer: Durch seinen Startunfall mit Räikkönen und Max Verstappen hieß der große Gewinner plötzlich Lewis Hamilton. Durch seinen Sieg und den Ausfall Vettels katapultierte der Brite seinen knappen WM-Vorsprung um maximal mögliche 25 Zähler auf nun stolze 28 Punkte.
Einen größeren Unterschied hat es in dieser F1-Saison an der WM-Spitze noch nie gegeben, Vettel brachte es zwischenzeitlich niemals auf mehr als 25 Punkte Vorsprung. Noch dazu neigt sich die Saison nun ihrem Ende. Nur sechs Rennen bleiben dem Ferrari-Piloten, um einen Rückstand abzutragen, der erstmals größer ist als ein Rennsieg Punkte bringt. Die Ausgangslage für Vettel gestaltet sich somit so schlecht wie nie zuvor in diesem Jahr.
Dennoch: In Panik verfällt der Deutsche deshalb nicht, besondere Maßnahmen zur Frustbewältigung seien nicht nötig. "Klar ist es bitter. Besonders, weil die Voraussetzungen hier so gut waren. Aber was soll man jetzt machen? Es geht weiter. Es hilft natürlich nicht, aber es ist kein Weltuntergang", meint Vettel zum Crash.
Sebastian Vettel zu WM-Chancen: Kein Weltuntergang
Das gelte auch mit Blick auf die WM-Situation. "Es ist noch ein langes Rennen. Klar stehen wir jetzt auf der falschen Seite, aber es sind noch Rennen zu fahren. Es wird sicher noch mehr Gelegenheiten geben", sagt Vettel. Von ungefähr kommt dieser Optimismus nicht. In eigenen Händen hält Vettel den WM-Titel immerhin noch. Dafür muss er nicht einmal alle Rennen gewinnen.
Rechenbeispiel: Vettel gewinnt fünf der sechs noch ausstehenden Rennen vor Hamilton, der Mercedes-Fahrer das verbleibende vor Vettel. Resultat: Punktegleichstand! Doch Vettel wäre mit 9:8 Siegen Weltmeister.
Noch dazu kennt sich Vettel mit Aufholjagden aus: Zwei Mal bereits hat Vettel sogar größere WM-Rückstände noch aufgeholt. 2010 sogar gegen niemand anderen als Lewis Hamilton. 31 Punkte lag Vettel in dieser Saison, die mit seinem ersten WM-Titel enden sollte, nach 13 Saisonläufen - bei ebenfalls noch sechs zu fahrenden GP - hinter dem Briten. Zwei Jahre später war der Abstand sogar noch größer: 42 Punkte fehlten Vettel 2012 auf Fernando Alonso - allerdings schon nach elf Rennen.
Sebastian Vettel: Diese WM-Rückstände holte er schon auf
Jahr | Rückstand (Punkte) | GP gefahren | Weltmeister |
---|---|---|---|
2010 | 31 auf Hamilton | 13/19 | Vettel |
2012 | 42 auf Alonso | 11/20 | Vettel |
2017 | 28 auf Hamilton | 14/20 | ??? |
Gelingt es Vettel 2017 zum dritten Mal, das Ruder herumzureißen? Zumindest angesichts der jüngsten Siegesserie Hamiltons (drei Erfolge am Stück in Spa, Monza, Singapur) erscheint es unwahrscheinlich. So sieht es jedenfalls die italienische Presse, welche den wenigen Sekunden am Start in Singapur bereits wörtlich die Zerstörung einer ganzen Saison zuspricht. Ganz so weit gehen unter den Experten und Beteiligten jedoch die wenigsten.
"Das hier war eine Strecke, auf der Ferrari sehr viele Punkte hätte holen sollen. Es ist ein harter Rückschlag, aber es sind noch sechs Rennen. Da kann noch alles passieren", sagt Jacques Villeneuve. "Lewis wird auch noch Punkte verlieren. Also locker bleiben", meint der Weltmeister von 1997. "Tatsächlich ist diese Meisterschaft extrem ausgeglichen. Klar scheinen 28 Punkte viel, aber nur ein falscher Schritt von Mercedes und Vettel ist zurück", sagt Ex-F1-Italiener Jarno Trulli der 'Gazzetta dello Sport'.
Noch dazu sei von Ferrari jederzeit alles zu erwarten. "Wir haben sie konkurrenzfähig werden sehen, als wir es nicht erwartet haben." Ein Beispiel ist Spa: In Belgien zeigte Ferrari eine starke Rennpace. Lewis Hamilton selbst ließ wissen, er habe nur aufgrund von Track Position gewonnen, der Ferrari sei das schnellere Auto gewesen. "Also ist noch nichts verloren", meint Trulli.
Mercedes weiß um Hamilton-Vorteil, bleibt aber vorsichtig
Ohnehin bleiben allen voran Mercedes und Lewis Hamilton bei ihrem selbst in den Jahren der großen Dominanz praktizierten und somit gut bewährten Kurs des Understatements. "Es sind noch sechs Rennen zu fahren, sechs Mal 25 Punkte zu holen. Das kann auch bedeuten, dass es sechsmal gegen uns laufen kann, auf ähnliche Weise wie heute gegen Ferrari. Man hat heute ja gesehen wie schnell es im Motorsport gehen kann", warnt Toto Wolff. "Deshalb muss man sich auf jedes einzelne Rennen konzentrieren und versuchen, das Resultat zu optimieren."
Wie wertvoll Wolff den neuen WM-Vorsprung aber einschätzt, macht seine erste Reaktion nach dem Rennen deutlich, wie der Österreicher selbst berichtet: Wolff marschierte zu James Allison, Technischer Direktor bei Mercedes, und sagte: "28 Punkte!" Doch auch Allison reagierte zurückhaltend. "Er meinte auch, wir dürfen nicht nachlassen", berichtet der Mercedes-Motorsportchef. "Es ist genug Zeit zum Feiern wenn es vorbei ist. Aber natürlich hat man den Abstand von 28 Punkten lieber als ihn nicht zu haben", sagt Wolff.
Und Lewis Hamilton? "Er wird nicht nachlassen", versichert Wolff. Denn: "Es wird die nächsten Rennen sehr eng, es ist schwer vorherzusagen", sagt Hamilton selbst. Eine gewaltige Erleichterung ist dem dreimaligen Weltmeister jedoch anzumerken, hat er sich mit Singapur doch nicht nur seiner größten Sorge entledigt, sondern sie in einen Coup verwandelt. "Wir kamen hier auf eine Strecke, die potentiell zu unseren schwächsten gehört, und wir verlassen sie mit so einem Sieg und sehr vielen Punkten - das ist ein äußerst glückliches Szenario für uns", sagt Hamilton.
Valtteri Bottas und die Durchhalteparolen
Valtteri Bottas WM-Chancen indessen schwinden zurzeit mit jedem GP, Rennen für Rennen verlor der Finne zuletzt Punkte auf Hamilton. Die Rollenverteilung bei Mercedes scheint somit immer klarer zu werden. "Ich denke, dass es normal ist, dass seine (Hamiltons, Anm. d. Red.) Chance auf den WM-Titel höher ist als Valtteris", sagt Wolff. Eindeutig von Teamordner sprechen möchte der Motorsportchef jedoch nicht - zumindest versucht er es. "Wie wir es in der Vergangenheit gemacht haben, schauen wir uns jedes einzelne Rennen an. Ich will nicht sagen, dass er (Hamilton, Anm. d. Red.) die Nummer eins, denn das wird unserem zweiten Fahrer nicht gerecht", sagt Wolff - und korrigiert sich sofort mit einem Augenzwinkern selbst: "Ich meine: 'dem anderen Fahrer.'"
Doch spricht ein Faktor noch für Bottas: Zumindest auf Vettel machte der Finne zuletzt zweimal in Folge Boden gut. In der WM liegt er nur 23 Punkte hinter dem Ferrari-Piloten, ist also näher dran an Vettel als Vettel an Hamilton. "Er ist jetzt das nächste Ziel für mich. Ich werde mich jetzt darauf fokussieren, Sebastian abzufangen und das ist absolut möglich. Das Team steht hinter mir", sagt Bottas.
Auf Hamiltons WM-Spitze schauen mag der Finne derweil erst einmal lieber nicht. "Ich denke aber nicht zu sehr an den Abstand auf Lewis, der ist jetzt recht groß. Er hat gerade einen guten Run", sagt Bottas. Warum er sich gegenwärtig so klar schwerer tut, fragt sich der Finne selbst. "Vielleicht ist es Lewis Performance oder weil es mir an Performance fehlt - ich weiß nicht wirklich, was es ist", rätselt Bottas. "Ich muss mich etwas steigern - dann ist noch alles offen. Ich denke Rennen für Rennen jetzt und vielleicht wird es dann am Ende ja noch mal enger", hofft Bottas. "Es bieten sich sicher noch Gelegenheiten."
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