Auch wenn Mercedes in Kanada mit aller Macht zurückgeschlagen hat, Lewis Hamilton und Valtteri Bottas den ersten Doppelsieg der Saison einfuhren und die Silberpfeile Ferrari wieder die WM-Führung abluchsten, bleibt die Scuderia für viele Beobachter das Team der Stunde, der leichte Favorit auf den WM-Titel in der Formel-1-Saison 2017.

Hintergrund: Während es bei Mercedes in Sachen Performance wie bei einer wilden Achterbahnfahrt hoch und runter geht, schlägt das Pendel bei Ferrari weit weniger drastisch aus. Ob Qualifying oder Rennen, Straßenkurs oder permanente Rennstrecke - Maranello ist konstant schnell, Brackley hat immer wieder einmal zu kämpfen. Ursache dafür sind vor allem die Reifen. Ferrari verstand es bislang im Schnitt deutlich besser als Mercedes, insbesondere die weicheren Pirelli-Mischungen ins richtige Arbeitsfenster zu bekommen.

Aber warum? War genau das im Vorjahr nicht noch eine der größten Schwächen der Scuderia? Ja, 2016 hieß die Reifen-Diva noch rote Göttin, 2017 aber ist es der Silberpfeil. Doch warum verlief das erste Saisondrittel so wie es verlief? Wieso war der Ferrari sofort - schon bei den Wintertestfahrten - eine Einheit mit den neuen, breiten Reifen?

Ferrari kam als einziges Team Pirellis Wunsch nach, vor allem mit Stammfahrern zu testen, Foto: Pirelli
Ferrari kam als einziges Team Pirellis Wunsch nach, vor allem mit Stammfahrern zu testen, Foto: Pirelli

Reifentests: Nur Ferrari setzte auf Stammkräfte

Schon länger geht eine Vermutung durch das Fahrerlager. Es liege schlicht und ergreifend an Fleißarbeiter Sebastian Vettel, heißt es. Denn: Der aktuelle WM-Leader hatte bei den Pirelli-Testtagen parallel zur Saison 2016 so viele Kilometer wie kein anderer Top-Fahrer in seinem Mule Car abgespult. Auch insgesamt lag Ferrari vor Mercedes als es darum ging, für Pirelli an der neuen Reifengeneration zu arbeiten: Die Scuderia fuhr im Zuge des Pirelli-Programms für 2017 4240 Kilometer, Mercedes 3507.

Interessant ist hier allerdings die Verteilung auf die Fahrer. Während bei Mercedes Pascal Wehrlein das Testprogramm nahezu im Alleingang übernahm (3248 km), die Stammfahrer Nico Rosberg (209 km) und Lewis Hamilton (50 km) so gut wie gar nicht fuhren, setzte sich bei Ferrari meist Vettel persönlich ans Steuer. 2228 Kilometer rackerte der Deutsche für Pirelli, auch Teamkollege Kimi Räikkönen toppte mit mehr als 1000 Kilometern den Einsatz der Mercedes-Stammkräfte um ein Vielfaches. Die Ferrari-Testfahrer Antonio Fuoco und Esteban Gutierrez indes fuhren zusammen nicht einmal ein Drittel der Wehrlein-Distanz.

Vettel-Vorteil durch Fleißarbeit?

Hat sich Vettel also durch sein intensives Engagement bei diesen Tests einen nicht zu verachtenden Vorteil erarbeitet? Pirelli-Chef Paul Hembery bezweifelt es. "Ja, Sebastian hat jede Menge getestet. Es war sehr intensiv und er hat uns viel Feedback gegeben. Dafür danken wir ihm. Denn genau das wollten wir: Dass uns die Top-Fahrer gutes Feedback geben. Aber weil er nicht wirklich gewusst hat, was er da getestet hat - er hat blind getestet - mag ihm das vielleicht psychologisch geholfen haben, aber ich bezweifle, dass es auch praktisch geholfen hat", sagt Hembery.

Die Konkurrenz spekuliert indesssen zumindest um einen möglichen Vettel-Vorteil durch diese Fleißarbeit. "Vielleicht hatten die Glaubwürdigkeit von Sebastian Vettel als Entwickler und seine Aussagen über die Reifen eine Wirkung auf Pirelli. Vielleicht hören sie genauer hin, was ein erfahrener Fahrer sagt verglichen mit einem jungen Fahrer. Aber dafür habe ich keinen Beweis. Das ist nur eine persönliche Vermutung", sagt Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff.

Rosberg und Hamilton wollten sich 2016 nicht von ihrem WM-Duell ablenken lassen, Foto: Sutton
Rosberg und Hamilton wollten sich 2016 nicht von ihrem WM-Duell ablenken lassen, Foto: Sutton

Warum Mercedes nicht kaum mit Hamilton/Rosberg testete

Anders als Ferrari kam Mercedes dem Wunsch des Reifenhersteller nach arrivierten Stammkräften bei den Reifentesttagen nur selten nach. Aber warum eigentlicht? Toto Wolff gibt eine plausible Antwort. "Wir waren im vergangenen Jahr in einer anderen Situation als Ferrari. Wir waren voll in das teaminterne WM-Duell zwischen Rosberg und Hamilton eingebunden. Da war keiner der beiden Fahrer besonders besorgt wegen der Entwicklung künftiger Reifen", sagt der Mercedes-Motorsportchef.

"Beide haben gesagt, dass sie durch Testfahrten mit den nächstjährigen Reifen zumindest in ihrer Konzentration auf den Titelkampf 2016 gestört werden würden. Daher war es verständlich", ergänzt Wolff. Im Rückblick möglicherweise ein Fehler, wie der Mercedes-Motorsportchef nun zugibt: "Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich sie wohl etwas stärker dazu drängen, die neuen Reifen zu testen."

Für Ferrari sei es mit Sicherheit ein Vorteil gewesen, vor allem Vettel fahren zu lassen. "Mit seiner Erfahrung war er ein zuverlässiger Testfahrer", sagt Wolff trotz der 'blinden' Test - die Teams wussten nie, welche Mischung Pirelli ihnen gerade gegeben hatte. "Aber ich glaube, dass du in der Formel 1 nur sehr selten den Heiligen Gral findest, der dir einen entscheidenden Vorteil gibt. Es geht mehr darum, viele kleine Details zusammenzusetzen."

DHL Fastest Lap Award: Kanada GP (01:39 Min.)

Pirelli: Mercedes hat kein Test-, sondern Streckenproblem

Doch hat Mercedes auf dem Papier einen weiteren potentiellen Nachteil. Eigentlich sind es sogar zwei: Weil mit Nico Rosberg der noch etwas fleißigere Stammfahrer bei den Tests seine Karriere nach der erfolgreichen Titel-Mission beendet hat und 2016 nur Red Bull, Mercedes und Ferrari mit Mule Cars unterwegs gewesen sind, fehlt Mercedes' neuem Mann an der Seite Hamiltons jedwede Erfahrung aus den Reifentestfahrten. Mit Williams war Valtteri Bottas kein einziger Testtag vergönnt gewesen.

Doch Pirellis Paul Hembery entgegnet, die diversen Probleme mit dem Arbeitsfenster, denen Bottas und Hamilton während der bisherigen Saison 2017 begegnet waren, hätten nichts mit der so gut wie nicht vorhandenen Streckenzeit bei den Reifentest zu tun. "Mercedes' Problem ist eher ein wenig mit gewissen Kursen verbunden. In Barcelona war alles in Ordnung für sie - und in Spa und Silverstone wird es das auch sein", erklärt Hembery. "Es sind die Kurse mit weniger Grip, wo sie etwas mehr Probleme gehabt haben, aber ich bin sicher, dass sie im Saisonverlauf jedwedes Problem lösen werden."

Bereits beim unmittelbar zurückliegenden Kanada GP sah es bereits nach einem ersten Schritt in diese Richtung aus. Lewis Hamilton zeigte ein Sahnewochenende, schnappte sich sogar einen Grand Slam aus Pole, Sieg, schnellster Rennrunde und sämtlichen Führungsrunden. Valtteri Bottas machte den ersten Silberpfeil-Doppelsieg der Saison komplett. Und das alles trotz der für Mercedes zuvor so problematischen Ultrasoft-Mischung.

Erklärt: Die neuen F1-Reifen (01:37 Min.)

Hamilton überzeugt: Reintest wäre Zeitverschwendung gewesen

Lewis Hamilton führte dies auf akribische Arbeit des ganzen Teams zurück. Von mangelnder Präsenz bei der Reifentests als Ursprung allen vorerhigen Übels wollte der Brite schon früher in diesem Jahr nichts wissen. "Ich bin froh, dass ich diese Tests nicht gefahren habe, weil das Auto jetzt komplett anders ist. Ich bin beim Test in Abu Dhabi ein paar Runden gefahren und es war total anders als mit dem aktuellen Auto. Es wäre Zeitverschwendung gewesen", sagte Hamilton vor einigen Wochen.