Während Valtteri Bottas in seinem 81. Formel-1-Rennen für einen Finnen doch recht ausgelassen den ersten Sieg bejubelt, hat Lewis Hamilton zumindest das Glück, auf dem Podium nicht gute Mine zum bösen Spiel machen zu müssen. Der dreifache Weltmeister war beim Russland GP nur als Vierter ins Ziel gekommen, mit sage und schreibe 36 Sekunden Rückstand auf seinen neuen Teamkollegen.

Das gesamte Sochi-Wochenende über war Hamilton nie richtig in Fahrt gekommen, Bottas präsentierte sich klar schneller. Entsprechend dürften beim Briten, realistisch gesehen, Frust und Ärger über sein Wochenende unter Normal-Niveau überwiegen - nicht die Erleichterung, sich die Winkekatze auf dem Podium sparen zu können. Vor allem aber, weil es nicht nur Frust und Ärger sind, sondern auch Zweifel und Ratlosigkeit.

Beim Teamfoto musste sich Lewis Hamilton schließlich doch neben Jubel-Bottas zeigen, Foto: Sutton
Beim Teamfoto musste sich Lewis Hamilton schließlich doch neben Jubel-Bottas zeigen, Foto: Sutton

Mercedes und Hamilton rätseln: Wieso nicht auf Bottas' Pace?

Wieso war Bottas plötzlich fast schon eine ganze Klasse besser, schnappte sich nach erster Karriere-Pole in Bahrain jetzt auch die Sieg-Premiere? Wieso kam Hamilton in Russland einfach auf keinen grünen Zweig? "Kann ich jetzt nicht erklären. Braucht eine Weile, um alles zu verstehen", grübelte Lewis Hamilton unmittelbar nach Rennende etwas kurz angebunden - wie so oft beim Briten, gibt es berechtigten Grund zur Sorge.

Genau den gibt es offenbar. Denn auch Mercedes rätselt über die seltsamen Performance-Probleme an einem seiner Boliden, der #44 - während es beim Silberpfeil #77 über das Wochenende hinweg nicht nur Stück für Stück nach vorne ging, sondern sich Bottas am Ende sogar als Ferrari-Killer entpuppte. Das hatte Toto Wolff noch nach der Ferrari-Gala im Training und Qualifying als nahezu ausgeschlossen bezeichnet. "Am Freitag fehlte uns die Performance, aber die Ingenieure trafen am Abend die richtigen Entscheidungen. Dadurch gelang uns am Samstag und Sonntag ein guter Schritt nach vorne", erinnert sich Wolff.

Wissenswertes über den Spanien GP in Barcelona (01:06 Min.)

Keine Lösung für Hamilton-Mysterium in Spanien?

Dennoch sei es ein schwieriges Wochenende gewesen, Mercedes habe Nachholbedarf, wolle man mit Ferrari mithalten. Wolff: "Das vorherrschende Gefühl ist, dass wir viele Hausaufgaben zu erledigen haben, um mit einem Auto, das an jedem Wochenende eine konstantes Performance-Niveau zeigen kann, stärker zurückzuschlagen." Denn genau hier haperte es in Sochi. War Hamilton in den ersten drei Saisonläufen konstant schnell - der schnellere Mercedes -, brach er in Russland völlig ein, nur Bottas glänzte. Doch wieso misslang Hamilton, was Bottas so brillant umsetzte?

Wie üblich blickte Mercedes hinter jeden Flap, um dem Mysterium auf den Grund zu gehen. "Wir haben uns seitdem darauf konzentriert, herauszufinden, warum wir das Auto nicht in das richtige Fenster bekommen haben, damit er sich wohlfühlen konnte", berichtet Wolff. Bislang blieben die Mühen jedoch offenbar ohne durchschlagenden Erfolg. "Es gibt keine Universallösung, um das zu verstehen", gesteht der Mercedes-Teamchef. "Es kommt auf viel harte Arbeit und Liebe zum Detail an. Wir müssen ihm ein Werkzeug an die Hand geben, mit dem er in den nächsten Rennen seine Leistung abliefern kann. Darauf konzentrieren wir uns", verspricht Wolff.

Lewis Hamilton hechelte Bottas und Ferrari in Russland permanent hinterher, Foto: Sutton
Lewis Hamilton hechelte Bottas und Ferrari in Russland permanent hinterher, Foto: Sutton

F1-Welt einig: Weltmeister Hamilton schlägt zurück

Nach einer schnellen Lösung schon für den Spanien GP klingt das nicht gerade. Dennoch: Abschreiben will Lewis Hamilton auch kurzfristig niemand. "Lewis ist ein außergewöhnliches Talent, Weltmeister", erinnert Niki Lauda. "Diesmal hat Bottas gewonnen und Lewis gewinnt vielleicht die nächsten drei Rennen", orakelt der Mercedes-Chefaufseher. Ähnlich zurückhaltend gibt sich Jacques Villeneuve. "Ich bin von Bottas überrascht - im positiven Sinn", sagt der Champion von '97 zwar im Blog von Leo Turrini. "Aber Vorsicht: Sochi ist sein Lieblingskurs. Er wird Hamilton nicht auf jeder Strecke derart zerstören."

Ganz besonders gelte das für den WM-Kampf, sollte es in der heißen Phase der zweiten Saisonhälfte noch für gleich beide Silberpfeile darum gehen. "Ich weiß nicht, ob er auch psychologisch bereit ist, um den Weltmeistertitel zu kämpfen", sagt Villeneuve. Soweit will Lewis Hamilton selbst zurzeit nicht denken. "Das ist jetzt nicht wichtig, es ist noch ein langer Weg", sagt er. Zu groß das Rätsel um den aktuellen Performance-Schwund. "Ich muss jetzt erst einmal verstehen, wo der Speed steckte und was beim Setup schiefging. Ich muss die Pace wiederfinden, die ich zuvor hatte. Das war ein sehr ungewöhnliches Wochenende", grübelt Hamilton.

Valtteri Bottas feierte in Russland seinen ersten GP-Sieg überhaupt, Foto: Sutton
Valtteri Bottas feierte in Russland seinen ersten GP-Sieg überhaupt, Foto: Sutton

Bottas voller Selbstvertrauen: Rehabilitation nicht nötig

Valtteri Bottas indessen versucht, den Schwung, einem Ausnahmekönner wie Hamilton derart einen mitgegeben zu haben, in den Europaauftakt mitzunehmen. "Der erste Sieg gibt mir viel Selbstvertrauen. Ich kann es schaffen!", sagt Bottas, sogar den Titel schon im Visier. "Das ist mein einziges Ziel in der Karriere, dafür pushe ich", stellt der Finne klar. "Auch, wenn ich immer wusste, dass ich die Fähigkeiten habe ... Wenn du nicht an deine Fähigkeiten glaubst, brauchst du gar nicht erst hier zu sein."

In puncto Hackordnung im Team sieht sich Bottas durch seinen Sieg nicht rehabilitiert - das sei schlicht nicht nötig gewesen. "All die Fragen, die Spekulationen, Nummer-zwei-Fahrer und so weiter, das lasse ich nicht an mich heran, das ist mir egal", versichert Bottas. Eine Coolness, die bei seinen Chefs gut ankommt. "Mit seiner ruhigen Herangehensweise hat er Rückschläge extrem gut gemeistert", lobt Wolff. "Wir hatten erwartet, dass sich Valtteri mit jedem Rennen weiterentwickeln und seine Performance steigern würde. Das hat er bewiesen." In Sochi habe Bottas eine außergewöhnliche Leistung, eine blendende Reaktion auf die verrückten Spekulationen über seine Position im Team, so Wolff, gezeigt. "Der erste Sieg ist immer der schwierigste, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Er hat gezeigt, dass er gewinnen kann", lobt selbst Lauda.

Muss - und würde - Hamilton Bottas in Spanien helfen?

Tatsächlich steckte hinter Mercedes-Teamorder zwei Wochen zuvor in Bahrain ohnehin etwas völlig anderes als ein klarer Fingerzeig auf den Status der beiden Fahrer im Team, wie ihn manch einer abgelesen haben mag, als Mercedes Hamilton per Boxenfunk-Anweisung an Bottas vorbei befohlen hatte.

"Wir mögen keine Teamorder wie vor 15 oder 20 Jahren, wo man einen Fahrer zu einem frühen Zeitpunkt zugunsten der Meisterschaft bevorzugt", stellt Wolff nochmals klar. Mercedes geht es einzig und allein um den Erfolg in der jeweiligen Renn-Situation. "Wenn es aber Unterschiede bei der Pace gibt und wir die Gründe kennen, könnten wir eingreifen", erklärt Wolff. Selbst diese Karte spiele man als Racer nicht gerne, doch erfordere es die neue, enge Konkurrenzsituation mit Ferrari. "Man muss sich an die Herausforderung anpassen. Genau das machen wir gerade", sagt Wolff.

"In der Vergangenheit hatten wir keine Teamorder, weil wir mit beiden Autos dominierten und es keinen Gegner gab", bestätigt Lauda in der BBC. "Nach den ersten drei Rennen des Jahres ist es jetzt komplett anders. Unsere neue Politik muss also sein: Wenn einer unserer Fahrer nicht schneller fahren kann als der andere, muss er ans Team denken und den anderen nicht blockieren." Angesichts der aktuellen Setup-Rätsel bei Hamilton scheint es so, als könne in Spanien diesmal eher er als Bottas in genau diese Lage geraten. Ob sich auch Hamilton daran halten würde? Bislang haben es nur Rosberg in Monaco 2016 und Bottas 2017 in Bahrain bewiesen. Hamilton jedenfalls dürfte alles daran setzen, jeden Zweifel an seinem Top-Status im Keim zu ersticken. Viel wahrscheinlicher als durch ignorierte Teamorder ist hier allerdings allem Rätselraten zum Trotz: HAMMERTIME!