"Es ist leichter ein schnelles Auto zuverlässig zu machen, als ein zuverlässiges Auto schneller zu machen" - so lautet eine alte Weisheit aus dem ungeschriebenen Grundgesetz der Formel 1. Bis Mercedes sie 2015 zu widerlegen versucht. Zumindest legen das die nackten Zahlen in den Statistiken der zurückliegenden Testfahrten in Jerez de la Frontera nahe.

Das Weltmeisterteam präsentiert sich im kühlen Spanien als Kilometer-Fresser, fokussiert sich voll und ganz auf die Zuverlässigkeit. Nico Rosberg und Lewis Hamilton brennen mit 516 Umläufen die meisten Runden in den Asphalt. Mit gewaltigem Vorsprung vor allen anderen Teams. 2.285 Kilometer stehen nach vier Tagen zu Buche. Das sind 594 mehr als der erste Verfolger, Sauber, zusammenbringt - oder knapp zwei Renndistanzen.

Ferrari rast Mercedes davon

Allerdings gelingt den Silberpfeilen keine Tagesbestzeit. Ferrari beherrscht das Zeitentableau, diktiert die Pace scheinbar nach Belieben. Eine Sekunde fehlt den beiden Mercedes von Rosberg und Hamilton auf die Ferrari von Sebastian Vettel und Kimi Räikkönen. Nun sind Rundenzeiten bei Testfahrten - insbesondere bei den ersten Outings vor einer neuen Saison - nur wenig aussagekräftig; Seriöse Vergleiche der Teams und Autos, Einschätzungen zum Kräfteverhältnisse stellen die besten Analytiker und Experten vor unlösbare Rätsel.

Ist Ferrari an Mercedes vorbeigezogen?, Foto: Ferrari
Ist Ferrari an Mercedes vorbeigezogen?, Foto: Ferrari

Dennoch klingt in der Boxengasse still und leise durch, Ferrari habe im Winter massiv aufgeholt. "Ferrari scheint einen großen Schritt gemacht zu haben", sagt Felipe Massa. Auch sein eigenes Team sei gut aufgestellt, behauptet der Williams-Pilot: "Ich bin überzeugt, dass wir mit ihnen werden kämpfen können." Daniel Ricciardo ergänzt: "Die Zeit von Sebastian war richtig schnell!" Selbst Rosberg zeigt sich beeindruckt. "Speziell Ferrari war in den vergangenen Tagen ein Augenöffner. Die war richtig schnell", kommentiert der Deutsche die Vettel-Bestzeit vom zweiten Testtag - später sollte Räikkönen diese gar nochmals unterbieten - auf weichen Reifen zwar, aber in einem Long Run, der obendrein noch sehr stark war.

PlatzFahrerTeamZeitRückstand
1 Räikkönen Ferrari 1:20.814
2 Vettel Ferrari 1:20.984 +0.170
3 Nasr Sauber 1:21.545 +0.731
4 Rosberg Mercedes 1:21.982 +1.168
5 Ericsson Sauber 1:22.018 +1.205
6 Hamilton Mercedes 1:22.272 +1.358

Hat Mercedes geschlafen?

Schon drängen sich Fragen voller Zweifel auf: Hat sich Mercedes auf seinen Lorbeeren der Vorsaison ausgeruht? Sich zu sehr auf die Stärke des W05 verlassen? Eine allzu konservative Entwicklungsrichtung für den neuen W06 F1 Hybrid eingeschlagen?

Was davon zu halten ist? Bei allem Respekt: nichts! Dass sich ausgerechnet ein Team wie Mercedes, das gegenüber dem Mutterkonzern jeden ausgegebenen Euro rechtfertigen muss, auf die faule Haut legt, ist genauso wahrscheinlich wie der Weltmeistertitel 2015 für die insolventen Teams von Marussia und Caterham. "Der Winter in der Formel 1 mag wie eine Ruhepause erscheinen. Die Wahrheit sieht jedoch ganz anders aus. Es wäre sehr gefährlich uns auf unseren Lorbeeren von 2014 auszuruhen", bestätigt Toto Wolff.

"Wir haben schon lange vor dem Ende der vergangenen Saison das Hauptaugenmerk bei der Entwicklungsarbeit auf unser 2015er Auto gelegt", sagt der Mercedes-Teamchef. Rund um die Uhr hätten die Mitarbeiter in Brackley und Brixworth gearbeitet, ergänzt Wolff. Dass es sich bei den Aussagen Wolffs nicht um Märchen, sondern zu hundert Prozent um eine aufrichtige Wasserstandsmeldung handelt - geschenkt.

Mercedes spulte in Jerez ein gutes Pensum ab, Foto: Sutton
Mercedes spulte in Jerez ein gutes Pensum ab, Foto: Sutton

Trotz Marathon-Programm nur Kinderkrankheiten

Zumal auch in Jerez angesichts der beeindruckenden Kilometer-Statistik von Schlafen alles andere als die Rede sein kann. Ohne Zuverlässigkeitsprobleme kam Mercedes zwar nicht über den Test. Wasserleck, Telemetrie- und Kühlprobleme bleiben aber Lappalien - über die sich Nico Rosberg sogar freute. Wie bitte?

"Es geht uns hier nur um Runden, weil mit einer großen Anzahl von Runden das Auto irgendwann an den Punkt kommt, dass es auseinander fällt - Dinge gehen eben kaputt wenn Verschleiß auftritt. Bis dahin müssen wir es treiben. Wir müssen sehen, wann und an welchen Stellen des Autos es beginnt", erklärt Rosberg.

Mercedes lotet die Grenzen der Zuverlässigkeit aus, Foto: Sutton
Mercedes lotet die Grenzen der Zuverlässigkeit aus, Foto: Sutton

Mercedes lange nicht bei 100 Prozent

Und die Rundenzeiten? Wenngleich sie nicht für ganz vorne reichten, mischte Mercedes noch immer in der Spitzengruppe mit. Das sei ohnehin nicht das Ziel gewesen, sagt Lewis Hamilton. "Man versucht, so viele Runden wie möglich zu fahren, geht aber nicht auf Zeitenjagd. So gesehen war es sehr positiv", sagt der Weltmeister. Bei den Top-Speed-Werten führte Mercedes sogar schon - das spricht für einen weiterhin überlegenen Motor, wenngleich Ferrari näher gekommen ist. Ohnehin zweifelt kaum jemand, dass Mercedes noch eine Menge Pace in der Hinterhand hält.

Gutierrez schätzt Mercedes stark ein, Foto: Motorsport-Magazin.com
Gutierrez schätzt Mercedes stark ein, Foto: Motorsport-Magazin.com

"Vielleicht verstecken die Mercedes-Autos ein wenig, was sie tun können. Ich habe sie nicht bei 100 Prozent fahren sehen", sagt etwa Saubers Felipe Nasr. "Mercedes hat noch immer ein unglaubliches Auto", ergänzt Massa. Mercedes sieht in den Kurven sehr stark aus, Red Bull auch - und wir", sagt Ferrari-Testfahrer Esteban Gutierrez zu Motorsport-Magazin.com. Sein Teamchef Maurizio Arrivabene macht sich ebenfalls keine Illusionen. Besonders ein "gewisser" Wettbewerber habe sein wahres Potential sicherlich noch nicht enthüllt.

Goldene Regel gilt trotzdem für Mercedes

Aber zurück zur goldenen Regel, es sei einfach ein schnelles Auto zuverlässig zu machen, als ein zuverlässiges Auto schnell. Obwohl die Silberpfeile zunächst an der Zuverlässigkeit feilen, lässt sich diese noch immer auf Mercedes münzen. Man muss einfach nur langfristig denken, also saisonübergreifend. Ein verflucht schnelles Auto hatte Mercedes schließlich schon. Die einzige Schwachstelle 2014 war eben jene Zuverlässigkeit.

Fazit: Weder geblufft noch gefaulenzt!

"Deshalb haben wir uns stark darauf konzentriert. Wir haben dieses Jahr ein sehr zuverlässiges Auto", erklärt Nico Rosberg. Und schon wird offensichtlich: Mercedes hat weder geblufft noch gefaulenzt - nur logisch gearbeitet. Mercedes wird 2015 wieder silberpfeilschnell sein - und offensichtlich auch noch zuverlässig.